Studierende mit Kufiya um den Hals und Transparenten in den Händen, auf denen der Schriftzug „Free Palestine“ aufgemalt ist, stehen einem Grossaufgebot von Polizist*innen in Vollmontur gegenüber. Szenen wie diese sorgten dieses Jahr von Alberta über London bis nach Zürich für Schlagzeilen.
Viele Studierende können sich nicht mit Universitäten identifizieren, die über die Völker- und Menschenrechtsverletzungen des Staates Israel hinwegsehen, obwohl er vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) des Genozids angeklagt ist. Sie protestieren gegen das Schweigen der Unileitungen angesichts der gezielten Zerstörung von Spitälern, Schulen und Universitäten durch das israelische Militär (IDF) sowie hinsichtlich der Tötung Tausender palästinensischer Schüler*innen und Studierender. Und sie fordern einen Boykott israelischer Universitäten aufgrund ihrer problematischen Verbindungen zur IDF und zum Staat.
Boykottforderungen
Palästinensische Akademiker*innen verlangen im Rahmen der Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel (PACBI) bereits seit 20 Jahren, höhere israelische Bildungsinstitutionen zu boykottieren, bis diese jede Form der Komplizenschaft bei der Verletzung der Rechte von Palästinenser*innen beendet haben. Konkret würde das heissen, dass Universitäten ihre Austauschprogramme und Forschungszusammenarbeit mit israelischen Universitäten beenden. Ein Boykott von Einzelpersonen aufgrund ihrer Identität oder Meinung schliesst die PACBI aus.
Im Zuge der Proteste nahmen Studierende die Boykottforderungen der PACBI wieder auf.
Die Schweizer Unileitungen lehnten die Boykottforderung ihrer Studierenden überwiegend ab, indem sie auf das Prinzip der akademischen Freiheit verwiesen. Beispiel Bern: Der ehemalige Rektor der Universität Bern, Christian Leumann, erklärte im Frühjahr 2024, dass ein Boykott israelischer Universitäten eine „massive Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit“ bedeute und jeglichen akademischen Werten widerspreche.
Doch von welcher Wissenschaftsfreiheit ist die Rede? Die PACBI etwa bezieht sich auf die Definition des United Nations Committee on Economic, Social, and Cultural Rights, das die Wissenschaftsfreiheit mit der Pflicht ergänzt, die akademische Freiheit anderer zu respektieren sowie eine diskriminierungsfreie Behandlung aller sicherzustellen.
Wie steht es gemäss dieser Definition um die Wissenschaftsfreiheit israelischer Unis?
Israelische Unis fördern den Kriegseinsatz
Selbstredend gibt es kritische Dozierende wie Studierende an israelischen Universitäten. So haben an der Hebrew University of Jerusalem (HUJI) die arabisch-israelische Kriminologin und Rechtsprofessorin Nadera Shalhoub-Kevorkian wie auch der israelische Holocaust- und Genozidforscher Amos Goldberg öffentlich scharfe Kritik an der israelischen Regierung geübt und ihr Vorgehen in Gaza als Genozid benannt.
Im Jacobin erklärte Goldberg, dass einzelne Personen an israelischen Universitäten der Regierung zum Teil Widerstand entgegensetzen, kam aber dennoch zum Schluss, dass sie „als Institutionen moralisch versagt haben“. Zu keinem Zeitpunkt haben israelische Universitäten dazu aufgerufen, die Angriffe auf palästinensische Unis zu beenden. Stattdessen stellen sie sich hinter die Politik des israelischen Staates.
Als das Rektorat der HUJI Ende Oktober 2023 erfuhr, dass Shalhoub-Kevorkian eine Petition unterzeichnet hatte, die von Genozid im Gazastreifen sprach und zu einem Waffenstillstand aufrief, zeigte es sich brüskiert. Das Rektorat informierte die Professorin, dass es die Petition mit „Schock, Ekel und tiefer Enttäuschung“ gelesen habe und legte ihr nahe, die HUJI zu verlassen. Im März wurde sie suspendiert, im April von der Polizei verhaftet.
Darüber hinaus fördern israelische Universitäten die Kriegsbemühungen. Die Ariel Universität (AU) etwa betont, dass sie „ungeheuer stolz“ auf ihre 4’000 Studierenden sei, die in Gaza und im Westjordanland im Einsatz sind, um den „mörderischen Feind“ zu zerstören. Sie beabsichtige, allen Studierenden an der Front ein Stipendium und finanzielle Unterstützung zu gewähren.
Unis im Dienst der zionistischen Milizen
Die israelische Anthropologin Maya Wind zeigt in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Towers of Ivory and Steel“, worauf palästinensische Akademiker*innen seit Langem hinweisen: Israelische Universitäten tragen die israelische Siedlerpolitik, die militärische Besetzung und die Apartheid aktiv mit.
Wind wirft dafür einen Blick auf die Staatsgründung Israels: Die HUJI wurde 1918 auf dem Scopusberg als strategischer Aussenposten der zionistischen Bewegung gegründet, um symbolisch und politisch Anspruch auf Jerusalem zu erheben. Im Vorfeld des Krieges von 1948 habe die HUJI zusammen mit dem Technion und dem Weizmann Institut die gewaltsamen Enteignungen unterstützt, mit denen der israelische Staat Gebiete proklamierte.
Die zionistische Miliz Haganah gründete damals ein Wissenschaftskorps namens HEMED, das auf allen drei Universitäten Stützpunkte einrichtete. Im April 1948 bereitete die biologische Abteilung des HEMED an der HUJI Typhus-Dysenterie-Bakterien für den Einsatz als biologische Waffe vor.
Und das war kein Einzelfall: Während des gesamten Krieges von 1948 unterstützten die Universitäten die Haganah und andere Milizen bei der Vertreibung von Palästinenser*innen: Dozierende und Studierende entwickelten und produzierten Waffen, während sie ihren Campus, ihre Ausrüstung und ihr Fachwissen in den Dienst der zionistischen Milizen stellten.
Nach 1967 beteiligten sich israelische Universitäten an der Besiedelung palästinensischer Gebiete. Die HUJI dehnte ihren Campus in das besetzte Ostjerusalem aus. Und 2012 anerkannte die israelische Hochschulbehörde zusammen mit dem israelischen Verteidigungsminister die in der illegalen Siedlung Ariel gelegene Universität vollends.
Selbst archäologische Forschung dient der Enteignung palästinensischen Landes. So entwickelten sich seit den ersten Grabungen im Dorf Susiya im Westjordanland archäologische Forschung und israelische Besiedlung parallel. Nachdem die Besatzungsadministration die neue israelische Siedlung namens Susya neben dem Ort der Grabung zur nationalen archäologischen Fundstätte erklärte, vertrieb das israelische Militär die palästinensischen Familien 1986 aus ihren Häusern. Die Betroffenen kämpfen bis heute für ihre Rechte.
Mit Wissensproduktion zur Straffreiheit
Israelische Universitäten sind äusserst eng mit dem Militär verwoben. Das bewaffnete Sicherheitspersonal an den Eingängen zu grösseren israelischen Universitäten besteht meist aus ehemaligen Soldat*innen. Auch auf den Campus selbst sind IDF- und Polizeiangehörige vertreten. Denn israelische Universitäten bieten über 50 Studiengänge für Soldat*innen und Sicherheitspersonal des Staates an.
Die HUJI vermittelt Soldat*innen im Havatzalot-Programm sprachliche und regionale Kenntnisse für die Tätigkeit im Nachrichtendienst. Sie tragen auf dem Campus Uniform und bewohnen gesonderte Quartiere, die von Sicherheitskameras überwacht und nur mit biometrischem Ausweis zugänglich sind. Im Talpiot-Programm bildet die HUJI zudem technologisches Führungspersonal für die Erforschung und Entwicklung von Waffen- und Sicherheitssystemen aus.
Oft dienen Absolvent*innen der HUJI in der Einheit 8200, die Palästinenser*innen überwacht, um intimste Informationen über sie zu sammeln. Die Einheit verwendet diese Daten, um Palästinenser*innen zur Zusammenarbeit zu erpressen. Sie dürfte auch das KI-System „Lavender“ entwickelt haben, das mutmassliche Kämpfende in Gaza erkennen und ihre Häuser als Ziele für Luftangriffe erfassen soll.
Auch in rechtlichen und strategischen Fragen helfen israelische Universitäten mit, das Handeln des israelischen Staates zu rechtfertigen. Jüngstes Beispiel ist Südafrikas Klage vor dem IGH: Am Institute for National Security Studies der Universität Tel Aviv schlossen sich Jurist*innen mit hochrangigen Mitarbeitenden des israelischen Justiz- und Aussenministeriums zusammen. Sie erarbeiteten Argumente, die sowohl die öffentliche Meinung beeinflussen als auch Richter*innen am IGH davon überzeugen sollten, sich auf die Seite Israels zu stellen.
Wind schlussfolgert, dass israelische Universitäten Wissensproduktion nutzen, um israelische Straffreiheit zu fördern und den Genozid zu rechtfertigen.
Hiesige Unileitungen mitverantwortlich
Im April 2024 zeigten sich UN-Expert*innen tief besorgt über den Scholasticide in Gaza – die systematische Zerstörung des palästinischen Bildungswesens. Damals hatte die IDF über 5’479 Studierende, 261 Lehrer*innen und 95 Universitätsprofessor*innen getötet. Sämtliche Universitäten Gazas sind zerstört.
Dennoch fand die akademische Freiheit palästinensischer Studierender und Dozierender – geschweige denn ihr Überleben – sowie israelischer Forschender mit regierungskritischer Haltung in den Erwägungen der Schweizer Unileitungen keinen Platz.
Wenn sich Bildungsinstitutionen auf Wissenschaftlichkeit berufen, müssten sie sich einer Debatte über die oben genannten Fakten stellen. Denn die Kooperation israelischer Universitäten mit dem Militär und in den völkerrechtswidrigen Handlungen des Staates verletzt die Wissenschaftsfreiheit laut den Kritiker*innen von Grund auf. Studierende fordern von den Unileitungen zudem, die akademischen Beziehungen zu beenden, die ihre Universitäten zu Komplizinnen in der Verletzung internationalen Rechts machen.
Zurück in Bern: Hier verlangen Studierende, dass ihre Universität das Austauschabkommen mit der HUJI und die Zusammenarbeit mit der Universität Haifa beendet – da diese Kooperationen dazu beitragen, das Handeln dieser Institutionen zu normalisieren.
Seit der IGH im Juli die Besetzung des Gazastreifens, des Westjordanlands und Ostjerusalems für illegal erklärte, verlangen selbst UN-Expert*innen, dass UN-Mitgliedstaaten ihre akademischen Verbindungen zu Israel überprüfen.
Wenn Schweizer Rektorate kritische Stimmen, die auf den Scholasticide und die Kooperation zwischen israelischen Unis und dem Militär aufmerksam machen, zum Schweigen bringen versuchen, machen sie sich mitverantwortlich.
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