„Liebes Arschloch“ von Virginie Despentes. Ein Tipp von Mara Haas.
„Liebes Arschloch“ schreibt Rebecca Latté an Oscar. Dieser hat davor einen sexistischen und derben Instabeitrag über sie veröffentlicht. Darauf geraten die erfolgreiche Schauspiel-Diva über fünfzig und der eine Midlife-Crisis erlebende Schriftsteller via Mail ins Gespräch. Oscar und Rebecca chatten über MeToo (Oscar hat eine ehemalige Verlagsmitarbeiterin sexuell belästigt), über (Selbst-)Hass, über Drogenprobleme und ‑politik und übers Altern.
Die französische Feministin Virgine Despentes lässt die Wut aus ihren Hauptfiguren sprechen, zeichnet sie aber auch verletzlich. Sie schreibt witzig, mit ehrlichen Worten und verhandelt dabei feministische Debatten von heute mit Klassenbewusstsein.
PS: Ihr habt nach der Lektüre noch nicht genug von Despentes? Dann lest ihr feministisches Manifest „King Kong Theorie“.
Virginie Despentes: Liebes Arschloch. Übersetzt von: Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. Kiepenheuer&Witsch, 2023. Jetzt bei der Paranoia City Buchhandlung bestellen.
„Kangal“ von Anna Yeliz Schentke. Ein Tipp von Anina Ritscher.
Kennt das Regime meinen Namen schon? Wissen sie über meine politische Haltung Bescheid? Kommen sie mich bald holen? „Kangal“ von Anna Yeliz Schentke beschreibt einen Zustand, der kritischen Menschen in der Türkei allzu gut bekannt ist. Es ist der Zustand der ständigen Ungewissheit. Die Angst, in den Fokus der Behörden geraten zu sein auf der einen Seite. Das Gefühl zu übertreiben auf der anderen: Mich wird schon niemand verraten – oder doch? Das Regime interessiert sich doch gar nicht für mich – oder doch? Die Antwort liefert erst die Verhaftung – es sei denn, man flieht noch vorher, wie die Protagonistin.
Den Zwischenraum beschreibt die Autorin eindringlich mit einer Sprache, die sich auf das Wesentliche konzentriert. Dabei kontrastiert sie die Angespanntheit der jungen Widerständigen in der Türkei mit dem romantisierten Bild des Landes einer jungen Deutschen mit türkischen Eltern. Ferienselfies aus Bodrum im rot-weissen Tanktop stehen panischen Verfolgungsjagden durch Istanbuls Innenstadt gegenüber. Das Buch hat seit dem Erscheinen vor zwei Jahren nichts an Aktualität eingebüsst, sondern wurde im Gegenteil noch dringlicher.
Anna Yeliz Schentke. Kangal. S. Fischer, 2022. Jetzt bei der Paranoia City Buchhandlung bestellen.
„Superyachten: Luxus und Stille im Kapitalozän“ von Grégory Salle. Ein Tipp von Alain Schwerzmann.
Wer trotz den Sommerferien seinen*ihren Sinn für die Feindesklasse nicht vergessen will, dem*der sei dieses Buch wärmstens empfohlen.
Der französische Soziologe besticht dabei durch seine in stets unterschiedlichen, teils humorvollen, teils expressiven und dann wieder ganz analytisch gehaltenen achtzehn Kapitel, in denen er uns in den Luxus bis hin zu den Hintergrundbedingungen der Superyachten einführt.
Grégory Salle. Superyachten: Luxus und Stille im Kapitalozän. Aus dem Französischen von Ulrike Bischoff. Suhrkamp, 2022. Jetzt bei der Paranoia City Buchhandlung bestellen.
„Serge“ von Yasmina Reza. Ein Tipp von Jonas Frey.
Dass man aus dem Leid etwas lehren könne, sei christliche Romantik, sagt die französische Schriftstellerin Yasmina Reza. Leid ist absurd, schlecht, zwecklos – trägt nichts in sich, aus dem man Moral ziehen könnte. Doch wie verhält sich diese Erkenntnis mit der Erinnerung an Auschwitz?
In ihrem tragisch-komischen Bestseller „Serge“ lässt Reza eine jüdische Familie zur Gedenkstätte reisen, wo sie sich über ihre Herkunft und die Frage nach der Besserung der Menschen den Kopf zerbricht. Die dialogreichen und von Witz durchzogenen 208 Seiten verzichten auf moralische Wertung und liefern keine Menschheitsutopie – im Gegenteil. Doch in der Schwäche und Einsamkeit der Figuren liegt das Potenzial zur Empathie. Indem sich die Menschen ihrer Hoffnungslosigkeit bewusstwerden, beginnt auch bei Reza der wahre Optimismus.
Yasmina Reza. Serge. Übersetzt aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, 2022. Jetzt in der Paranoia City Buchhandlung bestellen.
„Das Ende des Kapitalismus“ von Ulrike Herrmann. Ein Tipp von Alex Tiefenbacher.
Wer nun denkt, „Ach nö, nicht noch eine Kapitalismuskritik“, der denkt genau dasselbe, wie ich, bevor ich das Buch gelesen habe. Nur: Es ist gar keine Kapitalismuskritik. Vielmehr zeigt Herrmann kühl und rational auf, weshalb der fossil betriebene Kapitalismus so oder so bald an sein Ende kommen wird. Ihr Hauptargument: Es gibt nicht genug Ökoenergie, um weiterzumachen, wie bis anhin.
Darüber ist Herrmann wenig erfreut, sieht aber gleichzeitig schlichtweg keinen anderen Weg, als dass wir uns dementsprechend dringendst darüber Gedanken machen müssen, wie wir aus einem System aussteigen, bei dem das Szenario „Ausstieg“ gar nicht vorgesehen ist. Denn der Kapitalismus kennt nur eine Richtung: mehr, grösser, schneller. Inspiration dazu, wie uns dieses Kunststück trotzdem gelingen könnte, findet Herrmann in der Art und Weise, wie die Regierung Grossbritanniens während des zweiten Weltkriegs die nationale Wirtschaft in kürzester Zeit umgekrempelt hat.
Ulrike Herrmann. Das Ende des Kapitalismus. Kiepenhauer& Witsch, 2022. Jetzt bei der Paranoia City Buchhandlung bestellen.
„Ein weisses Land“ von Sherko Fatah. Ein Tipp von Jonas Frey.
Sherko Fatahs Abenteuerroman «Ein weisses Land» ist vieles zugleich: prosaisches Meisterwerk in klarer Sprache, historische Abhandlung des Irak der 1930er- und 1940er-Jahre, mitreissender Plot. Der orientierungslose Anwar lebt in Bagdad, träumt von der Welt, will dazugehören, aus der Armut ausbrechen. Während das unter dem britischen Mandat stehende Land in Aufruhr gerät, bewegt sich der konformistische Jugendliche in immer abwegigeren Kreisen.
Auf tragische Weise wird sein Traum des Reisens wahr: Im Schlepptau des antisemitischen Grossmuftis von Jerusalem wird er Teil einer Brigade der Waffen-SS. Anwar fliegt nach Nazi-Deutschland, um dann hinter der Ostfront gegen sowjetische Partisanenverbände zu kämpfen. Ob er selbst versteht, mit wem er sich eingelassen hat, was er tut, wogegen er kämpft?
Sherko Fatahs rauschend erzählte Geschichte über die hoffnungslose Suche nach dem Glück in einer verbarrikadierten Welt ist vor allem auch eine Warnung vor der Meinungslosigkeit.
Sherko Fatah. Ein weisses Land. btb-Verlag, 2013. Jetzt bei der Paranoia City Buchhandlung bestellen.
„Kapitalismus: Ein Gespräch über kritische Theorie“ von Nancy Fraser und Rahel Jaeggi. Ein Tipp von Alain Schwerzmann.
In diesem von einem umfassenden Gespräch adaptierten Buch, kauen zwei grosse Denkerinnen unserer Zeit den Kapitalismus wieder einmal gründlich durch. Fragen wie: Was ist der Kapitalismus? Wie ist er entstanden? Wie kann er kritisiert werden? und: Wie lässt er sich bekämpfen werden? pragmatisch durchgearbeitet.
Für alle, denen die Gleichsetzung von Kapitalismus gleich Geldgeilheit schon immer zu kurz griff, bietet dieses Buch ein griffiges Theoriewerkzeug zum Verständnis unserer Gegenwart.
Nancy Fraser und Rahel Jaeggi. Kapitalismus. Suhrkamp, 2021. Jetzt bei der Paranoia City Buchhandlung bestellen.
„The Capital Order: How Economists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism“ von Clara E. Mattei. Ein Tipp von Simon Muster.
Warum scheint selbst den reichsten Staaten immer das Geld zu fehlen – ausser natürlich, es muss über das Wochenende kurz die zweitgrösste Bank des Landes gerettet werden? Die Politökonomin Clara E. Mattei verortet die intellektuellen Ursprünge der modernen Austeritätspolitik – tiefe Staatsausgaben, gekürzte Sozialleistungen, Schwächung von Arbeitsrechten – in den turbulenten Jahren nach dem ersten Weltkrieg.
Anhand von Italien und Grossbritannien zeigt sie, wie Staatsinterventionen während dem Krieg, als der Staat grosse Teile der Volkswirtschaft lenkte und somit die für den Kapitalismus so zentrale Illusion eines apolitischen Marktes als reinen Schein enttarnte, dazu führten, dass die Arbeiter*innenschaft in neuen Möglichkeiten zu Denken begann.
Anhand von erstmalig übersetzten Quellen und mit einer für Laien gut zugänglichen Sprache zeigt Mattei, wie führende Ökonomen die moderne Austeritätspolitik als direkte Reaktion auf neue Formen des wirtschaftlichen Miteinander sowie gewonnene Arbeiter*innenkämpfe entwarfen. Dabei schweift Mattei nie in das vulgärmarxistische Sprech von angeblichen Eliten ab, die im Hintergrund böswillig die Fäden ziehen. Vielmehr zeigt sie, wie ideologisch verbrämt die Reaktion liberaler Ökonomen auf den Aufstand von unten gegen den Kapitalismus war: Weil sie sich keine andere Wirtschaftsform vorstellen konnten, war die einzig denkbare Lösung eine Politik des „Arbeitens und Leidens“.
Clara E. Mattei. The Capital Order. The University of Chicago Press, 2022. Jetzt bei der Paranoia City Buchhandlung bestellen.
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