Es sind die immer gleichen Bilder, die nach der Openair-Saison für heisse Köpfe sorgen. Ganze Felder verwüstet von weggeworfenen Zelten, Bierdosen und Einweggrills. Obwohl viele Festivalveranstalter*innen gegen sie vorgehen wollen und Nachhaltigkeitsstrategien verfolgen: Die Abfallberge gehören zu den Festivals wie unappetitliche ToiToi-Toiletten und überteuerte Essensstände.
Während in den letzten Jahren die Festivalbesucher*innen für die Abfallberge verantwortlich gemacht wurden, muss dieses Jahr die Klimajugend – stellvertretend für alle jungen Menschen – den Kopf hinhalten. Der „Kreativchef“ einer Zürcher Kommunikationsagentur taufte die Klimajugend in der NZZ am Sonntag kurzerhand in die „verdammte Drecksjugend“ um. Auch in den Leserbriefspalten und Onlinekommentaren sind die Schuldigen schnell gefunden: die scheinheilige Klimajugend.
Das hat durchaus seine positiven Seiten. Die Jugendlichen vom Klimastreik haben das geschafft, was alle zivilgesellschaftlichen Bewegungen erreichen wollen – und so vielen nicht gelingt: Sie sind in aller Munde und haben ihr Thema in der Öffentlichkeit platziert. Das ist nicht nur ein subjektiver Eindruck. Laut der Schweizer Mediendatenbank kam 2018 der Begriff „Klimawandel“ 8’448 mal in den Artikeln der Schweizer Presse vor; im Jahr 2019 bereits über 13’000 mal. Kaum ein Tag geht vorbei, an dem nicht über die Wichtigkeit der Bewegung geschrieben wird. Keine Meinungsseite, auf welcher nicht irgendjemand zu den neusten Forderungen der Bewegung Stellung nimmt.
Diese Leistung darf nicht unterschätzt werden. Für zivilgesellschaftliche Bewegungen ist es schwierig, Öffentlichkeit herzustellen, also in die Berichterstattung der Medien aufgenommen zu werden. Vor allem für eine Bewegung wie die Klimajugend, die keine berühmten Gesichter in ihren Reihen hat und ein globales, komplexes und umfassendes Thema anspricht. Hilfreich ist höchstens, dass die Schweiz zum wiederholten Mal Rekordtemperaturen verzeichnet.
Nüchterne Klimajugend, aufgeschreckte SVP
Was auffällt: Trotz dieser schwierigen Voraussetzungen agieren die Jugendlichen der Klimabewegung weder stur ideologisch noch realitätsfern. Eigentlich sind reisserische Forderungen und provokative Aktionen ein probates Mittel von zivilgesellschaftlichen Akteuren, Aufmerksamkeit zu generieren. Die Klimajugend verzichtet grösstenteils darauf. Die Demonstrationen sind friedlich, die politischen Forderungen sind klar formuliert und orientieren sich am wissenschaftlich gestützten Pariser Abkommen, das auch die Schweiz ratifiziert hat. Die Forderungen, welche die Klimastreikenden an den Schweizer Finanzplatz stellen, ergeben sich aus den Erkenntnissen, die aus einer Studie des Bundesamts für Umwelt aus dem Jahr 2015 hervorgehen: „Mit seinen Investitionen in die globalen Finanzmärkte unterstützt der Finanzplatz Schweiz so ein globales Klimawandelszenario von 4 bis 6 Grad Celsius.“ Wer die oft nüchternen und gar technischen Forderungen der Jugendlichen etwa mit dem aufgeschreckten und schizophrenen Klimadiskurs der SVP vergleicht, darf sich ruhig fragen, wer hier den demokratischen Auftrag zur politischen Problemlösung erhalten hat – und wer lediglich nach Aufmerksamkeit lechzt.
Aber nicht nur der Vergleich mit der SVP bietet sich an, sondern auch ein Blick auf die andere grosse zivilgesellschaftliche Bewegung, welche die Schweiz seit bald 5 Jahren umtreibt: die Operation Libero. Sie wurde 2014 gegründet und trat mit ihrem Einsatz gegen die Durchsetzungsinitiative zum ersten Mal so richtig in Erscheinung. Seitdem hat sie an einigen erfolgreichen Kampagnen mitgewirkt, etwa bei der No-Billag-Abstimmung. Immer mit eigenem Auftritt, inhaltlich aber oft identisch mit den etablierten Parteien und Organisationen.
Zwischen den beiden zivilgesellschaftlichen Bewegungen gibt es einen auffallenden und entscheidenden Unterschied: Die Operation Libero reitet weiterhin auf einer Welle von Vorschusslorbeeren, obwohl sie inhaltlich kaum eigenständige Positionen vertritt. Die Jugendlichen vom Klimastreik auf der anderen Seite werden zwar ebenfalls medial thematisiert, in den Leitartikeln, Kommentaren und Feuilletons wird ihnen aber immer mehr Verantwortung aufgebürdet. Wer sich die Forderung an die Klimastreikenden durchliest, wird den Eindruck nicht los, dass hier das Fuder überladen werden soll. Oder wie soll man sich erklären, dass die Klimajugend nicht nur die atomare Abrüstung in ihre politischen Forderungen aufnehmen, sondern auch noch endlich gegen all die Abfallberge an den Festivals und gegen Billigflüge vorgehen soll? Gleichzeitig soll sie sich aber auch noch von den immer gleichen Expert*innen und Thinktanks belehren lassen und sich von allen Organisationen distanzieren, welche die Journalist*innen als zu radikal empfinden.
Wo hingegen bleiben die Interviews, die Flavia Kleiner endlich auf eine Definition des Begriffs „Chancenland“ festmachen? Wo bleiben die Kommentare, die von der Operation Libero nicht nur eine greifbare und breit abgestützte Lösung für das Rahmenabkommen, sondern auch gleich die Lösung aller Probleme der EU fordern? Wo bleiben die Journalist*innen, die von der Operation Libero eine unmissverständliche Distanzierung von der radikal neo-liberalen Lobbyorganisation Economiesuisse verlangen?
Bei der Klimajugend hingegen scheint man zumindest auf solchen Forderungen zu beharren: ideologiefreie, überparteiliche und gesellschaftsfähige Lösungen für das grösste Problem der Menschheit, während sie gleichzeitig in allen Lebensbereichen konsequent nachhaltig handeln soll. Kurzum: Die Klimajugend soll für das Scheitern der Politik und Wirtschaft geradestehen. Alles andere wäre scheinheilig, heisst es von denjenigen, die einen grossen Teil der Probleme mitzuverantworten haben. Wenn sie dieser aufgebauschten Verantwortung nicht gerecht wird oder – weiss Gott – gar zivilen Ungehorsam anwendet, dichten ihr die gleichen Medienhäuser eine Legitimationskrise an und fürchten bereits einen drohenden Ökosozialismus.
Wie lässt sich diese Ungleichbehandlung erklären? Mit ihren klar umrissenen und kompromisslosen Forderungen stellen die Klimastreikenden tatsächlich eine Herausforderung für die Politik und das Wirtschaftssystem dar. Die Operation Libero mit ihrem bis anhin inhaltsleeren Vokabular aus „Chancenland“ und „zukunftgerichtetem Wandel“ dagegen eher weniger.
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