Lese­tipp Nr. 3: Vergan­gene Zukunft mit Bini Adamczak

Das Lamm macht Ferien. Bis zum 30. August gönnen wir uns eine Auszeit. Aber wir sind nicht ganz weg! Hier teilen Redakteur:innen ihre Sommer­lek­türe mit euch. Dritter Tipp auf der Lese­liste: „Der schönste Tag im Leben des Alex­ander Berkman: Vom mögli­chen Gelingen der Russi­schen Revo­lu­tion“ von Bini Adamczak. 

„Es hätte klappen können. Es hat nicht geklappt.“

Mit diesen zwei trockenen Sätzen fasst die in Berlin lebende poli­ti­sche Theo­re­ti­kerin Bini Adamczak auf den letzten Seiten ihres Buches die Entwick­lungen rund um die Russi­sche Revo­lu­tion 1917 zusammen.

In ihrem zum 100-jährigen Jubi­läum der Okto­ber­re­vo­lu­tion erschie­nenen Buch Der schönste Tag im Leben des Alex­ander Berkman unter­streicht Adamczak zwei histo­ri­sche Erkennt­nisse, die sich späte­stens mit der Auflö­sung der Sowjet­union 1991 verdeutlichten:

  1. Der Sowjet­kom­mu­nismus ist gescheitert.
  2. Er ist geschei­tert, weil er statt einem radi­kal­de­mo­kra­ti­schen ein auto­ri­täres Projekt war.

Dass die Wurzeln des Miss­lin­gens schon in den ersten Monaten und Jahren nach 1917 liegen, illu­striert Adamczak anhand der Geschichte zweier in Russ­land gebo­rener Anarchist:innen: Alex­ander Berkman und Emma Goldman. Die beiden wurden 1920 von den USA mit 247 weiteren poli­ti­schen Gefan­genen an Sowjet­russ­land ausge­wiesen. In seinem Tage­buch aus der Russi­schen Revo­lu­tion beschrieb Berkman den Tag seiner Rück­kehr als „den schön­sten meines Lebens“. Und weiter: „Mir war danach, die ganze Mensch­heit zu umarmen, ihr mein Herz zu Füssen zu legen, mein Leben tausend­fach im Dienst der sozia­li­sti­schen Revo­lu­tion hinzugeben.“

Nach kurzer Unter­stüt­zung der Bolsche­wiki schwenkte sowohl Berk­mans als auch Gold­mans Haltung zuneh­mend in Kritik an deren auto­ri­tären und kriegs­kom­mu­ni­sti­schen Kurs im Zuge des Russi­schen Bürger­krieges um. 1921 verliessen Goldman und Bergman Sowjet­russ­land nach der gewalt­vollen Nieder­schla­gung des Kron­städter Matro­sen­auf­standes endgültig und emigrierten nach Berlin.

Was musste in den vier­zehn Monaten zwischen Berg­mans und Gold­mans Ankunft im noch jungen Sowjet­russ­land und ihrer hastigen Abreise passiert sein, damit die pathe­ti­sche Vorstel­lung des „schön­sten Tages meines Lebens“ in einer derar­tigen Enttäu­schung mündete?

In ihrem Buch versucht Adamczak einer­seits zu zeigen, welche massiven Fehler durch die Bolsche­wiki begangen wurden, so dass Anarchist:innen wie Berkman und Goldman sich von ihnen verraten fühlten. Indem sie die Fehler benennt, richtet sie ihr Buch gegen jene, die dafür verant­wort­lich sind. Ande­rer­seits zeigt sie, wie offen die Entwick­lungen der Revo­lu­tion in den ersten Jahren noch waren und welches Poten­zial an Möglich­keiten in dieser Vagheit noch immer liegt. Ein Poten­zial, das zu füllen sich Adamczak anschickt, um „im Vergan­genen den Funken der Hoff­nung anzu­fa­chen“, wie sie mit Walter Benjamin schreibt.

Auch wenn sie dabei zum Teil auf die in der Geschichts­wis­sen­schaft verschriene Methode der Kontra­fak­ti­zität ­– oder der Even­tu­al­ge­schichte, auf welche im Buch verwiesen wird – zurück­greifen muss. Doch Adamczak, die sich nicht als Histo­ri­kerin versteht, will reali­täts­nahe alter­na­tive Entwürfe erschaffen und aus real­hi­sto­ri­schen Ereig­nissen die Perspek­tiven für eine bessere Politik ableiten.

In süffigen 135 Seiten gelingt dies der poli­ti­schen Theo­re­ti­kerin, indem sie nicht nur die Gründe des Schei­terns darlegt, sondern in ihnen nach alter­na­tiven Möglich­keiten für den Aufbau eines kommu­ni­sti­schen Projekts sucht. Und findet.

So stand zum Beispiel die im Finni­schen Bürger­krieg 1918 entstan­dene Revo­lu­ti­ons­re­gie­rung Finn­lands mit ihrer expli­ziten Ableh­nung des Terrors dem sich immer mehr verfe­sti­genden Tota­li­ta­rismus der Bolsche­wiki entgegen. Die vorüber­ge­hende Regie­rung verzich­tete sogar auf einen Geheimdienst.

Oder das Allrus­si­sche Parla­ment im Provinz­exil in Samara-Ufa am Ostufer der Wolga. Tsche­chi­sche Soldat:innen vertrieben 1918 von dort die Bolsche­wiki, worauf linke Parteien wie die auf dem Land verwur­zelten Sozi­al­re­vo­lu­tio­näre und die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Mensche­wiki das Programm der Febru­ar­re­vo­lu­tion aufrecht­zu­er­halten versuchten. Im marxi­sti­schen Geschichts­ver­ständnis waren sie der Auffas­sung, dass Russ­land noch nicht für den Sozia­lismus, jedoch für eine bürger­liche Demo­kratie bereit wäre. Im Gegen­satz zu den Bolsche­wiki, die jede repres­sive Mass­nahme als legi­times Mittel zum Zweck guthiessen, versuchten sie, Frei­heiten wie die Presse- und Versamm­lungs­frei­heit trotz der Umstände des Krieges hochzuhalten.

Oder aber die bäuer­li­chen Anarchist:innen in der Ukraine. 85 Prozent der Bevöl­ke­rung der späteren Sowjet­union lebten 1917 auf dem Land und arbei­teten in der Land­wirt­schaft. Adamczak misst deshalb der anar­chi­sti­schen Machno-Bewe­gung grossen Stel­len­wert zu. Zwischen 1917 und 1922 versuchte sie in der Ukraine die Befreiung der Bäuer:innen vom Staat durch­zu­setzen, indem sie auto­nome Gemeinden errich­tete, die in „unmit­tel­baren Tausch­ge­schäften ohne Geld“ stehen sollten.

Doch all diese Versuche der lokalen Selbst­ver­wal­tung wurden früher oder später durch die Bolsche­wiki, deren Geheim­po­lizei Tscheka und der Roten Armee niedergeschlagen.

Seit der Okto­ber­re­vo­lu­tion schei­terte jeder Versuch, den Sozia­lismus demo­kra­ti­scher zu gestalten. Die Sowjet­union wurde zu einem geschei­terten Projekt, den Befrei­ungs­an­spruch des Marxismus zu verge­gen­wär­tigen. Weil ihre Interpret:innen ihn nicht als Anar­chismus verstanden und statt lokaler Selbst­ver­wal­tung das Konzept der Zentra­li­sie­rung mit Gewalt durch­setzen. Und weil ihre Politik durch und durch von der Angst vor der Konter­re­vo­lu­tion bestimmt war und so in Repres­sion und Terror mündete.

Dass sich das Gros der inter­na­tio­nalen Linken bis 1989 stets dazu verpflichtet fühlte, sich auf die Reden der alten Herren der Partei­zen­tralen in Moskau, Ost-Berlin und Havanna zu beziehen und sich für die konser­va­tiven Bewahrer des auto­ri­tären Sozia­lismus recht­fer­tigte – das war die Krise der Linken.

Seit dem Ende der Sowjet­union eröffnen sich der Linken neue Perspek­tiven – fernab von Zentra­lismus, Block­denken, plumper anti­west­li­cher Rhetorik, Perso­nen­kult, Partei-Folk­lore und Militärparaden.

Dass die Linke weder Kader­sy­stem noch Ikonen braucht, weiss Adamczak mit ihrem Buch zu zeigen. Statt­dessen benö­tigt sie ein Modell, dass die nach­hal­tige Mobi­li­sie­rung der grossen Masse herbei­führt. Und dies funk­tio­niert nur über das Konzept der lokalen Selbstverwaltung.

Das Ende der Geschichte – der Triumph des Kapi­ta­lismus und die Tilgung aller poli­ti­schen Wider­sprüche –, das Francis Fuku­yama 1989 prokla­mierte, wird deshalb nur ein vorläu­figes sein. Jedem Ende folgt ein Neuanfang.

„Was war, wird immer gewesen sein“, sagt Adamczak. „Dass es anders hätte kommen können, dass Menschen andere Entschei­dungen hätten treffen können, ist jedoch auch ein Einspruch gegen die Gegenwart.“

Mit Adamczak gespro­chen ist klar, dass es für eine revo­lu­tio­näre Politik der Gegen­wart immer auch des histo­ri­schen Scharf­sinns und der inner­linken Selbst­kritik bedarf. Und dass die Geschichte der Russi­schen Revo­lu­tion nur eine geschei­terte Möglich­keit darstellt, die aber viele andere basis­de­mo­kra­ti­sche Vari­anten in sich birgt, die in der Zukunft gelingen können.

Bini Adamczak: Der schönste Tag im Leben des Alex­ander Berkman: Vom mögli­chen Gelingen der Russi­schen Revo­lu­tion, edition assem­blage, 2017.

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