„Es hätte klappen können. Es hat nicht geklappt.“
Mit diesen zwei trockenen Sätzen fasst die in Berlin lebende politische Theoretikerin Bini Adamczak auf den letzten Seiten ihres Buches die Entwicklungen rund um die Russische Revolution 1917 zusammen.
In ihrem zum 100-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution erschienenen Buch Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman unterstreicht Adamczak zwei historische Erkenntnisse, die sich spätestens mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 verdeutlichten:
- Der Sowjetkommunismus ist gescheitert.
- Er ist gescheitert, weil er statt einem radikaldemokratischen ein autoritäres Projekt war.
Dass die Wurzeln des Misslingens schon in den ersten Monaten und Jahren nach 1917 liegen, illustriert Adamczak anhand der Geschichte zweier in Russland geborener Anarchist:innen: Alexander Berkman und Emma Goldman. Die beiden wurden 1920 von den USA mit 247 weiteren politischen Gefangenen an Sowjetrussland ausgewiesen. In seinem Tagebuch aus der Russischen Revolution beschrieb Berkman den Tag seiner Rückkehr als „den schönsten meines Lebens“. Und weiter: „Mir war danach, die ganze Menschheit zu umarmen, ihr mein Herz zu Füssen zu legen, mein Leben tausendfach im Dienst der sozialistischen Revolution hinzugeben.“
Nach kurzer Unterstützung der Bolschewiki schwenkte sowohl Berkmans als auch Goldmans Haltung zunehmend in Kritik an deren autoritären und kriegskommunistischen Kurs im Zuge des Russischen Bürgerkrieges um. 1921 verliessen Goldman und Bergman Sowjetrussland nach der gewaltvollen Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstandes endgültig und emigrierten nach Berlin.
Was musste in den vierzehn Monaten zwischen Bergmans und Goldmans Ankunft im noch jungen Sowjetrussland und ihrer hastigen Abreise passiert sein, damit die pathetische Vorstellung des „schönsten Tages meines Lebens“ in einer derartigen Enttäuschung mündete?
In ihrem Buch versucht Adamczak einerseits zu zeigen, welche massiven Fehler durch die Bolschewiki begangen wurden, so dass Anarchist:innen wie Berkman und Goldman sich von ihnen verraten fühlten. Indem sie die Fehler benennt, richtet sie ihr Buch gegen jene, die dafür verantwortlich sind. Andererseits zeigt sie, wie offen die Entwicklungen der Revolution in den ersten Jahren noch waren und welches Potenzial an Möglichkeiten in dieser Vagheit noch immer liegt. Ein Potenzial, das zu füllen sich Adamczak anschickt, um „im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen“, wie sie mit Walter Benjamin schreibt.
Auch wenn sie dabei zum Teil auf die in der Geschichtswissenschaft verschriene Methode der Kontrafaktizität – oder der Eventualgeschichte, auf welche im Buch verwiesen wird – zurückgreifen muss. Doch Adamczak, die sich nicht als Historikerin versteht, will realitätsnahe alternative Entwürfe erschaffen und aus realhistorischen Ereignissen die Perspektiven für eine bessere Politik ableiten.
In süffigen 135 Seiten gelingt dies der politischen Theoretikerin, indem sie nicht nur die Gründe des Scheiterns darlegt, sondern in ihnen nach alternativen Möglichkeiten für den Aufbau eines kommunistischen Projekts sucht. Und findet.
So stand zum Beispiel die im Finnischen Bürgerkrieg 1918 entstandene Revolutionsregierung Finnlands mit ihrer expliziten Ablehnung des Terrors dem sich immer mehr verfestigenden Totalitarismus der Bolschewiki entgegen. Die vorübergehende Regierung verzichtete sogar auf einen Geheimdienst.
Oder das Allrussische Parlament im Provinzexil in Samara-Ufa am Ostufer der Wolga. Tschechische Soldat:innen vertrieben 1918 von dort die Bolschewiki, worauf linke Parteien wie die auf dem Land verwurzelten Sozialrevolutionäre und die sozialdemokratischen Menschewiki das Programm der Februarrevolution aufrechtzuerhalten versuchten. Im marxistischen Geschichtsverständnis waren sie der Auffassung, dass Russland noch nicht für den Sozialismus, jedoch für eine bürgerliche Demokratie bereit wäre. Im Gegensatz zu den Bolschewiki, die jede repressive Massnahme als legitimes Mittel zum Zweck guthiessen, versuchten sie, Freiheiten wie die Presse- und Versammlungsfreiheit trotz der Umstände des Krieges hochzuhalten.
Oder aber die bäuerlichen Anarchist:innen in der Ukraine. 85 Prozent der Bevölkerung der späteren Sowjetunion lebten 1917 auf dem Land und arbeiteten in der Landwirtschaft. Adamczak misst deshalb der anarchistischen Machno-Bewegung grossen Stellenwert zu. Zwischen 1917 und 1922 versuchte sie in der Ukraine die Befreiung der Bäuer:innen vom Staat durchzusetzen, indem sie autonome Gemeinden errichtete, die in „unmittelbaren Tauschgeschäften ohne Geld“ stehen sollten.
Doch all diese Versuche der lokalen Selbstverwaltung wurden früher oder später durch die Bolschewiki, deren Geheimpolizei Tscheka und der Roten Armee niedergeschlagen.
Seit der Oktoberrevolution scheiterte jeder Versuch, den Sozialismus demokratischer zu gestalten. Die Sowjetunion wurde zu einem gescheiterten Projekt, den Befreiungsanspruch des Marxismus zu vergegenwärtigen. Weil ihre Interpret:innen ihn nicht als Anarchismus verstanden und statt lokaler Selbstverwaltung das Konzept der Zentralisierung mit Gewalt durchsetzen. Und weil ihre Politik durch und durch von der Angst vor der Konterrevolution bestimmt war und so in Repression und Terror mündete.
Dass sich das Gros der internationalen Linken bis 1989 stets dazu verpflichtet fühlte, sich auf die Reden der alten Herren der Parteizentralen in Moskau, Ost-Berlin und Havanna zu beziehen und sich für die konservativen Bewahrer des autoritären Sozialismus rechtfertigte – das war die Krise der Linken.
Seit dem Ende der Sowjetunion eröffnen sich der Linken neue Perspektiven – fernab von Zentralismus, Blockdenken, plumper antiwestlicher Rhetorik, Personenkult, Partei-Folklore und Militärparaden.
Dass die Linke weder Kadersystem noch Ikonen braucht, weiss Adamczak mit ihrem Buch zu zeigen. Stattdessen benötigt sie ein Modell, dass die nachhaltige Mobilisierung der grossen Masse herbeiführt. Und dies funktioniert nur über das Konzept der lokalen Selbstverwaltung.
Das Ende der Geschichte – der Triumph des Kapitalismus und die Tilgung aller politischen Widersprüche –, das Francis Fukuyama 1989 proklamierte, wird deshalb nur ein vorläufiges sein. Jedem Ende folgt ein Neuanfang.
„Was war, wird immer gewesen sein“, sagt Adamczak. „Dass es anders hätte kommen können, dass Menschen andere Entscheidungen hätten treffen können, ist jedoch auch ein Einspruch gegen die Gegenwart.“
Mit Adamczak gesprochen ist klar, dass es für eine revolutionäre Politik der Gegenwart immer auch des historischen Scharfsinns und der innerlinken Selbstkritik bedarf. Und dass die Geschichte der Russischen Revolution nur eine gescheiterte Möglichkeit darstellt, die aber viele andere basisdemokratische Varianten in sich birgt, die in der Zukunft gelingen können.
Bini Adamczak: Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman: Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution, edition assemblage, 2017.