„Mit einer Änderung der CO2-Verordnung soll […] sichergestellt werden, dass die Reservekraftwerke dem Emissionshandelssystem unterstellt sind.“ Das versprach der Bundesrat und stellt sich damit in ein scheinbar gutes Klimalicht. Wenn wir schon ins fossile Zeitalter zurückfallen, so die Landesregierung, sorgen wir wenigstens dafür, dass für die zukünftigen CO2-Schleudern strenge Klimaregularien gelten. Richtig? Leider nein.
Stattdessen zeigt der Bund einmal mehr, dass er im Kampf gegen die Klimakrise lieber auf schön klingende Worte und grossmäulige Versprechen setzt, anstatt auf tatsächlich griffige Massnahmen. Im Zentrum dieser bundesrätlichen PR-Gefechte steht nicht selten die Allzweckwaffe Emissionshandelssystem (EHS). Ein System, dass so verwirrend aufgebaut ist, dass es kaum noch jemand durchschaut. Wer es durchschaut, erkennt, dass seine primäre Rolle wohl darin besteht, einen guten Eindruck zu hinterlassen, während es eigentlich Klimasünder*innen mit Samthandschuhen anfasst. Die Kommunikation zu den geplanten Reservekraftwerken zeigt das exemplarisch.
Zunächst mit der erstaunlichen Ankündigung des Bundesrats, die CO2-Verordnung ändern zu wollen, um die Reservekraftwerke dem EHS zu unterstellen. Erstaunlich ist das insofern, als die neuen Reservekraftwerke sowieso schon dem EHS unterstellt wären. Dies regelt der Anhang 6 der CO2-Verordnung: Anlagen, die fossile Energieträger verbrennen und eine Gesamtfeuerungswärmeleistung von über 20 Megawatt (MW) haben, müssen am EHS teilnehmen. Auf Anfrage teilt uns das zuständige Bundesamt für Umwelt (BAFU) mit, dass die Anlagen, für welche bereits Kaufverträge vorliegen, die Schwelle von 20 MW mit Sicherheit übersteigen werden.
Im EHS abrechnen zu können, ist ein Privileg
Je nachdem, wie viel CO2 die zukünftigen Reservekraftwerke dann tatsächlich verursachen, hätten sie aber die Möglichkeit, freiwillig aus dem EHS auszutreten. Einen solchen „Opt-Out“ können Anlagenbetreiber*innen beantragen, deren Kraftwerke weniger als 25’000 Tonnen CO2 pro Jahr emittieren (Art. 41 CO2-Verordnung). „Für Reservekraftwerke soll es diese Möglichkeit nicht geben“, schreibt das BAFU auf Anfrage. Das war also gemeint mit der vollmundigen Ankündigung, die CO2-Verordnung anpassen zu wollen. Für die fossilen Kraftwerke soll es keine Hintertür raus aus dem EHS geben. Nur: Durch diese Türe wären sie wahrscheinlich sowieso nicht gegangen.
Wieso auch? Wenn Anlagen oder Firmen die CO2-Kosten unter dem EHS abrechnen, wird ihnen damit nicht etwa etwas aufgebrummt, im Gegenteil: Das EHS ist eine Erleichterung. Und zwar aus zwei Gründen.
Erstens ist es ja nicht so, dass man ausserhalb des Emissionshandels nichts für die Klimagase aus fossilen Brennstoffen bezahlen muss. Auch Unternehmen, die nicht dem EHS unterstellt sind, zahlen für ihre CO2-Emissionen und zwar über die CO2-Abgabe. Diese ist teurer als die Preise, die im EHS zu berappen sind. Momentan zahlen Unternehmen, die ihre Klimarechnung nicht im EHS begleichen dürfen, über die CO2-Abgabe 120.- CHF pro Tonne CO2. Die CO2-Preise im EHS variieren zwar, haben aber den Preis der CO2-Abgabe bisher noch nie überschritten. Momentan liegt der Preis im EHS bei rund 70.- CHF pro Tonne CO2.
Zweitens erhält man je nach Tätigkeitsbereich im EHS auch noch den Anspruch auf staatliche Unterstützung in Form von Gratiszertifikaten. Nachteile entstehen für die dem EHS unterstellten Firmen keine.
Für jede Tonne CO2, die eine Firma im EHS ausstossen will, muss sie über ein Zertifikat verfügen. Die Zertifikate sind also Emissionsrechte. Gleichzeitig gibt es nur eine bestimmte Menge an Zertifikaten und diese Menge, der sogenannte Cap, wird nach und nach gesenkt. Durch diese Verknappung soll der Preis der Zertifikate steigen. Die Zertifikate kann man auf zwei Arten erhalten. Entweder man kauft sie oder man kriegt sie geschenkt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verteilt jedes Jahr eine grosse Menge an Gratiszertifikaten an die Schweizer EHS-Firmen.
Wer darf beim EHS mitmachen?
Grundsätzlich sind im EHS Firmen aus den Branchen mit den höchsten Treibhausgasemissionen vertreten. Dabei gibt es solche, die beim EHS mitmachen „müssen“, weil sie im Anhang 6 der CO2-Verordnung stehen. Auf dieser Liste ist zum Beispiel die Metall- oder die Zementindustrie. Wobei dieses „müssen“ zu Missverständnissen führen kann, denn die Firmen werden hier zu etwas gezwungen, dass ihnen bis jetzt vor allem Vorteile verschafft hat.
Hinzu kommen Branchen, die freiwillig beim EHS mitmachen können. Wer genau – das regelt der Anhang 7 der CO2-Verordnung. Dazu gehören etwa die Chemie‑, die Papier- und die Holzindustrie. Firmen, die nicht im EHS mitmachen dürfen, zahlen für jede Tonne emittiertes CO2 eine Lenkungsabgabe von 120.- CHF.
Wie wird bestimmt, wie viele Gratiszertifikate es gibt?
Die Anzahl Gratiszertifikate, die eine Firma erhält, ist von zwei Faktoren abhängig. Erstens erhalten Firmen, die bereits eine gute CO2-Bilanz haben, mehr Gratiszertifikate. Da der Schweizer Emissionshandel Anfang 2020 mit dem EHS der EU zusammengeschlossen wurde, orientiert sich das BAFU hier an Bezugswerten aus der EU, den sogenannten Benchmarks. Diese werden anhand der besten, also treibhausgaseffizientesten 10 % aller EU-Betriebe berechnet und für jede Branche einzeln gesetzt. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Auch Anlagen, die in diesem Ranking zu den besten zählen, emittieren immer noch Unmengen an Klimagasen.
Zweitens erhalten Firmen, die für ihre Produkte den sogenannten Carbon-Leakage-Status erhalten, eine grosszügigere Zuteilung von Gratiszertifikaten. Von Carbon-Leakage spricht man dann, wenn sich Klimagasemissionen wegen hoher, staatlich verschriebener Klimakosten in ein anderes Land verschieben. Die zusätzlichen Gartiszertifikate sollen verhindern, dass die Emissionen in Länder ausgelagert werden, in denen weniger strenge Klimaregeln gelten.
In der Handelsperiode von 2013 bis 2020 mussten Firmen im EHS total 39 Millionen Zertifikate abgeben. 38 Millionen wurden gratis vom BAFU verteilt. Viele Schweizer EHS-Firmen haben deshalb eine beträchtliche Menge Zertifikate für die kommenden Jahre beiseitelegen können, was die Wirkung des EHS langfristig abschwächt.
Die Schweizer EHS-Firmen erhalten über die CO2-Abgabe Geld. Wie geht das?
Grundsätzlich gelten im Schweizer EHS dieselben Regeln wie im europäischen EHS. Da in der Schweiz aber andere Rahmenbedingungen herrschen, gibt es einige wichtige Unterschiede. Einer davon: Über die Rückverteilung der CO2-Lenkungsabgabe werden die EHS-Firmen in der Schweiz ein zweites Mal subventioniert. Denn obwohl die EHS-Firmen keine CO2-Abgabe bezahlen, erhalten sie bei der Rückverteilung der Abgabe gleichviel Geld wie diejenigen Firmen, die diese CO2-Abgabe tatsächlich entrichtet haben.
Aus den genannten Gründen ist es also keineswegs so, dass Anlagen, die unter die Marke von 25’000 Tonnen CO2 pro Jahr fallen, den EHS fluchtartig verlassen würden. 2021 haben von den 95 Schweizer EHS-Firmen 68 weniger als 25’000 Tonnen CO2 ausgestossen und hätten dementsprechend theoretisch aus dem EHS austreten können – doch das lohnt sich nicht.
Und auch aus den Branchen, die sich freiwillig unter das EHS begeben können, kamen auf den Start der neuen Handelsperiode hin einige Firmen neu dazu. Zum Beispiel der Holzverarbeiter Swiss Krono mit rund 11’000 Tonnen CO2-Ausstoss, oder die Milchverarbeiterin Emmi AG mit rund 20’000 Tonnen pro Jahr. So ungemütlich kann es im EHS also nicht sein.
Auch Anlagen unter dem Schwellenwert bleiben im EHS
Diesen Verdacht bestätigt eine exemplarische Nachfrage bei Entsorgung + Recycling Zürich (ERZ). ERZ betreibt mehrere fossile Wärmeanlagen, die ihre Klimakosten im EHS abrechnen. Zwei davon verursachten in den vergangenen Jahren jeweils weniger als 25’000 Tonnen CO2 und hätten das EHS dementsprechend schon längst verlassen können.
Auf die Frage, weshalb man nicht zum Opt-Out gegriffen hat, antwortet uns Mediensprecher Daniel Eberhard, dass man „im Interesse der Kundschaft die preisgünstigere Variante gewählt“ habe. Zudem hätte man bei einem Ausstieg der emissionsärmeren Anlagen aus dem EHS zwei unterschiedlich funktionierende Verrechnungssysteme bewirtschaften müssen, weil die ausgetretenen Heizanlagen automatisch dem CO2-Abgabe-System unterstellt würden. Dies hätte einen zusätzlichen administrativen Mehraufwand mit sich gebracht, so Mediensprecher Eberhard.
Diese Frage ist nicht klar mit Ja oder Nein zu beantworten. Stellt man sich unter „kompensieren“ vor, dass die Betreiber*innen des Kraftwerks gezielt dafür sorgen, dass irgendwo anders Emissionen verhindert oder Bäume gepflanzt werden, lautet die Antwort Nein. Das Bundesamt für Umwelt spricht trotzdem davon, dass die Emissionen der zukünftigen Reservekraftwerke kompensiert würden. Und zwar über das EHS: „Die Kompensation findet innerhalb des Systems statt, weil die Anzahl Emissionsrechte beschränkt ist und wegen der Reservekraftwerke nicht angehoben wird. Die Emissionen bleiben daher gleich hoch.“ Sprich: Rein theoretisch müssen die neu dazu kommenden Kraftwerksemissionen irgendwo anders im EHS eingespart werden – einfach, weil es nur eine beschränkt Anzahl Zertifikate gibt. Wo, wann und wie diese „Kompensationen“ geschehen werden, kann aber niemand wissen. Das Vertrauen in die unsichtbare Hand des Marktes scheint bei der Schweizer Regierung gross zu sein.
Theoretisch sind auch Gratiszertifikate möglich
Wie hoch die Klimarechnung unter dem EHS für die Reservekraftwerke schlussendlich wirklich ausfallen wird, ist vor allem von einer Frage abhängig: Werden die Kraftwerksbetreiber*innen Gratiszertifikate erhalten? Momentan überweist das BAFU an fast alle Anlagen im EHS Gratiszertifikate. Manchen mehr, anderen weniger. Nicht wenige Anlagen im EHS erhalten vom Bund sogar mehr Zertifikate, als sie tatsächlich brauchen.
Ob zukünftige Reservekraftwerke auch auf diese Weise vom Bund unterstützt werden, ist noch offen. Zudem fehlen Erfahrungswerte, da bis jetzt in der Schweiz keine fossilen Stromproduzent*innen dem EHS unterstellt sind. Grundsätzlich gibt es für die Erzeugung von Elektrizität gemäss Art. 19 Abs. 4 des CO2-Gesetzes keine kostenlose Zuteilung von Emissionsrechten. Aber der Artikel 19 Absatz 4 hat eben auch noch einen zweiten Satz und der lautet: „Der Bundesrat kann Ausnahmen vorsehen.“
Die Frage, ob eine drohende Strommangellage eine solche bundesrätliche Ausnahme rechtfertigen würde, verneint das BAFU zuerst klar. Aber auch hier gilt einmal mehr: Bei genauerem Hinsehen verbirgt sich hinter der scheinbar klaren Kommunikation zugunsten von mehr Klimaschutz eine doch deutlich weniger klare Linie.
Denn die Studie „Spitzenlast-Kraftwerk“ der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (EICom) vom November 2021 kommt diesbezüglich zu einem anderen Schluss und schreibt: „Eine kostenlose Zuteilung von Emissionsrechten wäre grundsätzlich gemäss Art. 19 CO2-Gesetz möglich.“ (Seite 137). Die Frage, weshalb die Aussage des BAFUs nicht mit dem Expert*innenbericht der ElCom übereinstimmt, beantwortet das Bundesamt ausweichend und bürokratisch: „Art. 19 delegiert die Kompetenz an den Bundesrat, Ausnahmen vorzusehen.“
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