Keine Gefahr für Kapitalist:innen

In der Schweiz gelten selbst harm­lose Reformen als radikal, wie der Abstim­mungs­kampf um die 99-Prozent-Initia­tive zeigt. Das verun­mög­licht grund­sätz­liche Debatten über Ungerechtigkeit. 
Die "Superreichen" sind nicht das einzige Problem. (Bild: Gautier Salles/unsplash)

In diesem Text erfährst du alles, was du über die Initia­tive wissen musst.

Beim Abstim­mungs­kampf zur 99-Prozent-Initia­tive ist es wie bei der Auffüh­rung eines Thea­ter­stücks: Alle kennen ihre Rolle auswendig. Die JUSO stellt soziale Unge­rech­tig­keiten an den Pranger und konser­va­tive Parteien hallu­zi­nieren eine Gefahr für das „Erfolgs­mo­dell Schweiz“ herbei. Geschmack­lose Bilder dürfen bei der Insze­nie­rung nicht fehlen: Eine rote Zecke mit Hammer und Sichel auf dem Rücken blickt böse vom SVP-Banner.

Nicht nur die SVP, auch die FDP, die Mitte und die Grün­li­be­ralen, genauso wie der National- und der Stän­derat sind entschieden gegen die Vorlage der JUSO, über die am 26. September abge­stimmt wird.

Der Wider­stand ist reich­lich über­zogen. Denn was die Initia­tive will, ist weder radikal noch gefähr­lich für den Kapitalismus.

Zum einen, weil es die Eigen­tums­ver­hält­nisse unan­ge­ta­stet lässt. Die Initiant:innen betonen es immer wieder: Ein Prozent der Bevöl­ke­rung verfügt über 43 Prozent des Vermö­gens. Die Initia­tive bekämpft diesen Miss­stand nicht direkt, sondern auf Umwegen. Sie will nicht die Vermögen stärker besteuern, sondern das Einkommen, das diese Vermögen generieren.

Zum Beispiel die Miet­ein­nahmen, die ein Haus­ei­gen­tümer einkas­siert. Die Hoff­nung ist, dass so auch die Vermögen der Reich­sten schrumpfen. Die Initia­tive stellt aber weder direkt in Frage, ob es gerecht ist, dass Eigentum über­haupt noch mehr Eigentum gene­riert – geschweige denn, ob es Sinn ergibt, dass einem Menschen ein Haus gehört, in dem er nicht wohnt.

Ginge es wirk­lich um Vermö­gens­un­gleich­heit, müsste auf den Bannern stehen: „We are the 23 percent.“

Die Vorlage ist auch deswegen nicht anti­ka­pi­ta­li­stisch, weil sie nur gewisse Kapitalist:innen betrifft, andere wiederum nicht. Ein Prozent der Bevöl­ke­rung besitzt zwar 43 Prozent des Vermö­gens. Aber: 12 weitere Prozent der Bevöl­ke­rung besitzen die näch­sten 40 Prozent des Vermö­gens. Und nicht 99 Prozent, sondern nur etwa ein Viertel der Personen in der Schweiz hat gar kein Vermögen. 10 Prozent der Menschen in der Schweiz leben unter der Armuts­grenze. Aus linker Perspek­tive sollte es vor diesem Hinter­grund eigent­lich keine Rolle spielen, ob jemand 37 Millionen Franken Vermögen besitzt oder eine Million. Ginge es wirk­lich um Vermö­gens­un­gleich­heit, müsste auf den Bannern stehen: „We are the 23 percent.“ 

Doch das ist es gerade nicht, was die JUSO hervor­hebt. Sie macht statt­dessen klar, dass sie nur die ganz, ganz schlimmen „Bonzen“ meint. Sie will nämlich nur Kapi­tal­ein­kommen über einem vorge­schla­genen Schwel­len­wert von 100’000 Franken stärker besteuern. Das ist will­kür­lich. Kapitalist:in ist nicht erst, wer eine Yacht in Nizza hat oder eine Villa am Zürich­berg. Kapitalist:in ist auch der Laden­be­sitzer, die Start-up-Grün­derin, der Partner in einer Anwalts­kanzlei – kurz: alle, die mit ihrem Eigentum einen Mehr­wert erzielen, ganz egal, wie gross der ist. Diese Menschen betrifft die Initia­tive – entgegen den Befürch­tungen der Gegner:innen – aber nicht.

Schaut man die globale Vermö­gens­ver­tei­lung an, wirkt die 99%-Parole noch absurder: Der soge­nannte „Mittel­stand“ in der Schweiz, den die Initia­tive finan­ziell entla­sten möchte, gehört global gesehen nämlich zu den reich­sten. Und das reichste Prozent der Schweizer:innen hat ihr Vermögen nicht auf Kosten mittel­stän­di­scher Schweizer:innen, sondern auf dem Rücken von Menschen in anderen Teilen der Erde erwirtschaftet.

Die Rhetorik der Initia­tive verstellt so den Blick auf das Wesent­liche: Kapi­ta­lismus ist keine Frage von indi­vi­du­eller Schuld, sondern eine wirt­schaft­liche Funk­ti­ons­weise, die syste­ma­tisch Unge­rech­tig­keit produ­ziert. Es bedarf zudem einer ausdif­fe­ren­zierten Analyse unter­schied­li­cher Klassen statt des plumpen „Die da oben, wir hier unten“. 

Dass die Initia­tive sich nur auf Kapi­tal­ein­kommen, nicht das Kapital an sich und zusätz­lich nur auf sehr hohe Kapi­tal­ein­kommen beschränkt, macht ihre Forde­rung letzt­lich zu einer bürger­li­chen: Sie strebt einen „gerechten“ Kapi­ta­lismus an, unge­achtet der Tatsache, dass das ein Wider­spruch in sich ist. Die Besit­zenden und die Lohn­ab­hän­gigen bleiben dieselben.

Beispiele für poli­ti­sche Vorstösse, die grund­sätz­liche Fragen aufwerfen, gibt es. So wurde in Berlin die Initia­tive „Deut­sche Wohnen & Co. enteignen“ lanciert. Sie will die grössten Immo­bi­li­en­be­sitzer der Stadt per Volks­ent­scheid enteignen und die Miet­ob­jekte vergesellschaften.

Da wir uns aber immer noch in der Schweiz befinden, reden wir lieber über Steuern für die „Super­rei­chen“. Das macht es einem Gross­teil der Bevöl­ke­rung ohnehin leichter: Schuld sind ja die „Abzocker“ da oben, das eine Prozent. „Wir“ sicher nicht, auch wenn damit neben Migros­kas­sie­re­rinnen und Kinder­gärt­nern mitunter auch Mana­ge­rinnen und Erben gemeint sind. Diese Menschen können also getrost ein Ja in die Urne legen. Denn in der Schweiz bleibt sowieso alles beim Alten.

Man mag es der JUSO ange­sichts der heftigen Reak­tionen und der mise­ra­blen Erfolgs­chance selbst bei dieser harm­losen Initia­tive nicht verübeln, dass sie eine Politik der kleinen Schritte verfolgt. Die Schweiz ist wahr­lich nicht bereit für eine Enteig­nungs­in­itia­tive. Eine höhere Besteue­rung auf Kapi­tal­ein­kommen wäre eindeutig eine Verbesserung.

Trotzdem: Wenn die Auffas­sung dessen, was als „radikal“ gilt, immer näher an den Status Quo rückt, werden Forde­rungen, die Unge­rech­tig­keiten an der Wurzel packen, noch unmög­li­cher. Und letzt­lich verfehlt die JUSO beide ihre Ziele: Weder wird die Inita­tive einen real­po­li­ti­schen Effekt haben. Noch verschiebt sie den Diskurs nach links — dafür ist sie schlicht zu gefällig.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 10 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 780 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Sie wollen Domi­nanz und Tradition

Trumps knappen Wahlsieg auf ökonomische Faktoren zurückzuführen, greift zu kurz. Die Linke muss der Realität ins Auge sehen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung Trump nicht trotz, sondern wegen seines ethnonationalistischen Autoritarismus gewählt hat. Eine Antwort auf Balhorns Wahlkommentar.

Fick den Genderstern!

Die SVP betreibt mit der Genderstern-Initiative rechten Kulturkampf und will dem sogenannten ‚Woke-Wahnsinn‘ den Garaus machen. Sie können das Sonderzeichen gerne haben – vorausgesetzt, genderqueere Personen können ein sicheres Leben führen.