Alles, was du über die 99-Prozent-Initia­tive wissen musst

Der Abstim­mungs­zettel liegt auf deinem Küchen­tisch – aber du verstehst nicht, worum es genau geht und warum das wichtig sein soll? Hier kommen die wich­tig­sten Punkte, die du zur 99-Prozent-Initia­tive wissen musst. 
Mehr Steuern für die Reichsten - das fordert die JUSO (Bild: Lea Kobal / Unsplash)

Am 26. September stimmt die Schweizer Bevöl­ke­rung über die soge­nannte 99-Prozent-Initia­tive ab. In diesem Text erfährst du alles, was du über die Forde­rung der Initia­tive wissen musst.

Ausserdem findest du hier unseren Kommentar dazu. 

Die Initia­tive mit dem sper­rigen Namen „Löhne entla­sten, Kapital gerecht besteuern“ will eine Ände­rung in der Steu­er­po­litik. Wird die Vorlage ange­nommen, soll das Einkommen, das aus Kapital kommt, stärker besteuert werden als Einkommen, welches durch Lohn­ar­beit verdient wird. Genauer: Kapi­tal­ein­kommen soll bei der Steu­er­erklä­rung einein­halbmal anstatt nur einmal gezählt werden. Eine Einschrän­kung macht die Initia­tive: Kapi­tal­ein­kommen unter 100’000 soll wie bis anhin besteuert werden. Das Ziel der Initia­tive ist es, soziale Ungleich­heit und insbe­son­dere die Vermö­gens­un­gleich­heit zu bekämpfen. Sie will Vermögen von den Reich­sten an den Rest der Bevöl­ke­rung umver­teilen. Die zusätz­li­chen Steu­er­ein­nahmen sollen genutzt werden, um die Wohl­fahrt zu stärken und die Steuern der rest­li­chen Bevöl­ke­rung zu senken.

Indem die Initia­tive diesen Begriff verwendet, macht sie eine Unter­schei­dung, die im Schweizer Steu­er­recht so nicht vorge­sehen ist. Nämlich zwischen Arbeits­ein­kommen, also Einkommen, das mit einer Lohn­ar­beit erwirt­schaftet wird, und Kapi­tal­ein­kommen, das durch Eigentum erwirt­schaftet wird.

Der Begriff ist aber weder im aktu­ellen Steu­er­recht noch im Initia­tiv­text defi­niert. Das heisst: Was damit genau gemeint ist, müsste das Parla­ment nach der Abstim­mung in einem Gesetz fest­legen. Trotzdem gibt es Anhalts­punkte aus der Steu­er­po­litik und der Wissen­schaft, die den Begriff umreissen. Ausserdem defi­niert ihn ein Argu­men­ta­rium des Initia­tiv­kom­mi­tees. Demzu­folge ist Kapitaleinkommen:

  • Einnahmen durch eine Immo­bilie, die vermietet wird
  • Einnahmen durch Divi­denden für Menschen, die Aktien besitzen
  • Einnahmen durch Divi­denden für Menschen, die mit ihrem Unter­nehmen Profit machen
  • Einnahmen durch Zinsen
  • Einnahmen durch den Verkauf von Aktien, die an Wert gewonnen haben

Eigent­lich muss in der Schweiz jedes Einkommen versteuert werden. Dazu gehören:

  • Der Lohn einer Person
  • Erträge aus Divi­denden und Zinsen, Lotte­rie­ge­winne und Erbschaften, die nicht an Fami­li­en­an­ge­hö­rige gehen
  • Der Gewinn, den ein Unter­nehmen macht

Zudem muss Kapital versteuert werden, zum Beispiel:

  • Das Vermögen von Privat­per­sonen, dazu gehören etwa Bank­gut­haben, Bargeld, Autos, Immo­bi­lien, Lebens- und Rentenversicherungen
  • Unter­nehmen müssen ihr Vermögen eben­falls versteuern

Doch das Steu­er­recht macht auf Bundes­ebene Ausnahmen, zum Beispiel:

  • Wer mehr als 10 Prozent der Anteile an einem Unter­nehmen besitzt, muss den Gewinn daraus nicht komplett versteuern, sondern nur 70 Prozent davon. 
  • Kurs­ge­winne von Akti­en­ver­käufen sind eben­falls steuerbefreit

Diese beiden Lücken will die Initia­tive schliessen.

Die Einkom­mens­steuer ist in der Schweiz im Vergleich niedrig, genauso wie die Gewinn­steuer. Eine Vermö­gens­steuer, wie es sie in der Schweiz gibt, ist im inter­na­tio­nalen Vergleich unge­wöhn­lich, dafür ist diese eben­falls recht niedrig. Andere Länder wie etwa Deutsch­land oder die USA haben anstatt einer Vermö­gens­steuer eine Kapi­tal­ein­kom­mens­steuer, wie die Initia­tive sie verlangt. Zudem trägt das immer noch zum Teil bestehende Bank­ge­heimnis dazu bei, dass die Schweiz ein sicherer Rück­zugsort für Steuerhinterzieher:innen ist. 

Insge­samt haben diverse Reformen in den vergan­genen 20 Jahren dazu geführt, dass sehr hohe Vermögen genauso wie Unter­nehmen immer weniger stark besteuert wurden. Das führte zu einem Steu­er­de­fizit. Um das Loch zu stopfen schlug im Jahr 2014 ausge­rechnet die dama­lige bürger­liche Leiterin des Finanz­de­par­te­ments Eveline Widmer-Schlumpf eine Kapi­tal­ein­kom­mens­steuer vor.

Was Einkom­mens­un­gleich­heit angeht, schneidet die Schweiz besser ab als die USA und Gross­bri­tan­nien, aber schlechter als Deutsch­land, Ungarn, Polen und Öster­reich. „Das oberste Prozent der Arbeit­neh­menden erhielt 2018 einen Monats­lohn von 25’000 Franken oder mehr. Die ober­sten 0.1 Prozent erhielten sogar 68’000 Franken oder mehr. Die unter­sten zehn Prozent – eine halbe Million Arbeit­neh­mende – erhielt hingegen weniger als 4’200 Franken Monats­lohn“, steht im Vertei­lungs­be­richt des Schwei­ze­ri­schen Gewerk­schafts­bundes 2020.

Bei der Vermö­gens­un­gleich­heit ist die Kluft noch markanter: Ein Prozent der Bevöl­ke­rung besitzt 42 Prozent des Vermö­gens. Dieser Trend hat in den vergan­genen Jahr­zehnten stetig zuge­nommen. Die Vermö­gens­kon­zen­tra­tion ist eine der höch­sten welt­weit. Sie ist beispiels­weise doppelt so hoch wie in Frank­reich oder England.

Diese Ungleich­heit wird durch die Schweizer Steu­er­po­litik nicht behoben, wie eine Studie der Univer­sität Zürich heraus­fand: „Insbe­son­dere fällt auf, dass das Steu­er­sy­stem in der Schweiz nur einen geringen Beitrag zur Umver­tei­lung zu leisten scheint, wie verschie­dene Analysen gezeigt haben. Eine Erklä­rung für diesen Umstand findet sich im Steu­er­wett­be­werb der Kantone, welcher die Steu­er­last insge­samt und beson­ders für die Reich­sten tief hält, sowie in der Tatsache, dass reiche Steu­er­zahler bevor­zugt in den steu­er­gün­stig­sten Kantonen und Gemeinden wohn­haft sind.“

Da der Initia­tiv­text vieles offen­lässt, ist kaum abzu­sehen, welche Konse­quenzen die Vorlage hätte. Einzelne Ökonom:innen und der Bundesrat warnen davor, dass sie dazu führen könnte, dass weniger Geld inve­stiert würde und reiche Steuerzahler:innen auswan­dern würden. Andere sagen: Im Gegen­teil. Das Geld würde ja an Arbeiter:innen rück­ver­teilt, würde dort die Kauf­kraft stärken und die Wirt­schaft sogar ankur­beln. Letzt­lich wären dem Parla­ment bei der Umset­zung aber viele Frei­heiten gelassen.

Der Initia­tiv­text könnte zum Beispiel so ausge­legt werden, dass selbst Aktionär:innen von Betei­li­gungs­ge­sell­schaften damit gemeint wären, die momentan von Steu­er­vor­teilen profi­tieren. Das wäre ein Kurs­wechsel in der bishe­rigen Bestre­bung der Schweizer Politik, das Land zu einer Steu­er­oase zu machen. Gleich­zeitig könnte die Initia­tive so ausge­legt werden, dass nur bestimmte Kapi­tal­ein­kommen als solche zählen. Auch könnte der Frei­be­trag erhöht werden. Bei der aktu­ellen Zusam­men­set­zung des Parla­ments ist es wahr­schein­lich, dass die Initia­tive im Inter­esse von Grossaktionär:innen und Vermö­genden ausge­legt würde.

Neben der JUSO auch die SP, die EVP und die Grünen.

Die SVP, die FDP, die Mitte und die GLP.


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