Klima­re­geln für Reser­ve­kraft­werke: Der Bund verkauft sich besser, als er ist

Der Bund hat den Bau von Reser­ve­kraft­werken beschlossen. Betrieben werden sollen sie dereinst mit fossilen Ener­gie­trä­gern. Die Kraft­werke werden so zu Klima­gas­schleu­dern. Der Bundesrat beschwich­tigt mit frag­wür­digen Massnahmen. 
Oft wird die Teilnahme am Emissionshandelssystem (EHS) als Bürde dargestellt – dabei ist es ein Privileg, wenn man seine Klimakosten im EHS abrechnen darf. (Illustration: Anna Egli)

„Mit einer Ände­rung der CO2-Verord­nung soll […] sicher­ge­stellt werden, dass die Reser­ve­kraft­werke dem Emis­si­ons­han­dels­sy­stem unter­stellt sind.“ Das versprach der Bundesrat und stellt sich damit in ein scheinbar gutes Klima­licht. Wenn wir schon ins fossile Zeit­alter zurück­fallen, so die Landes­re­gie­rung, sorgen wir wenig­stens dafür, dass für die zukünf­tigen CO2-Schleu­dern strenge Klima­re­gu­la­rien gelten. Richtig? Leider nein.

Statt­dessen zeigt der Bund einmal mehr, dass er im Kampf gegen die Klima­krise lieber auf schön klin­gende Worte und gross­mäu­lige Verspre­chen setzt, anstatt auf tatsäch­lich grif­fige Mass­nahmen. Im Zentrum dieser bundes­rät­li­chen PR-Gefechte steht nicht selten die Allzweck­waffe Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EHS). Ein System, dass so verwir­rend aufge­baut ist, dass es kaum noch jemand durch­schaut. Wer es durch­schaut, erkennt, dass seine primäre Rolle wohl darin besteht, einen guten Eindruck zu hinter­lassen, während es eigent­lich Klimasünder*innen mit Samt­hand­schuhen anfasst. Die Kommu­ni­ka­tion zu den geplanten Reser­ve­kraft­werken zeigt das exemplarisch.

Zunächst mit der erstaun­li­chen Ankün­di­gung des Bundes­rats, die CO2-Verord­nung ändern zu wollen, um die Reser­ve­kraft­werke dem EHS zu unter­stellen. Erstaun­lich ist das inso­fern, als die neuen Reser­ve­kraft­werke sowieso schon dem EHS unter­stellt wären. Dies regelt der Anhang 6 der CO2-Verord­nung: Anlagen, die fossile Ener­gie­träger verbrennen und eine Gesamt­feue­rungs­wär­me­lei­stung von über 20 Mega­watt (MW) haben, müssen am EHS teil­nehmen. Auf Anfrage teilt uns das zustän­dige Bundesamt für Umwelt (BAFU) mit, dass die Anlagen, für welche bereits Kauf­ver­träge vorliegen, die Schwelle von 20 MW mit Sicher­heit über­steigen werden.

Im EHS abrechnen zu können, ist ein Privileg

Je nachdem, wie viel CO2 die zukünf­tigen Reser­ve­kraft­werke dann tatsäch­lich verur­sa­chen, hätten sie aber die Möglich­keit, frei­willig aus dem EHS auszu­treten. Einen solchen „Opt-Out“ können Anlagenbetreiber*innen bean­tragen, deren Kraft­werke weniger als 25’000 Tonnen CO2 pro Jahr emit­tieren (Art. 41 CO2-Verord­nung). „Für Reser­ve­kraft­werke soll es diese Möglich­keit nicht geben“, schreibt das BAFU auf Anfrage. Das war also gemeint mit der voll­mun­digen Ankün­di­gung, die CO2-Verord­nung anpassen zu wollen. Für die fossilen Kraft­werke soll es keine Hintertür raus aus dem EHS geben. Nur: Durch diese Türe wären sie wahr­schein­lich sowieso nicht gegangen.

Wieso auch? Wenn Anlagen oder Firmen die CO2-Kosten unter dem EHS abrechnen, wird ihnen damit nicht etwa etwas aufge­brummt, im Gegen­teil: Das EHS ist eine Erleich­te­rung. Und zwar aus zwei Gründen.

Erstens ist es ja nicht so, dass man ausser­halb des Emis­si­ons­han­dels nichts für die Klima­gase aus fossilen Brenn­stoffen bezahlen muss. Auch Unter­nehmen, die nicht dem EHS unter­stellt sind, zahlen für ihre CO2-Emis­sionen und zwar über die CO2-Abgabe. Diese ist teurer als die Preise, die im EHS zu berappen sind. Momentan zahlen Unter­nehmen, die ihre Klima­rech­nung nicht im EHS beglei­chen dürfen, über die CO2-Abgabe 120.- CHF pro Tonne CO2. Die CO2-Preise im EHS vari­ieren zwar, haben aber den Preis der CO2-Abgabe bisher noch nie über­schritten. Momentan liegt der Preis im EHS bei rund 70.- CHF pro Tonne CO2.

Zwei­tens erhält man je nach Tätig­keits­be­reich im EHS auch noch den Anspruch auf staat­liche Unter­stüt­zung in Form von Gratis­zer­ti­fi­katen. Nach­teile entstehen für die dem EHS unter­stellten Firmen keine.

Für jede Tonne CO2, die eine Firma im EHS ausstossen will, muss sie über ein Zerti­fikat verfügen. Die Zerti­fi­kate sind also Emis­si­ons­rechte. Gleich­zeitig gibt es nur eine bestimmte Menge an Zerti­fi­katen und diese Menge, der soge­nannte Cap, wird nach und nach gesenkt. Durch diese Verknap­pung soll der Preis der Zerti­fi­kate steigen. Die Zerti­fi­kate kann man auf zwei Arten erhalten. Entweder man kauft sie oder man kriegt sie geschenkt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verteilt jedes Jahr eine grosse Menge an Gratis­zer­ti­fi­katen an die Schweizer EHS-Firmen.

Wer darf beim EHS mitmachen?

Grund­sätz­lich sind im EHS Firmen aus den Bran­chen mit den höch­sten Treib­haus­gas­emis­sionen vertreten. Dabei gibt es solche, die beim EHS mitma­chen „müssen“, weil sie im Anhang 6 der CO2-Verord­nung stehen. Auf dieser Liste ist zum Beispiel die Metall- oder die Zement­in­du­strie. Wobei dieses „müssen“ zu Miss­ver­ständ­nissen führen kann, denn die Firmen werden hier zu etwas gezwungen, dass ihnen bis jetzt vor allem Vorteile verschafft hat.

Hinzu kommen Bran­chen, die frei­willig beim EHS mitma­chen können. Wer genau – das regelt der Anhang 7 der CO2-Verord­nung. Dazu gehören etwa die Chemie‑, die Papier- und die Holz­in­du­strie. Firmen, die nicht im EHS mitma­chen dürfen, zahlen für jede Tonne emit­tiertes CO2 eine Lenkungs­ab­gabe von 120.- CHF.

Wie wird bestimmt, wie viele Gratis­zer­ti­fi­kate es gibt?

Die Anzahl Gratis­zer­ti­fi­kate, die eine Firma erhält, ist von zwei Faktoren abhängig. Erstens erhalten Firmen, die bereits eine gute CO2-Bilanz haben, mehr Gratis­zer­ti­fi­kate. Da der Schweizer Emis­si­ons­handel Anfang 2020 mit dem EHS der EU zusam­men­ge­schlossen wurde, orien­tiert sich das BAFU hier an Bezugs­werten aus der EU, den soge­nannten Bench­marks. Diese werden anhand der besten, also treib­haus­gas­ef­fi­zi­en­te­sten 10 % aller EU-Betriebe berechnet und für jede Branche einzeln gesetzt. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Auch Anlagen, die in diesem Ranking zu den besten zählen, emit­tieren immer noch Unmengen an Klimagasen.

Zwei­tens erhalten Firmen, die für ihre Produkte den soge­nannten Carbon-Leakage-Status erhalten, eine gross­zü­gi­gere Zutei­lung von Gratis­zer­ti­fi­katen. Von Carbon-Leakage spricht man dann, wenn sich Klima­gas­emis­sionen wegen hoher, staat­lich verschrie­bener Klima­ko­sten in ein anderes Land verschieben. Die zusätz­li­chen Gartis­zer­ti­fi­kate sollen verhin­dern, dass die Emis­sionen in Länder ausge­la­gert werden, in denen weniger strenge Klima­re­geln gelten.

In der Handel­s­pe­riode von 2013 bis 2020 mussten Firmen im EHS total 39 Millionen Zerti­fi­kate abgeben. 38 Millionen wurden gratis vom BAFU verteilt. Viele Schweizer EHS-Firmen haben deshalb eine beträcht­liche Menge Zerti­fi­kate für die kommenden Jahre beisei­te­legen können, was die Wirkung des EHS lang­fri­stig abschwächt.

Die Schweizer EHS-Firmen erhalten über die CO2-Abgabe Geld. Wie geht das?

Grund­sätz­lich gelten im Schweizer EHS dieselben Regeln wie im euro­päi­schen EHS. Da in der Schweiz aber andere Rahmen­be­din­gungen herr­schen, gibt es einige wich­tige Unter­schiede. Einer davon: Über die Rück­ver­tei­lung der CO2-Lenkungs­ab­gabe werden die EHS-Firmen in der Schweiz ein zweites Mal subven­tio­niert. Denn obwohl die EHS-Firmen keine CO2-Abgabe bezahlen, erhalten sie bei der Rück­ver­tei­lung der Abgabe gleich­viel Geld wie dieje­nigen Firmen, die diese CO2-Abgabe tatsäch­lich entrichtet haben.

Aus den genannten Gründen ist es also keines­wegs so, dass Anlagen, die unter die Marke von 25’000 Tonnen CO2 pro Jahr fallen, den EHS flucht­artig verlassen würden. 2021 haben von den 95 Schweizer EHS-Firmen 68 weniger als 25’000 Tonnen CO2 ausge­stossen und hätten dementspre­chend theo­re­tisch aus dem EHS austreten können – doch das lohnt sich nicht.

Und auch aus den Bran­chen, die sich frei­willig unter das EHS begeben können, kamen auf den Start der neuen Handel­s­pe­riode hin einige Firmen neu dazu. Zum Beispiel der Holz­ver­ar­beiter Swiss Krono mit rund 11’000 Tonnen CO2-Ausstoss, oder die Milch­ver­ar­bei­terin Emmi AG mit rund 20’000 Tonnen pro Jahr. So unge­müt­lich kann es im EHS also nicht sein.

Auch Anlagen unter dem Schwel­len­wert bleiben im EHS

Diesen Verdacht bestä­tigt eine exem­pla­ri­sche Nach­frage bei Entsor­gung + Recy­cling Zürich (ERZ). ERZ betreibt mehrere fossile Wärme­an­lagen, die ihre Klima­ko­sten im EHS abrechnen. Zwei davon verur­sachten in den vergan­genen Jahren jeweils weniger als 25’000 Tonnen CO2 und hätten das EHS dementspre­chend schon längst verlassen können.

Auf die Frage, weshalb man nicht zum Opt-Out gegriffen hat, antwortet uns Medi­en­spre­cher Daniel Eber­hard, dass man „im Inter­esse der Kund­schaft die preis­gün­sti­gere Vari­ante gewählt“ habe. Zudem hätte man bei einem Ausstieg der emis­si­ons­är­meren Anlagen aus dem EHS zwei unter­schied­lich funk­tio­nie­rende Verrech­nungs­sy­steme bewirt­schaften müssen, weil die ausge­tre­tenen Heiz­an­lagen auto­ma­tisch dem CO2-Abgabe-System unter­stellt würden. Dies hätte einen zusätz­li­chen admi­ni­stra­tiven Mehr­auf­wand mit sich gebracht, so Medi­en­spre­cher Eberhard.

Diese Frage ist nicht klar mit Ja oder Nein zu beant­worten. Stellt man sich unter „kompen­sieren“ vor, dass die Betreiber*innen des Kraft­werks gezielt dafür sorgen, dass irgendwo anders Emis­sionen verhin­dert oder Bäume gepflanzt werden, lautet die Antwort Nein. Das Bundesamt für Umwelt spricht trotzdem davon, dass die Emis­sionen der zukünf­tigen Reser­ve­kraft­werke kompen­siert würden. Und zwar über das EHS: „Die Kompen­sa­tion findet inner­halb des Systems statt, weil die Anzahl Emis­si­ons­rechte beschränkt ist und wegen der Reser­ve­kraft­werke nicht ange­hoben wird. Die Emis­sionen bleiben daher gleich hoch.“ Sprich: Rein theo­re­tisch müssen die neu dazu kommenden Kraft­werk­se­mis­sionen irgendwo anders im EHS einge­spart werden – einfach, weil es nur eine beschränkt Anzahl Zerti­fi­kate gibt. Wo, wann und wie diese „Kompen­sa­tionen“ geschehen werden, kann aber niemand wissen. Das Vertrauen in die unsicht­bare Hand des Marktes scheint bei der Schweizer Regie­rung gross zu sein.

Theo­re­tisch sind auch Gratis­zer­ti­fi­kate möglich

Wie hoch die Klima­rech­nung unter dem EHS für die Reser­ve­kraft­werke schluss­end­lich wirk­lich ausfallen wird, ist vor allem von einer Frage abhängig: Werden die Kraftwerksbetreiber*innen Gratis­zer­ti­fi­kate erhalten? Momentan über­weist das BAFU an fast alle Anlagen im EHS Gratis­zer­ti­fi­kate. Manchen mehr, anderen weniger. Nicht wenige Anlagen im EHS erhalten vom Bund sogar mehr Zerti­fi­kate, als sie tatsäch­lich brauchen.

Ob zukünf­tige Reser­ve­kraft­werke auch auf diese Weise vom Bund unter­stützt werden, ist noch offen. Zudem fehlen Erfah­rungs­werte, da bis jetzt in der Schweiz keine fossilen Stromproduzent*innen dem EHS unter­stellt sind. Grund­sätz­lich gibt es für die Erzeu­gung von Elek­tri­zität gemäss Art. 19 Abs. 4 des CO2-Gesetzes keine kosten­lose Zutei­lung von Emis­si­ons­rechten. Aber der Artikel 19 Absatz 4 hat eben auch noch einen zweiten Satz und der lautet: „Der Bundesrat kann Ausnahmen vorsehen.“

Die Frage, ob eine drohende Strom­man­gel­lage eine solche bundes­rät­liche Ausnahme recht­fer­tigen würde, verneint das BAFU zuerst klar. Aber auch hier gilt einmal mehr: Bei genauerem Hinsehen verbirgt sich hinter der scheinbar klaren Kommu­ni­ka­tion zugun­sten von mehr Klima­schutz eine doch deut­lich weniger klare Linie.

Denn die Studie „Spit­zen­last-Kraft­werk“ der Eidge­nös­si­schen Elek­tri­zi­täts­kom­mis­sion (EICom) vom November 2021 kommt dies­be­züg­lich zu einem anderen Schluss und schreibt: „Eine kosten­lose Zutei­lung von Emis­si­ons­rechten wäre grund­sätz­lich gemäss Art. 19 CO2-Gesetz möglich.“ (Seite 137). Die Frage, weshalb die Aussage des BAFUs nicht mit dem Expert*innenbericht der ElCom über­ein­stimmt, beant­wortet das Bundesamt auswei­chend und büro­kra­tisch: „Art. 19 dele­giert die Kompe­tenz an den Bundesrat, Ausnahmen vorzusehen.“


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