Kein Plan für Afgha­ni­stan: Auch die Schweiz schickt Menschen zurück in den Bürgerkrieg

Die Schweiz will ausschaffen. 176 Personen warten derzeit auf eine Rück­füh­rung nach Afgha­ni­stan. Trotz der kata­stro­phalen Lage vor Ort halten die Behörden an dem Vorhaben fest. Eine Spuren­suche über die Hintergründe. 
Das SEM plant neue Ausschaffungsflüge nach Afghanistan. Welchen Zeitraum das betrifft, will die Behörde allerdings nicht sagen. (Foto: Patrick Federi/Unsplash)

„Nach dem Gesagten erweist sich der Vollzug der Wegwei­sung nach Kabul sowohl allge­mein als auch in indi­vi­du­eller Hinsicht als zumutbar“, schreibt das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt in einem Entscheid. Fast täglich kommen Asyl­ent­scheide für Geflüch­tete aus Afgha­ni­stan vor die höchste gericht­liche Instanz.

Die Entscheide geben Auskunft über das Leben Hunderter Personen, deren Gründe für Flucht und Aufent­halt in der Schweiz. Es sind Geschichten von Vertrei­bung, Bedro­hung und Krieg, zu Proto­koll gegeben während stun­den­langer Interviews.

Die Schweiz schafft aus. In der ersten Hälfte des Jahres 2021 wurden 86 Prozent der Asyl­ge­suche aus Afgha­ni­stan abge­lehnt. Insge­samt sind 1079 Personen betroffen. Zwei Drittel davon wurden vorläufig aufge­nommen und ein Drittel, 285 Personen, erhielten eine Wegwei­sung und müssen nun das Land verlassen. Als Flücht­linge aner­kannt wurden nur 14 Prozent. Wie kommt es zu den Entscheiden und was bedeuten sie für die Betroffenen?

Afgha­ni­stan: Vom Bürger­kriegs­land zurück zum Talibanstaat

Herbst 2020. In Genf trifft sich die inter­na­tio­nale Gemein­schaft zur alle vier Jahre statt­fin­denden „Geber­kon­fe­renz“. Das Eidge­nös­si­sche Depar­te­ment für auswär­tige Ange­le­gen­heiten (EDA) schreibt dazu in einem Bericht: „Krieg, Gewalt und Pandemie haben Afgha­ni­stan schwer getroffen. Die Staa­ten­ge­mein­schaft hat sich […] versam­melt, um dem Land zu helfen, das zu den ärmsten der Welt gehört.“

Was keine Erwäh­nung findet: Die poli­ti­schen Verän­de­rungen, die der Abzug der NATO und US-Truppen nur wenige Monate nach der Konfe­renz zur Folge haben wird. Vertreter:innen von über 70 Staaten und Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen defi­nieren statt­dessen Entwick­lungs­ziele für Frieden und Wieder­aufbau vor Ort und spre­chen ein Hilfs­paket von 12 Milli­arden USD für die näch­sten vier Jahre. Wie dieses Geld ange­sichts der drohenden kompletten Erobe­rung des afgha­ni­schen Staats­ge­bietes durch die Taliban inve­stiert werden soll, ist bis heute unklar.

Wovon der Bericht auch nicht spricht: Die Geflüch­teten, die von Jahr zu Jahr mehr werden und deren Situa­tion sich laufend verschlim­mert. Von 4,6 Millionen im Ausland lebenden Afghan:innen sind 2,7 Millionen als Flücht­linge regi­striert. Etwa 90 Prozent von diesen leben in Paki­stan (1,4 Millionen) und dem Iran (1 Millionen). Dort gibt es seit Jahr­zehnten Unter­stüt­zungs­struk­turen für afgha­ni­sche Geflüch­tete. Grund­sätz­lich dürfen sich Afghan:innen im Iran und in Paki­stan frei bewegen und arbeiten. Jedoch stossen sie dort auch auf rassi­sti­sche Ausschluss­me­cha­nismen und erleben viel­fach Gewalt durch die Behörden. Ein kleiner Teil der Geflüch­teten versucht es darum in anderen Ländern der Welt. Unter anderem in der Schweiz.

Ange­sichts der Berichte über Verfol­gung der ethni­schen Minder­heiten, dem Schei­tern der US-Truppen, dem Vormarsch der Taliban und der Aussichts­lo­sig­keit auf eine Eini­gung in Doha erstaunt die opti­mi­sti­sche Perspek­tive, welche das EDA auf seiner Afgha­ni­stan-Seite beschreibt. So fragte auch die Repu­blik, wie es sein könne, dass die Schweiz Geflüch­tete wieder nach Afgha­ni­stan ausschaffen will.

Antworten des Staats­se­kre­ta­riats für Migra­tion (SEM) und des EDA auf unsere Fragen zur Beur­tei­lung der Situa­tion in Afgha­ni­stan und den Konse­quenzen für Asyl­su­chende in der Schweiz waren uner­giebig. Insbe­son­dere wurden eine Stel­lung­nahme zur Posi­tio­nie­rung der Schweiz sowie Einschät­zungen und Prognosen vermieden. „In ihren diplo­ma­ti­schen Bezie­hungen defi­niert die Schweiz keine Bedin­gungen, sondern setzt auf die Aufrecht­erhal­tung eines Dialogs. Das bila­te­rale Handels­vo­lumen zwischen der Schweiz und Afgha­ni­stan befindet sich bereits auf einem tiefen Niveau. Die Schweiz orien­tiert sich dabei unter Einhal­tung inter­na­tional geltender Sank­tionen an WTO-Recht“, schreibt das EDA etwa auf die Frage nach zukünf­tigen diplo­ma­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Beziehungen.

Auf die Frage, ob eine Taliban-Regie­rung zukünftig aner­kannt würde, wird fest­ge­halten: „Die Schweiz aner­kennt keine Regie­rungen, sondern Staaten.“ Die jeder­zeit abruf­bare Antwort, die doch irgendwie einiges über die aussen­po­li­ti­sche Haltung der Schweiz aussagt. Einen souve­ränen afgha­ni­schen Staat gab es schon lange nicht mehr. Indessen muss sich noch zeigen, wie die Schweiz mit einem zukünf­tigen Talib­an­staat verhan­deln will.

Lage­be­spre­chung: Einzel­fall­prü­fung und „Sichere Städte“

„Das SEM ist sich der ange­spannten Situa­tion in Afgha­ni­stan bewusst und beob­achtet die aktu­elle Entwick­lung sehr genau“, so eine Antwort der Asyl­be­hörde. Wegwei­sungen können nur in drei Städte durch­ge­führt werden: Masar-I-Sharif, Kabul und Herat. Denn, so die Meinung des SEM, „bei den Gebiets­er­obe­rungen [durch die Taliban, Anm. d. Red.] handelt es sich bisher vornehm­lich um länd­liche Gebiete“.

Gemäss aktu­ell­sten Meldungen fliehen derweil Unter­nehmen, Orga­ni­sa­tionen und Anwohner:innen aus der Stadt Herat.

Gemäss aktu­ell­sten Meldungen fliehen derweil Unter­nehmen, Orga­ni­sa­tionen und Anwohner:innen aus der Stadt Herat.

Auf Nach­frage wurde uns mitge­teilt, dass derzeit 176 Personen auf einen Rück­füh­rungs­flug nach Afgha­ni­stan warten. Denn das SEM prüft jedes Asyl­ge­such im Einzel­fall. Als Flücht­linge aner­kannt werden Personen, die in ihrem Heimat­staat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Reli­gion, Natio­na­lität, Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer poli­ti­schen Anschau­ungen persön­lich ernst­haften Nach­teilen ausge­setzt sind oder begrün­dete Furcht haben, solchen Nach­teilen ausge­setzt zu werden, Personen also, die an Leib und Leben bedroht sind.

Ein Blick in die Entscheid­da­ten­bank des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts zeigt die Schick­sale der einzelnen Personen. Die indi­vi­du­ellen Flucht­ge­schichten sind sehr unter­schied­lich, denn die Gesuchsteller:innen sind ange­halten, ihren persön­li­chen Flucht­grund zu beschreiben. Gene­rell geben viele Gesuchsteller:innen an, Fami­li­en­an­ge­hö­rige durch die Taliban oder andere Milizen verloren zu haben oder aufgrund von vergan­genen Hand­lungen, Verwick­lungen, wegen ihres Berufs oder ihrer Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit einer ernst­haften Bedro­hung ausge­setzt zu sein.

Trotzdem reicht es in den meisten Fällen nicht für die Aner­ken­nung als Flücht­ling. Nennen die Gesuchsteller:innen zudem Verwandte oder Kontakte in den Städten Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif, gilt eine Wegwei­sung trotz Bedro­hungs­lage an einem anderen Ort als zulässig und zumutbar.

Ein Fall erzählt von einer Konver­tie­rung zum Chri­stentum und der Angst vor Verfol­gung. Obwohl das Gericht die Schil­de­rung glaub­haft findet, wird entschieden, der Asyl­su­chende könne seine Reli­gion im Verbor­genen leben. In Gross­städten gäbe es genü­gend Zugang zu Internet, der Bibel in PDF-Format und Online­messen. „Es bestehen auch keine hinrei­chenden Anhalts­punkte für eine dies­be­züg­liche indi­vi­du­elle asyl­re­le­vante Verfol­gung“, so das Urteil. Die Wegwei­sung sei also in diesem Einzel­fall zumutbar.

Das Asyl­ver­fahren und die Meinung unab­hän­giger Rechtsberater:innen

Die Asyl­ent­scheide, welche vor dem Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt ange­fochten werden, erfolgen mehr­heit­lich inner­halb von 140 Tagen im beschleu­nigten Verfahren. Ein klei­nerer Teil erfolgt im erwei­terten Verfahren, welches bis zu einem Jahr dauert und eine umfas­sen­dere Prüfung zulässt. Beim Herkunfts­land Afgha­ni­stan ist das Verhältnis zwischen den Verfahren 3:2.

Lea Hunger­bühler kriti­siert, dass die Beur­tei­lung durch das SEM im beschleu­nigten Verfahren in vielen Fällen lücken­haft sei. Hunger­bühler ist Leiterin der unab­hän­gigen Rechts­be­ra­tung Asylex, die Menschen im Asyl­ver­fahren kosten­frei berät. Seit Inkraft­treten des neuen Asyl­sy­stems wurden viele Asyl­ent­scheide durch das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt an das SEM zurück­ge­wiesen. Kein Wunder, nach einer Kürzung des Verfah­rens von mehreren Jahren auf drei Monate. Sowohl die Mitarbeiter:innen des SEM wie die manda­tierten Rechts­bei­stände der Gesuchsteller:innen hätten zu wenig Zeit für die korrekte Sachverhaltsfeststellung.

Dem Umstand, dass viele Geflüch­tete trau­ma­ti­siert sind und es ihnen schwer­fällt, intime Infor­ma­tionen zu ihren Flucht­gründen mitzu­teilen, wird mit der Methode des beschleu­nigten Verfah­rens nicht Rech­nung getragen. Inner­halb von so kurzer Zeit eine Vertrau­ens­basis aufzu­bauen ist schwierig. Bei den Anhö­rungen durch das SEM gibt es nur eine Person, die über­setzt, jedoch keine zweite Übersetzer:in, die etwa das Proto­koll prüfen könnte. Asylex bemän­gelt zudem schon lange, dass die Anhö­rungen im Asyl­ver­fahren im Gegen­satz zu Gerichts­ver­hand­lungen in anderen Rechts­ge­bieten nicht aufge­zeichnet werden.

Wird ein Asyl­ge­such abge­lehnt, gibt es die Möglich­keit, Beschwerde einzu­rei­chen und den Fall weiter­zu­ziehen vor das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt als höchste Instanz. Bei Beschwerden helfen unab­hän­gige Rechts­be­ra­tungs­stellen wie die Frei­platz­ak­tion oder Asylex. Lea Hunger­bühler und ihr Team konnten schon für einige Asyl­su­chende mit Nega­tiv­ent­scheid eine vorläu­fige Aufnahme erwirken.

Für die Asyl­su­chenden, die sie vertritt, ist die Vorstel­lung, in das Land zurück­reisen zu müssen, der blanke Horror.

Mit der Beur­tei­lung Afgha­ni­stans als teil­weise sicheres Land ist Lea Hunger­bühler keines­wegs einver­standen. Für die Asyl­su­chenden, die sie vertritt, ist die Vorstel­lung, in das Land zurück­reisen zu müssen, der blanke Horror. Sie fürchten sich vor den Taliban, aber auch vor staat­li­chen Akteur:innen und Personen aus dem eigenen Umfeld. Eine kürz­lich erschie­nene Studie der Diakonie Deutsch­land unter­suchte zwischen 2016 und 2020 das Schicksal von Personen, die aus dem deutsch­spra­chigen Raum nach Afgha­ni­stan rück­ge­führt wurden.

Über 90 Prozent der Rückkehrer:innen sind von Gewalt betroffen. Gerade die Tatsache, dass sie nach Europa über­ge­laufen sind, führt in vielen Fällen zu Bedro­hung durch die Taliban und andere Grup­pie­rungen. Ein weiteres erheb­li­ches Gewalt­ri­siko besteht durch nicht bezahlte Schulden für die Finan­zie­rung der Flucht nach Europa durch Kreditgeber:innen. Viel­fach erhalten Abge­scho­bene keine Iden­ti­täts­do­ku­mente, sind von medi­zi­ni­scher Versor­gung ausge­schlossen und leiden unter Arbeits- und Wohnungsnot. Rund 68 Prozent hatten das Land 2020 wieder verlassen.

Das Schicksal der Wegge­wie­senen in der Schweiz

Grund­sätz­lich befinden sich alle Wegge­wie­senen – und nicht nur jene aus Afgha­ni­stan – in einer Ohnmachts­si­tua­tion: Bei einem abge­lehnten Asyl­ge­such mit Wegwei­sung hält man sich ab sofort unbe­wil­ligt und illegal auf Schweizer bzw. euro­päi­schem Boden auf und kann deswegen jeder­zeit inhaf­tiert und mit einer Geld­strafe von bis zu 2000.- CHF gebüsst werden.

Die Dublin­ver­ord­nung zwischen den Staaten des Schen­gen­raums verhin­dert derweil Antrags­stel­lung und Aufnahme in einem anderen euro­päi­schen Land. Wegge­wie­senen sind dadurch buch­stäb­lich Hände und Füsse gebunden, als einziger Weg ist für sie der Weg zurück bestimmt.

Sind die Rück­füh­rungen jedoch nicht möglich, bleiben sie teil­weise über Jahre in der Schweiz und leben von Nothilfe. In den Unter­künften, in denen sie unter­ge­bracht werden, sind sie regi­striert, es besteht tägliche Anwe­sen­heits­mel­de­pflicht. Jegliche Arbeits­tä­tig­keit ist verboten und andere Akti­vi­täten sind aufgrund der komplett einge­schränkten Bewe­gungs­frei­heit und der finan­ziell bitteren Lage ausgeschlossen.

Das Sozi­alamt regelt die Kran­ken­ver­si­che­rung. In vielen Kantonen erhalten Wegge­wie­sene monat­lich 240.- CHF. Im Kanton Zürich wird das Geld täglich ausbe­zahlt mit 8.- CHF pro Tag. Das muss reichen für Essen, Handy-Abo und gele­gent­lich ein Ticket für den öffent­li­chen Verkehr. Aufgrund der Gefahr, kontrol­liert zu werden, bewegen sich die Wegge­wie­senen jedoch mit höch­ster Vorsicht. In anderen Kantonen wie Luzern, Thurgau oder Schaff­hausen erhalten Personen ohne Aufent­halts­er­laubnis etwas zu essen, aber keine finan­zi­elle Unterstützung.

Hamid* lebte vier Jahre lang in einem Rück­füh­rungs­zen­trum. Er kommt aus dem Norden Afgha­ni­stans. Im Inter­view mit das Lamm erzählt er, dass er vor sechs Jahren in der Schweiz Asyl bean­tragt hatte und sein Gesuch abge­lehnt wurde. Danach kam er in eine Unter­kunft der ORS in der Nähe des Flug­ha­fens. Er lebte auf engstem Raum mit Menschen ähnli­chen Schicksals.

Er selbst sei nie ins Gefängnis oder in ein Rück­füh­rungs­flug­zeug gekommen. Sein Freund Hassan* schon. Dank des Einsatzes von Aktivist:innen konnte der geplante Abflug 2019 jedoch verhin­dert werden. Ein anderes Mal kam Hamid selbst in eine Kontrolle am Flug­hafen. Weil sein Finger­ab­druck nicht erkannt wurde, nahm ihn die Polizei mit auf den Posten. Obwohl er gleich zu Beginn seinen Fall schil­derte und betonte, dass man all seine Daten hätte, wurde er drei Stunden lang verhört.

Nach seinem Nega­tiv­ent­scheid reichte Hamid Beschwerde ein. 2020, fünf Jahre später, wurde seine Beschwerde gutge­heissen und das Verfahren wieder aufge­nommen. Dies ist ein seltener Fall. Norma­ler­weise müssen Wegge­wie­sene selbst­ständig ein Härte­fall­ge­such einrei­chen, was eben­falls frühe­stens nach fünf Jahren Aufent­halt in der Schweiz möglich ist.

Aufgrund der Beschwerde hat Hamid nun den Aufent­halts­status als „Vorläufig aufge­nom­mener Flücht­ling (VA/F)“. Viele Personen aus dem Herkunfts­land Afgha­ni­stan bekommen entweder den Status „Vorläufig aufgenommene:r Ausländer:in (VA)“ oder VA/F. Mit diesen Schutz­status können die Betrof­fenen arbeiten oder eine Ausbil­dung machen. Reisen ist ihnen verboten und ihr Blei­be­recht ist mit VA oder VA/F nicht gesi­chert. Und doch: Der Status VA oder VA/F markiert einen immensen Unter­schied zum Nicht­ein­tre­tens­ent­scheid (NEE) der Weggewiesenen.

Noch immer warten 176 Wegge­wie­sene auf eine Rück­füh­rung nach Afghanistan.

Noch immer warten 176 Wegge­wie­sene auf eine Rück­füh­rung nach Afgha­ni­stan. Die Situa­tion scheint paradox. Während man diese Personen in stän­diger Angst und Unsi­cher­heit auf eine jeder­zeit mögliche Zwangs­aus­schaf­fung warten lässt, wurde in den letzten vier Jahren nur eine einzige Depor­ta­tion mit sechs Personen durchgeführt.

Soli­da­ri­sche Personen und Gruppen orga­ni­sieren wöchent­liche Treffen mit Abend­essen in der Nähe von Rück­füh­rungs­zen­tren, wo die Wegge­wie­senen über ihre Situa­tion spre­chen können und teil­weise Rechts­be­ra­tung erhalten. Doch solange das System bleibt, wie es ist, hilft auch die soli­da­ri­sche Unter­stüt­zung nur beschränkt, da sich die Wegge­wie­senen trotzdem weiter über Jahre ohne Beschäf­ti­gung in den Rück­füh­rungs­zen­tren aufhalten müssen.

Könnte die Schweiz etwas ändern?

In Bezug auf das Land Afgha­ni­stan könnte das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt durchaus eine neue Richt­linie in der Recht­spre­chung vorgeben, meint Lea Hunger­bühler von Asylex. Grund­sätz­lich ist es möglich, dass Länder gene­rell als unsi­chere Herkunfts­länder einge­stuft werden und dadurch Wegwei­sungen nicht mehr zulässig bzw. zumutbar wären.

Mit der Revi­sion des Asyl­ge­setzes wurde fest­ge­legt, dass Asyl­ver­fahren kürzer dauern sollten. Die vorge­se­henen drei Monate im beschleu­nigten Verfahren haben sich im Gegen­satz zu den früheren Verfahren von mehreren Jahren jedoch als zu kurz heraus­ge­stellt. Das soge­nannte erwei­terte Verfahren, welches bis zu einem Jahr dauert und bereits mehr Anwen­dung findet, scheint ein guter Mittelweg zu sein.

Dem gegen­über bleibt aber unver­ständ­lich, weshalb man Wegge­wie­sene über Monate und Jahre ohne Zugang zu Beschäf­ti­gung örtlich isoliert, sie finan­ziell schi­ka­niert, täglich kontrol­liert, einschüch­tert und für ihre Anwe­sen­heit bestraft.

Für all jene, die in ihrem Verfahren kein Glück hatten, muss die Schweiz drin­gend eine Lösung erar­beiten, die einen anderen Umgang mit den Personen garantiert.

*Namen durch die Redak­tion geändert


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