Du bist wieder neun Jahre alt. Du sitzt im Schulzimmer und deine Blase drückt. Du hörst der Lehrperson schon lange nicht mehr zu. Das im Schulbank eingeritzte S‑Zeichen – ja, dieses coole S, das wir alle gekritzelt haben, wenn uns langweilig wurde im Mathe-Unterricht – kratzt du tiefer und tiefer in das Holz hinein. Es fällt dir immer schwer, dich im Unterricht zu melden, doch um die Toilette benutzen zu können, musst du um Erlaubnis fragen.
Du machst dich lang und streckst deinen linken Zeigefinger in die Höhe. Mit einem langgezogenen „Siiieee” erlangst du die Aufmerksamkeit deiner Lehrperson. „Kann ich bitte aufs Klo?”, fragst du. „Ich weiss nicht, kannst du?”, antwortet die Fachkraft. Diese Antwort war noch nie witzig und das wird sie auch niemals sein.
Diese unnötige Frage ist in diesem Fall ironisch gemeint. Für mich als non-binäre Person ist sie aber echt. Denn in unserer binären Gesellschaft, in der alles für Männer und Frauen ausgerichtet ist, weiss ich wirklich nicht, ob ich aufs Klo kann. Weder beim Besuch im Schwimmbad, beim Einkaufen oder im Büro.
Mir wurde bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen, aber ich bin keine Frau. Und wie eine Frau aussehen tu ich schon gar nicht.
Ich bin zwar nicht sonderlich gross, aber eher breit gebaut. Ich habe haarige Beine, einen eher „typisch männlichen” Haarschnitt, wenn ich die Haare zusammenbinde, und ich trage am liebsten Klamotten, die ursprünglich aus der „Herrenabteilung” kommen. Optisch werde ich männlich gelesen. Und ich bin glücklich so, wie ich bin. Bin ich aber unterwegs, kann der Gedanke an den Gang auf die öffentliche Toilette mir oftmals die Stimmung verderben.
Nicht meine Box
Für mich gibt es nur zwei Optionen:
Entweder ich gehe auf die „Damentoilette”. Bevor ich reingehe, hoffe ich, dass sie leer ist. Blöderweise ist sie es aber dieses Mal nicht. Eine Frau wäscht gerade ihre Hände und dreht ihren Kopf in meine Richtung. Sie versucht ihre Emotionen zu verstecken, doch ich sehe, was über ihr Gesicht huscht: Neugier, Verwirrung, Unverständnis, ein wenig Abscheu und Angst. Ich ducke mich und verschwinde so schnell wie möglich in die Kabine. Erst wenn ich höre, dass die Luft rein ist, traue ich mich wieder hinaus, um die Hände zu waschen. Mein Spiegelbild gibt wieder, was ich gerade fühle: Scham.
Ich werde auf die unangenehmste Art und Weise daran erinnert, dass ich hier nicht willkommen bin, dass dies nicht meine Box ist. Auch wenn ich jahrelang versucht habe, in sie reinzupassen.
Wenn ich hingegen auf die „Herrentoilette” gehe, kommt mir als Erstes eine Welle von ekligen Gerüchen entgegen. Es ist ungewöhnlich still und die Luft ist dick. Nur schon das kleinste Geräusch, eine falsche Bewegung könnte mich auffliegen lassen. Ich will diese Luft nicht einatmen. Ich habe Angst, dass die Art und Weise, wie ich atme, verraten könnte, dass ich eine Vulva habe. Vulva, Verwundbarkeit, Vorurteile. Ich hoffe so sehr, dass ich hier wieder heil rauskomme.
Ich habe nicht gelernt, mich in der toxisch maskulinen Atmosphäre zu bewegen. Ich weiss nicht, auf welche Art ich die Türe schliessen muss, um nicht aufzufallen. Darf man meinen Urinstrahl hören? Ist das männlich? Vielleicht doch lieber leise und unauffällig. Und ja nicht zu laut abtupfen. Meine Miene beim Händewaschen ist todernst. Ich meide jeden Blickkontakt. An mir kann man keine Emotionen ablesen. Schliesst sich endlich die Türe hinter mir, atme ich aus.
Wir sind kein Hype
Dieses Entweder-oder stellt mich als non-binäre Person vor eine unmögliche Wahl. Die einzige Lösung ist geschlechtsneutrale Toiletten: für alle, die sich weder auf der einen noch auf der anderen Toilette sicher und wohl fühlen. Wir brauchen einen Safe Space, wenn wir bei einem Barbesuch mit Freund:innen kurz die Blase leeren müssen.
Die „Toilettendebatte” ist alles andere als lächerlich. Man sagt, es gäbe „grössere Probleme”. Doch wenn eine Person beim Pinkeln Angst haben muss, ihr werde etwas angetan, ist das ein grosses Problem. Und es ist keine Kleinigkeit, dass wir aus beiden Toiletten rausgeschickt werden mit dem Kommentar: „Die Herren-/Damentoilette ist da lang.”
Und nein, dieser „Genderwahn” ist kein Hype. Ein Hype zieht vorbei.
Wir sind aber keine Hipster, die irgendwann den Bart wieder abrasieren und die langen Haare abschneiden. Unsere Geschlechtsidentität begleitet uns jeden Tag, sie macht uns zu dem Menschen, der wir sind. Wir können sie nicht einfach wieder ablegen. Vor allem sollten wir es nicht tun müssen, nur um auf die Toilette gehen zu können.
Also, liebe Schweizer Gesellschaft: Kann ich bitte endlich aufs Klo?
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