Im Sommer 1973 wurde bekannt, dass in Wyhl, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Freiburg im Breisgau, ein neues Kernkraftwerk (KKW) gebaut werden sollte. Die Behörden versprachen Modernität, Wohlstand und Arbeitsplätze. Doch viele Anwohner*innen reagierten mit Argwohn und Misstrauen.
In Wyhl und den umliegenden Gemeinden gründeten sie Bürger*inneninitiativen, um sich wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzen und die Bevölkerung aufzuklären. Dieser Widerstand reichte bis nach Freiburg, wo das Freiburger Frauenkollektiv im Sommer 1974 die „Freiburger Initiativgruppe KKW NEIN“ gründete.
Diese Initiative stiess auch unter den Frauen der Schweizer Anti-Atomkraftbewegung auf Interesse. Denn auch in Kaiseraugst formierte sich damals ein breiter Widerstand gegen den Bau eines Atomkraftwerkes. Von der Arbeit des Frauenkollektivs Freiburg begeistert, bat die „Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst“ ihre süddeutschen Freundinnen in einem Brief um „dringende“ Beratung. Denn sie sahen im Kampf gegen die Atomkraft ein feministisches Anliegen. Ein Erfahrungsbericht des Frauenkollektivs Freiburg, das 1975 in der Zeitschrift Frauenoffensive publiziert wurde, gibt Aufschluss über die Entstehung dieser ökofeministischen Bewegung in Wyhl und Umgebung.
Keine ökofeministische Theorie
Die 1970er-Jahre waren die Geburtsstunde des Ökofeminismus: Als Reaktion auf verschiedene Umweltkatastrophen wie zum Beispiel der Chemieunfall im italienischen Seveso von 1976 schlossen sich Frauengruppen zusammen und zogen Parallelen zwischen der Zerstörung und Ausnutzung der Natur und der Unterdrückung von Frauen. Das patriarchale System, das weibliche Körper unterwarf und vergewaltigte, war für sie auch eines, das die Natur verschandelte, umweltschädliche Techniken wie die Atomkraft entwickelte und kriegerische Konflikte schürte.
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Der Begriff geht auf die französische Feministin Françoise d’Eaubonne zurück. Die Freiburger Feministinnen kannten jedoch weder Françoise D’Eaubonnes Buch „Feminismus oder Tod“ noch benutzten sie den Begriff Ökofeminismus. Dennoch ist ihre Aktion ein Beispiel von vielen weltweit, bei denen Feministinnen in die Umweltbewegung intervenierten und dabei die Überzeugung vertraten, dass es ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Nachhaltigkeit gibt.
Am Anfang des Engagements der Freiburger Frauen stand also keine ökofeministische Theorie. „Damals“, erinnerten sie sich in ihrem Erfahrungsbericht, „kam noch niemand von uns auf den Gedanken, dass ökologische Fragen vielleicht ein Teil der Frauenpolitik sind. Wir sahen nur, dass sich in der unmittelbaren Umgebung von Freiburg eine wichtige Bewegung entwickelte und wollten mitarbeiten.“ Das sollte sich jedoch ändern.
Städtische Feministinnen treffen auf Landfrauen
Als Teil einer Koalition verschiedener Bürger*inneninitiativen fuhren die Freiburger*innen im Herbst 1974 mindestens einmal pro Woche zu einem Treffen in einem der vom Bau des Kernkraftwerks betroffenen Dörfer.
Dabei stellte sich ihnen jedoch der Sexismus in den Weg: Die bislang gegründeten lokalen Bürger*inneninitiativen gegen das Atomkraftwerk waren sehr männerdominiert. Immer wieder wurden die Freiburgerinnen von den Männern als „fesche Polit-Miezen aus der Stadt“ bezeichnet. Die Frauen fanden einen Ausweg aus dieser patriarchalen Feindseligkeit, indem sie diese Räume mieden und mit Frauen zusammenzuarbeiten begannen.
Ein Impuls für diese Zusammenarbeit unter Frauen kam von der anderen Seite der Grenze, wo die Bevölkerung den Bau eines neuen Bleiwerks verhindern wollte: Im französischen Nachbarort Marckolsheim besetzen am 20. September 1974 einige hundert Menschen aus den umliegenden Dörfern beider Länder sowie Aktivist*innen, die von weither kamen, den Bauplatz des Bleiwerks.
Auf der Besetzung engagierten sich alle so, wie es ihnen am besten passte: Bauern und Bäuerinnen brachten Brennholz, Kartoffeln, Trauben oder Wein auf den Platz; Musiker*innen spielten ein Ständchen; elsässische Frauen übernahmen die Verpflegung.
Frauen spielten bei der Besetzung eine besonders wichtige Rolle. Sie waren jeden Tag auf dem Platz, nahmen ihre Kinder mit, arbeiteten zusammen, kochten gemeinsam, schwatzten. Der Strassburger Präfekt reagierte auf die Besetzung, indem er für die badischen Demonstrierenden die Grenzen schliessen liess.
Darauf antworteten vor allem weibliche Aktivistinnen, indem sie stundenlang den Grenzverkehr blockierten. „Während sich viele Männer abwartend und eher ‚anständig‘ verhielten“, erinnerten sich die Freiburger Feministinnen in ihrem Erfahrungsbericht, „stellten sich die Frauen in Gruppen auf die Brücken und schrien und schimpfen derart, dass die Grenze schliesslich für alle wieder geöffnet werden musste.“
In Marckolsheim wurde ein Platz für Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen geschaffen. In der Besetzung fielen private und öffentliche Sphäre zusammen. Die Gemeinschaftsküche wurde zum Ort, wo sich Frauen treffen konnten und – ohne mit ihrer gesellschaftlichen Rolle als Hausfrauen zu brechen – sich gegenseitig als politische Subjekte erfuhren. “Frauenzusammenarbeit”, wie die Freiburgerinnen es nannten, wurde nicht nur möglich, sondern notwendig.
„Elementare Sorge des Überlebens“
Nach dieser ersten Erfahrung der “Frauenzusammenarbeit” auf der Platzbesetzung in Marckolsheim trafen sich am 4. Oktober 1974 einige Frauen aus der Freiburger Initiative mit Frauen aus der Umgebung von Wyhl. Die Freiburgerinnen wollten sich über die negativen Erfahrungen in den männerdominierten Bürger*inneninitiativen gegen das Atomkraftwerk Wyhl austauschen. Ihnen wurde bald klar, dass sich ihre Anliegen massiv von denjenigen der Männer in den Bürger*inneninitiativen unterschieden.
Sie verglichen die Stimmung bei den männlich dominierten Bürgerinitiativen mit dem Umgang unter Frauen: „Dort Demonstration von Stärke oder Resignation, hier Äusserungen von persönlicher Betroffenheit, Angst, Hoffnung. Dort Interesse an Sachen und Sachzusammenhängen, hier Interesse an Personen. Dort Sorge um die landwirtschaftliche Existenz, hier die viel elementarere Sorge um das Überleben und die Gesundheit der Familienangehörigen.“
Die Frauen organisierten weitere Treffen, mobilisierten Frauen aus der ganzen Region gegen Atomkraft und industrielle Verschmutzung und bildeten gemeinsam die Badische Fraueninitiative. Dabei ging es ihnen nicht primär darum, gegen den Sexismus der Männer in den Bürger*inneninitiativen vorzugehen oder feministische Inhalte zu diskutieren. Ihr hauptsächliches Engagement galt nach wie vor der Gefahr der Atomkraft und der industriellen Verschmutzung.
Dabei schafften es die Freiburgerinnen – Frauen aus der Stadt – sich gemeinsam mit hunderten Frauen vom Land zu organisieren. Sie bauten eine Macht auf, indem sie auf den Alltag und die Lebenserfahrung von Frauen auf dem Land eingingen. Sie schufen einen Raum ausschliesslich für Frauen, der nicht von männlichen Strukturen und Vorstellungen geordnet wurde. Aus den Lebensrealitäten der Frauen als Mütter und Sorgearbeitende konzentrierte sich der Fokus auf “die viel elementarere Sorge des Überlebens” und insbesondere das Wohl der Kinder.
“Keine Frauenbewegung im üblichen Sinn”
All diese Erfahrungen schrieben die Freiburger Frauen für ihre Freundinnen aus Kaiseraugst auf. Doch aus Sicht der Schweizer Feministinnen war dieser Bericht womöglich enttäuschend. Denn die Freiburgerinnen unterstrichen, dass die Badische Fraueninitiative keine „Frauenbewegung im üblichen Sinn“ gewesen sei.
Tatsächlich sahen es nicht alle Feministinnen der damaligen Zeit gern, wenn Frauen als Mütter und Sorgearbeitende aktiv wurden. Frauen, so ein breit geteilter feministischer Konsens, hatten sich eher von ihrem Muttersein zu befreien, hatten den öffentlichen Raum als freie, selbstbestimmte Individuen einzunehmen.
Die badischen Frauen aber entwickelten ihre Argumente und Ziele gerade aus ihrer Lebensrealität als Mütter und Sorgearbeitende heraus. Anfängliche Selbstzweifel scheinen dabei durch eine kollektive Ermächtigung immer kleiner geworden zu sein: Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung, nur noch Frauen an Informationsveranstaltungen einzuladen, nachdem sich einer der zwei männlichen Referenten als “totaler Reinfall” und “langweilig” herausstellte.
Somit half der Rückgriff auf bestehende Geschlechterrollen und Lebensrealitäten nicht nur der ökologischen Bewegung, sondern brachte der Fraueninitiative schliesslich auch feministische Erkenntnisse wie die Macht der Frauen als Kollektiv und das Recht, sich am politischen Diskurs zu beteiligen.
„Ein nationaler und internationaler Präzedenzfall“
Vor allem aber war die Fraueninitiative erfolgreich. Der Bauplatz in Marckolsheim wurde über mehrere Monate besetzt, und die Baupläne für die Bleifabrik wurden noch im Jahr 1975 eingestellt. Kurz darauf besetzten Atomkraftgegner*innen ebenfalls den Bauplatz des Atomkraftwerks in Wyhl. Wie auch in Marckolsheim spielten die Frauen dabei eine tragende Rolle: Sie bewachten die Besetzung, während die Männer bei der Arbeit waren und stellten sich oft strategisch an die vorderste Front, um gegen die Polizei anzukommen. Das Bauvorhaben wurde schliesslich eingestellt.
Als erster Sieg gegen die Atomkraft erhielten die massenhaften Proteste in Wyhl grosse Aufmerksamkeit, sowohl lokal als auch international: „Wyhl ist ein nationaler und internationaler Präzedenzfall geworden“, schrieben die Freiburgerinnen in ihrem Bericht. Ein Erfolg, der die Umweltschutz- und Anti-Atombewegung stärkte und der ohne diese Frauen nicht möglich gewesen wäre.
Im Kampf gegen die Atomkraft entdeckten viele Frauen ihre politische Macht und versuchten, sich aus ihrer patriarchalen Lebensrealität zu befreien. Die badische Fraueninitiative ging von der direkten Betroffenheit der Frauen als Mütter und Sorgearbeitende aus, um den weiblichen Widerstand gegen Umweltzerstörung aufzubauen. Sie vereinten sich als Frauen oder Mütter, wenn auch nicht bewusst als Feminist*innen. Viele Frauen machten durch diese Bewegungen auch ihre ersten Erfahrungen mit politischem Aktivismus und wurden so über ökologische Anliegen hinaus politisiert. Dies unter anderem, weil sie viel Gegenwehr von Männern überwinden mussten, die die Ansicht vertraten, dass Frauen sich nicht in der Politik zu betätigen hätten.
Bis heute es ist bitter nötig, Feminismus und Klimaschutz zusammenzudenken: Die Klimakrise ist akuter denn je und betrifft Frauen, Lesben, inter, nicht binäre, trans und agender Personen (FLINTA) besonders stark. Laut den UN Women Deutschland sterben Frauen und Kinder bei Umweltkatastrophen 14-mal häufiger, weil sie aufgrund ihrer genderspezifischen Lebensumstände später gewarnt werden, seltener schwimmen können und sich auch auf der Flucht um Angehörige kümmern müssen.
Es ist daher wenig verwunderlich, dass immer mehr Initiativen ökologische Fragen mit feministischen Anliegen verbinden. Dabei könnte das Beispiel aus Marckolsheim und Wyhl lehrreich sein. Denn die dort engagierten Aktivist*innen haben gezeigt: Auch das lähmende Gefühl der Sorge um Mitmenschen kann ein Antrieb für den politischen Kampf sein.
Die Autor*innen studieren an der Universität Basel. Sie haben diesen Artikel im Rahmen eines Kurses über die Geschichte des Ökofeminismus im 20. und 21. Jahrhundert verfasst.
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