Würde die biblische Weihnachtsgeschichte als literarische Neuerscheinung der Kritik unterzogen, vermutlich gäbe es einen Verriss. Sprachlich schleppend, zu pathetisch die Szenen mit den Prophezeiungen. Die Idee mit dem Menschenretter plump, nicht überzeugend. Die Stall-Szene trieft vor Kitsch, die Science-Fiction-Elemente mit den Engeln sind zwar anregend, scheinen aber etwas hingeworfen. Politische Hellsichtigkeit? Fehl am Platz.
Auch die historisierende Perspektive lässt kein gutes Haar an diesem Stück Weltliteratur, das zwar den Gang der Geschichte veränderte, das Gute aber trotz frohlockender Friedensankündigung nicht errichten konnte. Es scheint, als haben sich die Autoren dieser Legende etwas zu viel vorgenommen, als seien sie an ihren hochgesteckten Ansprüchen gescheitert. Die Menschen über ein Stück Literatur bessern zu wollen? Ging wohl daneben.
Manche Autor*innen der Gegenwart halten es da anders. Jene, die auf Pädagogik verzichten und ihren Texten stattdessen einen doppelten Boden unterlegen. Beste Gelegenheit, vier Empfehlungen für Weihnachten auszusprechen.
„Kleine Probleme“ von Nele Pollatschek
Unaufgeräumte Küche, überfluteter Posteingang, offene Rechnungen – trotz oder wegen ihrer scheinbaren Banalität bergen alltägliche Probleme das Potenzial für Nervenzusammenbrüche. Weshalb erzürnt einen das Nichtfunktionieren des eigenen WLANs mehr als die Krisen der Welt? Woher kommt die leidenschaftliche Hingabe für das Belanglose? Damit beschäftigt sich der Roman „Kleine Probleme“ der Schriftstellerin und Redakteurin bei der Süddeutschen Zeitung Nele Pollatschek.
Die 49-jährige Hauptfigur Lars leidet an Prokrastination, also am permanenten Aufschieben von Aufgaben und Pflichten. Es ist Silvester und der zweifache Familienvater steht mit einer 13-Punkte langen To-do-Liste allein in der Küche: Steuererklärung, Lebenswerk, Nudelsalat, „es gut machen“ – mit seiner Liste versucht der angehende Schriftsteller, Ordnung in sein Leben zu bringen.
Bis vor Mitternacht müssen die Punkte abgearbeitet sein. Bis dahin raucht sich der zukünftige Nichtraucher durch seine Liste – mal hoffnungsfroh, sehr oft verzweifelt und sich selbst bejammernd, aber immer im Dialog mit den mahnenden Stimmen der anderen im Kopf. In einer rasch voranschreitenden humorvollen Sprache reflektiert Nele Pollatschek über die Tragik des Alltäglichen. „Kleine Probleme“ ist ein raffiniertes Buch – und bringt zum Lachen.
Nele Pollatschek: Kleine Probleme, Galiani 2023. Jetzt bestellen bei der Buchhandlung Paranoia City.
„Fast ein neues Leben“ von Anna Prizkau
Deutschland, 1990er-Jahre. Ankommen als Ausländerin. In einem Land, das den Nationalstolz wiederentdeckt, wo das Sprechen in einer anderen Sprache im öffentlichen Raum gefährlich sein kann. „Das Schweigen und Verschweigen. Der Wunsch, so auszusehen, so zu sprechen wie alle anderen. So zu sein wie sie. Die Angst vor dieser einen Frage: Woher kommst du?“
Das Fremdheitsgefühl aus ihrer eigenen Perspektive zu erzählen in der Hoffnung, damit seinen universellen Charakter darzustellen – dies nahm sich Anna Prizkau in ihrem Erzählband „Fast ein neues Leben“ vor. 1986 in Moskau geboren, kam Prizkau in den 1990er-Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland und verarbeitet in ihrem Erzählband ihre eigenen Erlebnisse. Zwölf Geschichten einer namenlosen Ich-Erzählerin in unterschiedlichen Phasen ihrer Kindheit und Jugend sind daraus entstanden.
Darin spricht die Erzählerin über den neuen Alltag, den sie kennenlernen muss – über das eben immer nur fast neue Leben. Sie schreibt von der traurigen Mutter, die sich nach dem alten Land zurücksehnt und in eine Depression fällt, vom ambitionierten Vater, der ihr gegenüber zukunftsoptimistisch im Aufbruch begriffen ist.
Sie erzählt von deutschen Kindern, die in den Hort gehen, während die anderen abseitsstehen. Über die Blicke der Deutschen und die Gewalt, die sie erfährt. Die nüchterne Sprache der Autorin, ihre Fähigkeit, präzise zu sein, ohne den Text mit Details zu überladen und ihr Mut zur Lücke geben diesem Erzählband Intensität und Spannung. Auch drei Jahre nach seinem Erscheinen ist er noch immer dringende Lektüreempfehlung.
Anna Prizkau: Fast ein neues Leben, Friedenauer Presse 2020. Jetzt bestellen bei der Buchhandlung Paranoia City.
„Der grosse Wunsch“ von Sherko Fatah
Im Deutschland der 2010er-Jahre machten sich Schätzungen zufolge bis zu 1’000 Menschen nach Syrien und in den Irak auf, um sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschliessen. Was trieb sie an? Weshalb tauschten sie Frieden ein gegen Kalifat und Tyrannei? „Vielleicht erzieht ihr sie falsch“, meint eine Soldatin in Sherko Fatahs neuem Roman „Der grosse Wunsch“ zu Murad, der Hauptfigur.
Er hat sich aufgemacht in das türkisch-syrische Grenzgebiet, um seine Tochter Naima zu finden. Mit einem Krieger namens Faruk soll sie sich in Raqqa aufhalten, wie er über mehrere Boten erfährt. Murad will seine Tochter wiedersehen und setzt dafür alle Hebel in Bewegung. Mit jedem Telefonat mit Naimas Mutter und seiner Ex-Frau Dorothee intensiviert sich sein schlechtes Gewissen – das Gefühl der Schuld über den Fortgang seiner Tochter.
Während die kurdischen Kräfte mit der Unterstützung der USA den Kampf gegen den IS vorantreiben, macht sich Murad auf nach Syrien. Wird er Naima wiedersehen? Es ist diese Frage, die Fatahs Roman mit einer gewaltigen Spannung auflädt, die die Geschichte durch die vielen Reflexionen über Heimat, Familie und Kultur trägt. Ein genau recherchierter Roman verfasst in einer einfachen Sprache, die nicht zu viel will – und deshalb Grosses erreicht.
Sherko Fatah: Der grosse Wunsch, Luchterhand Literaturverlag 2023, jetzt bestellen bei der Buchhandlung Paranoia City.
„Keiner betete an ihren Gräbern“ von Khaled Khalifa
„So wie wir jetzt leben, kann man nicht leben“, meinte der syrische Autor Khaled Khalifa im Frühling dieses Jahres während einer Lesung in Zürich, wo er sich für eine Schreibresidenz aufhielt. Fünf Monate später starb Khalifa im Alter von 59 Jahren an einem Herzinfarkt. In Damaskus, jenem Ort, wo er trotz des Syrischen Bürgerkrieges geblieben war und zahlreiche Romane und Drehbücher schrieb.
Wegen seiner anhaltenden Kritik am Regime ist sein Werk in Syrien verboten – im Ausland wird es gefeiert. Zu Recht, wie der 2022 im Deutschen erschienene Roman „Keiner betete an ihren Gräbern“ in der Übersetzung von Larissa Bender zeigt. Ein zutiefst trauriges, mitreissendes und zugleich leidenschaftliches Buch. Auf über 500 Seiten schildert Khalifa das Leben von Menschen verschiedener Generationen in Aleppo.
Er richtet den Blick zurück zum Ende des 19. Jahrhundert, als Muslim*innen, Christ*innen und Jüd*innen in Aleppo zusammenlebten. Mit seinen Figuren schreitet er durch die Zeit bis ins Jahr 1951. Im Zentrum steht dabei die Freundschaft zwischen dem Christen Hanna und dem Muslim Zakaria, von denen der Text ein Netz an Figuren spannt, über das ein Verzeichnis am Ende des Buches einen Überblick verschafft (und das für die Lektüre sehr hilfreich ist). Während die einen von ihnen von tragischen Naturkatastrophen heimgesucht werden, befinden sich die anderen auf der Flucht vor der Osmanischen Herrschaft.
„Keiner betete an ihren Gräbern“ ist ein Roman, der an die traurige Gegenwart Syriens erinnert. Khalifa schreibt über den Aufbau und die Zerstörung, die Willkür des Todes und der zum Scheitern verurteilten Liebe. „Ich möchte in Syrien sterben und neben meiner Mutter begraben werden“, sagte Khalifa während einer Lesung in Berlin. Immerhin dieser Wunsch ist ihm in Erfüllung gegangen.
Khaled Khalifa: Keiner betete an ihren Gräbern, Rowohlt 2022, jetzt bestellen bei der Buchhandlung Paranoia City.
Dass Wünsche zu Weihnachten in der Regel nicht in Erfüllung gehen und Vorsätze fürs neue Jahr meist schon in der ersten Januarwoche ihren Schwung verloren haben, daran kann auch die Literatur nichts ändern. Und obwohl Pollatschek, Prizkau, Fatah und Khalifa aus ihren Leser*innen keine Engel machen oder ihnen das paradiesische Morgen prophezeien, vollbringen sie doch Wunder: grosse Unterhaltung und die Anregung der Gedanken – nur in Worten.
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