Lamm-Lektüre für einen lauen Lesesommer

Das Lamm macht Ferien. Bis zum 7. August gönnen wir uns eine Auszeit. Aber wir sind nicht ganz weg! Damit euch der Lese­stoff nicht ausgeht, haben wir hier unsere Lese­tipps gesammelt. 
Wer liest behält Oberwasser, darum hier die Lamm-Lesetipps für den Sommer. (Foto: Robin Moore / Pexels)

„Liebes Arsch­loch“ von Virginie Despentes. Ein Tipp von Mara Haas.

„Liebes Arsch­loch“ schreibt Rebecca Latté an Oscar. Dieser hat davor einen sexi­sti­schen und derben Insta­bei­trag über sie veröf­fent­licht. Darauf geraten die erfolg­reiche Schau­spiel-Diva über fünfzig und der eine Midlife-Crisis erle­bende Schrift­steller via Mail ins Gespräch. Oscar und Rebecca chatten über MeToo (Oscar hat eine ehema­lige Verlags­mit­ar­bei­terin sexuell belä­stigt), über (Selbst-)Hass, über Drogen­pro­bleme und ‑politik und übers Altern.

„Ich sehe, die Möglich­keit einer unge­recht­fer­tigten Anklage schockiert euch mehr als die Tatsache, dass es unter euren Freunden Verge­wal­tiger gibt.“


 
Die fran­zö­si­sche Femi­ni­stin Virgine Despentes lässt die Wut aus ihren Haupt­fi­guren spre­chen, zeichnet sie aber auch verletz­lich. Sie schreibt witzig, mit ehrli­chen Worten und verhan­delt dabei femi­ni­sti­sche Debatten von heute mit Klas­sen­be­wusst­sein.
 
PS: Ihr habt nach der Lektüre noch nicht genug von Despentes? Dann lest ihr femi­ni­sti­sches Mani­fest „King Kong Theorie“. 

Virginie Despentes: Liebes Arsch­loch. Über­setzt von: Ina Kronen­berger und Tatjana Michaelis. Kiepenheuer&Witsch, 2023. Jetzt bei der Para­noia City Buch­hand­lung bestellen.



„Kangal“ von Anna Yeliz Schentke. Ein Tipp von Anina Ritscher.

Kennt das Regime meinen Namen schon? Wissen sie über meine poli­ti­sche Haltung Bescheid? Kommen sie mich bald holen? „Kangal“ von Anna Yeliz Schentke beschreibt einen Zustand, der kriti­schen Menschen in der Türkei allzu gut bekannt ist. Es ist der Zustand der stän­digen Unge­wiss­heit. Die Angst, in den Fokus der Behörden geraten zu sein auf der einen Seite. Das Gefühl zu über­treiben auf der anderen: Mich wird schon niemand verraten – oder doch? Das Regime inter­es­siert sich doch gar nicht für mich – oder doch? Die Antwort liefert erst die Verhaf­tung – es sei denn, man flieht noch vorher, wie die Protagonistin.

Mich wird schon niemand verraten – oder doch?


Den Zwischen­raum beschreibt die Autorin eindring­lich mit einer Sprache, die sich auf das Wesent­liche konzen­triert. Dabei kontra­stiert sie die Ange­spannt­heit der jungen Wider­stän­digen in der Türkei mit dem roman­ti­sierten Bild des Landes einer jungen Deut­schen mit türki­schen Eltern. Feri­en­sel­fies aus Bodrum im rot-weissen Tanktop stehen pani­schen Verfol­gungs­jagden durch Istan­buls Innen­stadt gegen­über. Das Buch hat seit dem Erscheinen vor zwei Jahren nichts an Aktua­lität einge­büsst, sondern wurde im Gegen­teil noch dringlicher.


„Super­yachten: Luxus und Stille im Kapi­talozän“ von Grégory Salle. Ein Tipp von Alain Schwerzmann.

Wer trotz den Sommer­fe­rien seinen*ihren Sinn für die Fein­des­klasse nicht vergessen will, dem*der sei dieses Buch wärm­stens empfohlen. 

Der fran­zö­si­sche Sozio­loge besticht dabei durch seine in stets unter­schied­li­chen, teils humor­vollen, teils expres­siven und dann wieder ganz analy­tisch gehal­tenen acht­zehn Kapitel, in denen er uns in den Luxus bis hin zu den Hinter­grund­be­din­gungen der Super­yachten einführt.

Grégory Salle. Super­yachten: Luxus und Stille im Kapi­talozän. Aus dem Fran­zö­si­schen von Ulrike Bischoff. Suhr­kamp, 2022. Jetzt bei der Para­noia City Buch­hand­lung bestellen.


„Serge“ von Yasmina Reza. Ein Tipp von Jonas Frey.

Dass man aus dem Leid etwas lehren könne, sei christ­liche Romantik, sagt die fran­zö­si­sche Schrift­stel­lerin Yasmina Reza. Leid ist absurd, schlecht, zwecklos – trägt nichts in sich, aus dem man Moral ziehen könnte. Doch wie verhält sich diese Erkenntnis mit der Erin­ne­rung an Ausch­witz?
 
In ihrem tragisch-komi­schen Best­seller „Serge“ lässt Reza eine jüdi­sche Familie zur Gedenk­stätte reisen, wo sie sich über ihre Herkunft und die Frage nach der Besse­rung der Menschen den Kopf zerbricht. Die dialogrei­chen und von Witz durch­zo­genen 208 Seiten verzichten auf mora­li­sche Wertung und liefern keine Mensch­heits­utopie – im Gegen­teil. Doch in der Schwäche und Einsam­keit der Figuren liegt das Poten­zial zur Empa­thie. Indem sich die Menschen ihrer Hoff­nungs­lo­sig­keit bewusst­werden, beginnt auch bei Reza der wahre Optimismus.

Yasmina Reza. Serge. Über­setzt aus dem Fran­zö­si­schen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, 2022. Jetzt in der Para­noia City Buch­hand­lung bestellen. 


„Das Ende des Kapi­ta­lismus“ von Ulrike Herr­mann. Ein Tipp von Alex Tiefenbacher. 

Wer nun denkt, „Ach nö, nicht noch eine Kapi­ta­lis­mus­kritik“, der denkt genau dasselbe, wie ich, bevor ich das Buch gelesen habe. Nur: Es ist gar keine Kapi­ta­lis­mus­kritik. Viel­mehr zeigt Herr­mann kühl und rational auf, weshalb der fossil betrie­bene Kapi­ta­lismus so oder so bald an sein Ende kommen wird. Ihr Haupt­ar­gu­ment: Es gibt nicht genug Ökoen­ergie, um weiter­zu­ma­chen, wie bis anhin. 

Ach nö, nicht noch eine Kapitalismuskritik.

Darüber ist Herr­mann wenig erfreut, sieht aber gleich­zeitig schlichtweg keinen anderen Weg, als dass wir uns dementspre­chend drin­gendst darüber Gedanken machen müssen, wie wir aus einem System aussteigen, bei dem das Szenario „Ausstieg“ gar nicht vorge­sehen ist. Denn der Kapi­ta­lismus kennt nur eine Rich­tung: mehr, grösser, schneller. Inspi­ra­tion dazu, wie uns dieses Kunst­stück trotzdem gelingen könnte, findet Herr­mann in der Art und Weise, wie die Regie­rung Gross­bri­tan­niens während des zweiten Welt­kriegs die natio­nale Wirt­schaft in kürze­ster Zeit umge­krem­pelt hat.

Ulrike Herr­mann. Das Ende des Kapi­ta­lismus. Kiepenhauer& Witsch, 2022. Jetzt bei der Para­noia City Buch­hand­lung bestellen.


„Ein weisses Land“ von Sherko Fatah. Ein Tipp von Jonas Frey.

Sherko Fatahs Aben­teu­er­roman «Ein weisses Land» ist vieles zugleich: prosa­isches Meister­werk in klarer Sprache, histo­ri­sche Abhand­lung des Irak der 1930er- und 1940er-Jahre, mitreis­sender Plot. Der orien­tie­rungs­lose Anwar lebt in Bagdad, träumt von der Welt, will dazu­ge­hören, aus der Armut ausbre­chen. Während das unter dem briti­schen Mandat stehende Land in Aufruhr gerät, bewegt sich der konfor­mi­sti­sche Jugend­liche in immer abwe­gi­geren Kreisen. 

Auf tragi­sche Weise wird sein Traum des Reisens wahr: Im Schlepptau des anti­se­mi­ti­schen Gross­muftis von Jeru­salem wird er Teil einer Brigade der Waffen-SS. Anwar fliegt nach Nazi-Deutsch­land, um dann hinter der Ostfront gegen sowje­ti­sche Parti­sa­nen­ver­bände zu kämpfen. Ob er selbst versteht, mit wem er sich einge­lassen hat, was er tut, wogegen er kämpft?
 
Sherko Fatahs rauschend erzählte Geschichte über die hoff­nungs­lose Suche nach dem Glück in einer verbar­ri­ka­dierten Welt ist vor allem auch eine Warnung vor der Meinungslosigkeit.


„Kapi­ta­lismus: Ein Gespräch über kriti­sche Theorie“ von Nancy Fraser und Rahel Jaeggi. Ein Tipp von Alain Schwerzmann.

In diesem von einem umfas­senden Gespräch adap­tierten Buch, kauen zwei grosse Denke­rinnen unserer Zeit den Kapi­ta­lismus wieder einmal gründ­lich durch. Fragen wie: Was ist der Kapi­ta­lismus? Wie ist er entstanden? Wie kann er kriti­siert werden? und: Wie lässt er sich bekämpfen werden? prag­ma­tisch durchgearbeitet.

Was ist der Kapi­ta­lismus? Wie ist er entstanden? Wie kann er kriti­siert werden?

Für alle, denen die Gleich­set­zung von Kapi­ta­lismus gleich Geld­geil­heit schon immer zu kurz griff, bietet dieses Buch ein grif­figes Theo­rie­werk­zeug zum Verständnis unserer Gegenwart.


„The Capital Order: How Econo­mists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism“ von Clara E. Mattei. Ein Tipp von Simon Muster.

Warum scheint selbst den reich­sten Staaten immer das Geld zu fehlen – ausser natür­lich, es muss über das Wochen­ende kurz die zweit­grösste Bank des Landes gerettet werden? Die Polit­öko­nomin Clara E. Mattei verortet die intel­lek­tu­ellen Ursprünge der modernen Austeri­täts­po­litik – tiefe Staats­aus­gaben, gekürzte Sozi­al­lei­stungen, Schwä­chung von Arbeits­rechten – in den turbu­lenten Jahren nach dem ersten Weltkrieg. 

Anhand von Italien und Gross­bri­tan­nien zeigt sie, wie Staats­in­ter­ven­tionen während dem Krieg, als der Staat grosse Teile der Volks­wirt­schaft lenkte und somit die für den Kapi­ta­lismus so zentrale Illu­sion eines apoli­ti­schen Marktes als reinen Schein enttarnte, dazu führten, dass die Arbeiter*innenschaft in neuen Möglich­keiten zu Denken begann. 

Anhand von erst­malig über­setzten Quellen und mit einer für Laien gut zugäng­li­chen Sprache zeigt Mattei, wie führende Ökonomen die moderne Austeri­täts­po­litik als direkte Reak­tion auf neue Formen des wirt­schaft­li­chen Mitein­ander sowie gewon­nene Arbeiter*innenkämpfe entwarfen. Dabei schweift Mattei nie in das vulgär­mar­xi­sti­sche Sprech von angeb­li­chen Eliten ab, die im Hinter­grund böswillig die Fäden ziehen. Viel­mehr zeigt sie, wie ideo­lo­gisch verbrämt die Reak­tion libe­raler Ökonomen auf den Aufstand von unten gegen den Kapi­ta­lismus war: Weil sie sich keine andere Wirt­schafts­form vorstellen konnten, war die einzig denk­bare Lösung eine Politik des „Arbei­tens und Leidens“.


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