Keine Monster, sondern Männer

Wenn Männer Gewalt­taten wie Amok­läufe begehen, stem­peln Medien sie oft als „abnormal“ oder „Monster“ ab. Dabei sind solche Taten das Resultat von gängigen Männ­lich­keits­idealen und gesell­schaft­li­chen Ausbeu­tungs­ver­hält­nissen, analy­siert unser Autor. 
In Amokläufen spiegelt sich eine existenzielle Angst wider: die Angst, sozial bedeutungslos zu werden – ausgeliefert an ökonomische Zwänge in einer zunehmend selbstzerstörerischen Welt. (Bild: Egor Myznik / Unsplash)

Blut und Tod auf den Bild­schirmen garan­tieren den sensa­tio­na­li­sti­schen Medien hohe Klick­zahlen. Nach dem Schul­a­mok­lauf von Winnenden 2009 beschrieb beispiels­weise das Focus-Magazin die Tat bis ins kleinste Detail: «Von einer Kugel in den Hinter­kopf tödlich getroffen, kippte der Ober­körper der 15-Jährigen nach vorne auf den Tisch.» 

Sollte das nicht genügen, veröf­fent­lichte die Bild eine 3D-Anima­tion der Schule – das Publikum konnte den Amok­lauf darin Schritt für Schritt aus der Perspek­tive des Täters verfolgen. In einer Mischung aus Horror­story und Action­film werden dadurch Täter zu Anti­helden, Betrof­fene zu Statist*innen. 

In dieser medialen Insze­nie­rung bleibt kein Raum für die Frage, warum solche Gewalt entsteht oder warum die Täter meistens Männer sind. Statt Ursa­chen zu suchen, domi­nieren Schlag­zeilen, Tatde­tails und emotio­na­li­sierte Geschichten. Gewalt erscheint dabei als Ausnah­me­zu­stand, der von aussen in eine vermeint­lich heile Gesell­schaft einbricht. 

Gewalt als Sensation

Die mediale Ästhe­ti­sie­rung von Gewalt ist kein neues Phänomen. Auch die Popkultur hat sie längst in Bilder gegossen – etwa in Oliver Stones «Natural Born Killers» (1994). Im Film begeben sich die Haupt­fi­guren auf eine gewalt­ver­herr­li­chende Tötungs­tour durch die USA. Sie schlachten wahllos Menschen ab und lassen stets eine Über­le­bende zurück: Ihre Bruta­lität soll als Erzäh­lung und Mythos durch die Gesell­schaft geistern. Als die Medien auf das Duo aufmerksam werden, werden sie zu schil­lernden Antiheld*innen empor­ge­hoben und roman­ti­siert. Der Film kriti­siert genau das, was sich auch in der Bericht­erstat­tung über reale Amok­läufe zeigt: den Sensa­tio­na­lismus und die voyeu­ri­sti­sche Faszi­na­tion für Gewalt. 

In Amok­läufen spie­gelt sich eine existen­zi­elle Angst wider. Sie hat ihre Wurzeln in den ökono­mi­schen Bedin­gungen, die das Leben der Menschen bestimmen.

Als «Natural Born Killers» 1994 in die Kinos kam, löste der Film heftige Debatten aus. Kritiker*innen warfen Oliver Stone vor, Gewalt zu verherr­li­chen – obwohl der Film eigent­lich die Medien dafür anklagt, Gewalt in ein Spek­takel zu verwandeln. 

Nach dem Schul­mas­saker von Colum­bine 1999 flammte die Diskus­sion erneut auf. Die beiden Täter waren grosse Fans des Films. In ihren Videos und Notizen zitierten sie die Haupt­fi­guren und wünschten sich, dass eines Tages jemand – viel­leicht Quentin Taran­tino oder Steven Spiel­berg – ihre Tat verfilmen würde. 

Dazu kam es nie. Und doch bekamen die Täter nach ihrem Tod, was sie suchten: mediale Aufmerk­sam­keit. Bald tauchten im Netz Fanar­tikel, selbst­ge­malte Porträts und Vereh­rungs­seiten auf. 

Colum­bine war der erste Schul­a­mok­lauf, der welt­weit in Echt­zeit verbreitet wurde und er diente als Vorbild für viele spätere Täter, auch für den Amok­lauf in Graz im Juni dieses Jahres.

Verdrängte Angst und Vernichtungsfantasien

In Amok­läufen spie­gelt sich eine existen­zi­elle Angst wider, die diese von Krisen geprägte Gesell­schaft durch­zieht: die Angst, sozial bedeu­tungslos zu werden – ersetzbar, ohne Aner­ken­nung, ausge­lie­fert an ökono­mi­sche Zwänge in einer zuneh­mend selbst­zer­stö­re­ri­schen Welt.

Diese Angst führt zu grosser Unsi­cher­heit im sozialen Gefüge. Sie hat ihre Wurzeln in den mate­ri­ellen Struk­turen dieser Gesell­schaft, also in den ökono­mi­schen und sozialen Bedin­gungen, die das Leben der Menschen bestimmen – etwa Arbeits­lo­sig­keit, Leistungs­druck, Verein­sa­mung, soziale Ungleich­heit und Preka­rität. Beson­ders deut­lich zeigt sich die Angst dort, wo sie auf tradierte Männ­lich­keits­ideale trifft: auf das Verspre­chen von Stärke und Kontrolle, das Ohnmacht und Abhän­gig­keit verdrängt. Die Erfah­rung von Ohnmacht und Angst bleibt dabei nicht folgenlos. Sie kann sich in Wut und Hass verwan­deln – in das Bedürfnis, dem eigenen Kontroll­ver­lust etwas entgegenzusetzen. 

Im neoli­be­ralen Zeit­alter werden soli­da­ri­sche Bezie­hungen immer mehr von Indi­vi­dua­lismus, Verein­ze­lung und Konkur­renz verdrängt. 

In seinem Buch «Disaster Natio­na­lism» fragt sich Richard Seymour, warum viele ange­sichts der gesell­schaft­li­chen Krisen nicht auf Verän­de­rung, sondern auf deren Verschär­fung hoffen. Er verortet diese Haltung in einer tief­sit­zenden, unter­drückten Ambi­va­lenz gegen­über der Gesell­schaft selbst – einer Mischung aus Abhän­gig­keit und Ableh­nung, aus der Hass und Vernich­tungs­fan­ta­sien entstehen. Seymour sieht in solchen Fanta­sien eine Abwehr­re­ak­tion auf existen­zi­elle Angst und Ohnmacht. Meist sind es bestimmte gesell­schaft­liche Gruppen oder Minder­heiten, die als Sünden­böcke für das eigene Unbe­hagen herhalten müssen. 

In manchen Fällen – etwa bei rassi­sti­schen Tätern – richtet sich die Gewalt gezielt gegen ein bestimmtes Feind­bild. In anderen wie bei den Colum­bine-Tätern wird der Hass gene­ra­li­siert: Jeder Mensch kann zum Symbol des verhassten «Welt­ganzen» werden: «Our actions are a two man war against ever­yone else» (zu Deutsch: Unsere Hand­lungen sind ein Zwei-Mann-Krieg gegen alle anderen). Auch im Film «Natural Born Killers» antwortet die Haupt­figur auf die Frage, wie er einen unschul­digen Menschen erschiessen könne: «Unschuldig? Wer ist schon unschuldig, Wayne? Bist du unschuldig?».

Hass gegen unten

Im neoli­be­ralen Zeit­alter werden soli­da­ri­sche Bezie­hungen immer mehr von Indi­vi­dua­lismus, Verein­ze­lung und Konkur­renz verdrängt. Umso mehr ist die Stim­mung von Hass und Ressen­ti­ment geprägt.

Ressen­ti­ment entsteht im Vergleich: Wenn anderen etwas zuge­standen wird, empfinden viele das als Verlust für sich selbst. Statt gemein­same Verbes­se­rungen zu fordern, wird nach unten getreten, um die eigene Ohnmacht zu kompen­sieren. Der Hass richtet sich selten gegen die wirk­lich Mäch­tigen, sondern gegen jene, die als ähnlich oder schwä­cher wahr­ge­nommen werden.

Für einige Männer entspringt der Hass nicht nur aus der verdrängten Angst, sondern auch aus Lust und der Hoff­nung, einem heroi­schen Ideal zu entsprechen. 

Dahinter steht ein uner­fülltes Bedürfnis nach Aner­ken­nung – also danach, gesehen, respek­tiert und als Teil einer Gemein­schaft wahr­ge­nommen zu werden. Fehlt diese Aner­ken­nung, schlägt das Bedürfnis leicht in Abwer­tung um: Wer sich selbst ohnmächtig fühlt, sucht oft Halt darin, andere abzuwerten. 

Für einige Männer entspringt der Hass nicht nur aus der verdrängten Angst, sondern auch aus Lust und der Hoff­nung, einem heroi­schen Ideal zu entspre­chen. Sie hoffen, einen extremen Adre­na­lin­schub – eine Art Katharsis – zu erleben, die in ihrer Inten­sität die eigene mono­tone Lebens­rou­tine durchbricht. 

Genau dieses Gefühl beschreibt einer der Colum­bine-Täter in seinen «Base­ment Tapes», den Video­auf­nahmen, in denen die beiden Täter Wochen vor der Tat ihre Gedanken und Vorbe­rei­tungen zur Tat fest­hielten: «Ich hoffe, wir töten 250 von euch. Wenn die Bomben gezündet sind und wir darauf warten, durch die Schule zu stürmen, werden das die nerven­auf­rei­bend­sten 15 Minuten meines Lebens sein. Die Sekunden werden mir wie Stunden vorkommen. Ich kann es kaum erwarten. Ich werde zittern wie Espenlaub».

«Ich weiss, ich bin Gott»

Die Sehn­sucht nach Macht, Rausch, Aner­ken­nung und Kontrolle nimmt bei Amok­läu­fern über­stei­gerte Züge an: Sie stellen sich als über­legen dar, obwohl sie sich zugleich als Opfer der Gesell­schaft sehen. Dieser Wider­spruch mündet in Allmachts­fan­ta­sien. Sie glauben, über Leben und Tod entscheiden zu können. «Ich sehe ihnen dann tief in die Augen, und weiss, ich bin Gott», schrieb der Täter von Emsdetten 2006. Auch die Colum­bine-Mörder insze­nierten sich als gottes­ähn­lich – als über­mäch­tige Wesen über dem «mensch­li­chen Abschaum». 

Eine tradi­tio­nelle Männ­lich­keits­vor­stel­lung ist bei solchen Taten der grösste gemein­same Nenner.

Die Allmachts­fan­ta­sien sind in vielen Fällen eng mit einer offenen Frau­en­feind­lich­keit verbunden, die zentraler Bestand­teil der Welt­auf­fas­sung vieler Amok­läufer ist. Dahinter steckt ein Wider­spruch, der tief in gängigen Vorstel­lungen von hete­ro­se­xu­eller Männ­lich­keit verwur­zelt ist. Auto­nomie und Unab­hän­gig­keit gelten als zentrale Ideale, doch sie geraten ins Wanken, sobald der Mann in seinem Begehren auf Frauen ange­wiesen ist. Diese Abhän­gig­keit wird als Krän­kung erlebt, weil sie das Ideal von männ­li­cher Kontrolle und Unab­hän­gig­keit infrage stellt. Anstatt diese Ohnmacht zuzu­lassen, wird sie abge­wehrt. Aus dem Gefühl der Schwäche entsteht Wut, die sich in Frau­en­ver­ach­tung und Sexismus entladen kann.

Eine tradi­tio­nelle Männ­lich­keits­vor­stel­lung ist bei solchen Taten also der grösste gemein­same Nenner. Schul­a­mok­läufer und rechts­extreme Täter wie Anders Breivik zeigen ein Poten­zial zur aggres­siven Abwehr. Dieses Poten­zial ist in der männ­li­chen Sozia­li­sa­tion angelegt. 

Der Sozi­al­psy­cho­loge Ralf Pohl erkennt in beiden Fällen ein ähnli­ches Muster: ein gewaltsam aufge­la­denes Selbst­bild, gepaart mit Kränk­bar­keit, Rachefan­ta­sien, Frau­en­hass und einer dauer­haften Konfron­ta­ti­ons­be­reit­schaft gegen­über der sozialen Umwelt – unab­hängig davon, ob die Tat poli­tisch moti­viert ist oder nicht. 

Norma­l­un­ge­tüme

Schul­a­mok­läufe sind selten. Dennoch haben soge­nannte Lone-Wolf-Atten­tate, also Taten von Einzel­tä­tern ohne feste poli­ti­sche Ideo­logie, in den letzten Jahren zuge­nommen. Der Umgang der Medien mit solchen Gewalt­taten zeigt eine tiefe gesell­schaft­liche Verunsicherung.

Wie lässt sich extreme Gewalt mit dem Selbst­bild einer fried­li­chen, demo­kra­ti­schen Gesell­schaft verein­baren – einem Bild, das oft mehr Wunsch als Wirk­lich­keit ist?

In der Gesell­schaft fallen die Reak­tionen auf solche Taten oft distan­zie­rend oder abweh­rend aus. Es wirkt beru­hi­gend, die Täter als Ausnahmen zu sehen, als Fremde, die nicht zu uns gehören. Doch diese Vorstel­lung greift zu kurz.
Die Medien über­nehmen diese Perspek­tive und verstärken sie. Sie stellen die Gewalt als etwas dar, das von aussen in die Gesell­schaft eindringt und zugleich jeder­zeit aus ihrem Inneren hervor­treten kann. So entsteht die Figur des «verdeckten Feinds»: scheinbar ausser­halb, und doch mitten unter uns.

Die Gewalt entspringt keiner absei­tigen Rand­exi­stenz – und gerade das macht sie so beunruhigend.

Die Medien ästhe­ti­sieren die Gewalt und patho­lo­gi­sieren die Täter. Viel wich­tiger wäre eine echte Ausein­an­der­set­zung mit den Ursa­chen extremer Gewalt. Doch anstatt sich mit den gesell­schaft­li­chen Bedin­gungen ausein­an­der­zu­setzen, die solche Taten hervor­bringen, wird die Gewalt an den Rand verschoben – in das Reich des Krank­haften und Abnormen.

Viel­mehr gilt es, jene gesell­schaft­li­chen Dyna­miken in den Blick zu nehmen, die solche Taten ermög­li­chen, und in den grund­le­genden Struk­turen dieser Gesell­schaft fort­wirken. Gerade weil diese Dyna­miken so tief in der Gesell­schaft verwur­zelt sind, verschwimmt die Grenze zwischen Norma­lität und Patho­logie – sie liegen näher beiein­ander, als es uns lieb ist.

Statt Täter als «abnormal» zu sehen, passt der von Philo­soph und Sozio­loge Theodor W. Adorno geprägte und von den Sozi­al­psy­cho­logen Markus Brunner und Jan Lohl aufge­grif­fenen Begriff der «Norma­l­un­ge­tüme» besser. Auch scheinbar ange­passte Subjekte – geprägt von konfor­mi­sti­schen und struk­tu­rell ausschlies­senden Verhält­nissen – können in Momenten gesell­schaft­li­cher oder persön­li­cher Krise zu extremer Gewalt fähig sein.

Nicht jeder Schul­a­mok­läufer ist poli­tisch rechts verortet, doch viele teilen eine Nähe zu auto­ri­tären Welt­bil­dern, in denen heroi­sche Männ­lich­keit eine zentrale Rolle spielt. Schul­a­mok­läufe sind daher nicht allein als indi­vi­du­elle Patho­logie zu verstehen, sondern drücken ein über­stei­gertes, uner­fülltes Bedürfnis nach Aner­ken­nung in einer Gesell­schaft aus, die von Männ­lich­keits­idealen und Ausbeu­tungs­ver­hält­nissen geprägt ist. Die Gewalt entspringt keiner absei­tigen Rand­exi­stenz, sondern einer «normal­männ­li­chen» Grund­struktur – und gerade das macht sie so beunruhigend.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 30 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1820 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Die Moral ist egal

Billie Eilishs Aufforderung an Milliardär*innen, ihr Vermögen zu teilen, ist zwar sympathisch – politisch aber irreführend. Selbst wenn Überreiche die grosszügigsten Menschen der Welt wären, würden Spenden die Strukturen nicht antasten, die ihren Reichtum und ihre Macht überhaupt erst hervorbringen.