Lese­tipps für die Wintertage

Damit ihr über die Fest­tage nicht die bibli­sche Weih­nachts­ge­schichte lesen müsst, stellt euch unser Autor vier aktu­elle Lese­tipps vor. 
Endlich wieder Zeit zum Lesen. (Foto: Annie Spratt)

Würde die bibli­sche Weih­nachts­ge­schichte als lite­ra­ri­sche Neuerschei­nung der Kritik unter­zogen, vermut­lich gäbe es einen Verriss. Sprach­lich schlep­pend, zu pathe­tisch die Szenen mit den Prophe­zei­ungen. Die Idee mit dem Menschen­retter plump, nicht über­zeu­gend. Die Stall-Szene trieft vor Kitsch, die Science-Fiction-Elemente mit den Engeln sind zwar anre­gend, scheinen aber etwas hinge­worfen. Poli­ti­sche Hell­sich­tig­keit? Fehl am Platz.

Auch die histo­ri­sie­rende Perspek­tive lässt kein gutes Haar an diesem Stück Welt­li­te­ratur, das zwar den Gang der Geschichte verän­derte, das Gute aber trotz froh­lockender Frie­dens­an­kün­di­gung nicht errichten konnte. Es scheint, als haben sich die Autoren dieser Legende etwas zu viel vorge­nommen, als seien sie an ihren hoch­ge­steckten Ansprü­chen geschei­tert. Die Menschen über ein Stück Lite­ratur bessern zu wollen? Ging wohl daneben.

Manche Autor*innen der Gegen­wart halten es da anders. Jene, die auf Pädagogik verzichten und ihren Texten statt­dessen einen doppelten Boden unter­legen. Beste Gele­gen­heit, vier Empfeh­lungen für Weih­nachten auszusprechen.

„Kleine Probleme“ von Nele Pollatschek

Unauf­ge­räumte Küche, über­flu­teter Post­ein­gang, offene Rech­nungen – trotz oder wegen ihrer schein­baren Bana­lität bergen alltäg­liche Probleme das Poten­zial für Nerven­zu­sam­men­brüche. Weshalb erzürnt einen das Nicht­funk­tio­nieren des eigenen WLANs mehr als die Krisen der Welt? Woher kommt die leiden­schaft­liche Hingabe für das Belang­lose? Damit beschäf­tigt sich der Roman „Kleine Probleme“ der Schrift­stel­lerin und Redak­teurin bei der Süddeut­schen Zeitung Nele Pollatschek.

Die 49-jährige Haupt­figur Lars leidet an Prokra­sti­na­tion, also am perma­nenten Aufschieben von Aufgaben und Pflichten. Es ist Silve­ster und der zwei­fache Fami­li­en­vater steht mit einer 13-Punkte langen To-do-Liste allein in der Küche: Steu­er­erklä­rung, Lebens­werk, Nudel­salat, „es gut machen“ – mit seiner Liste versucht der ange­hende Schrift­steller, Ordnung in sein Leben zu bringen.

Bis vor Mitter­nacht müssen die Punkte abge­ar­beitet sein. Bis dahin raucht sich der zukünf­tige Nicht­rau­cher durch seine Liste – mal hoff­nungs­froh, sehr oft verzwei­felt und sich selbst bejam­mernd, aber immer im Dialog mit den mahnenden Stimmen der anderen im Kopf. In einer rasch voran­schrei­tenden humor­vollen Sprache reflek­tiert Nele Pollat­schek über die Tragik des Alltäg­li­chen. „Kleine Probleme“ ist ein raffi­niertes Buch – und bringt zum Lachen.

Nele Pollat­schek: Kleine Probleme, Galiani 2023. Jetzt bestellen bei der Buch­hand­lung Para­noia City.

„Fast ein neues Leben“ von Anna Prizkau

Deutsch­land, 1990er-Jahre. Ankommen als Auslän­derin. In einem Land, das den Natio­nal­stolz wieder­ent­deckt, wo das Spre­chen in einer anderen Sprache im öffent­li­chen Raum gefähr­lich sein kann. „Das Schweigen und Verschweigen. Der Wunsch, so auszu­sehen, so zu spre­chen wie alle anderen. So zu sein wie sie. Die Angst vor dieser einen Frage: Woher kommst du?“

Das Fremd­heits­ge­fühl aus ihrer eigenen Perspek­tive zu erzählen in der Hoff­nung, damit seinen univer­sellen Charakter darzu­stellen – dies nahm sich Anna Prizkau in ihrem Erzähl­band „Fast ein neues Leben“ vor. 1986 in Moskau geboren, kam Prizkau in den 1990er-Jahren mit ihren Eltern nach Deutsch­land und verar­beitet in ihrem Erzähl­band ihre eigenen Erleb­nisse. Zwölf Geschichten einer namen­losen Ich-Erzäh­lerin in unter­schied­li­chen Phasen ihrer Kind­heit und Jugend sind daraus entstanden.

Darin spricht die Erzäh­lerin über den neuen Alltag, den sie kennen­lernen muss – über das eben immer nur fast neue Leben. Sie schreibt von der trau­rigen Mutter, die sich nach dem alten Land zurück­sehnt und in eine Depres­sion fällt, vom ambi­tio­nierten Vater, der ihr gegen­über zukunfts­op­ti­mi­stisch im Aufbruch begriffen ist.

Sie erzählt von deut­schen Kindern, die in den Hort gehen, während die anderen abseits­stehen. Über die Blicke der Deut­schen und die Gewalt, die sie erfährt. Die nüch­terne Sprache der Autorin, ihre Fähig­keit, präzise zu sein, ohne den Text mit Details zu über­laden und ihr Mut zur Lücke geben diesem Erzähl­band Inten­sität und Span­nung. Auch drei Jahre nach seinem Erscheinen ist er noch immer drin­gende Lektüreempfehlung.

Anna Prizkau: Fast ein neues Leben, Frie­de­nauer Presse 2020. Jetzt bestellen bei der Buch­hand­lung Para­noia City.

„Der grosse Wunsch“ von Sherko Fatah

Im Deutsch­land der 2010er-Jahre machten sich Schät­zungen zufolge bis zu 1’000 Menschen nach Syrien und in den Irak auf, um sich dem soge­nannten Isla­mi­schen Staat anzu­schliessen. Was trieb sie an? Weshalb tauschten sie Frieden ein gegen Kalifat und Tyrannei? „Viel­leicht erzieht ihr sie falsch“, meint eine Soldatin in Sherko Fatahs neuem Roman „Der grosse Wunsch“ zu Murad, der Hauptfigur.

Er hat sich aufge­macht in das türkisch-syri­sche Grenz­ge­biet, um seine Tochter Naima zu finden. Mit einem Krieger namens Faruk soll sie sich in Raqqa aufhalten, wie er über mehrere Boten erfährt. Murad will seine Tochter wieder­sehen und setzt dafür alle Hebel in Bewe­gung. Mit jedem Tele­fonat mit Naimas Mutter und seiner Ex-Frau Doro­thee inten­si­viert sich sein schlechtes Gewissen – das Gefühl der Schuld über den Fort­gang seiner Tochter.

Während die kurdi­schen Kräfte mit der Unter­stüt­zung der USA den Kampf gegen den IS voran­treiben, macht sich Murad auf nach Syrien. Wird er Naima wieder­sehen? Es ist diese Frage, die Fatahs Roman mit einer gewal­tigen Span­nung auflädt, die die Geschichte durch die vielen Refle­xionen über Heimat, Familie und Kultur trägt. Ein genau recher­chierter Roman verfasst in einer einfa­chen Sprache, die nicht zu viel will – und deshalb Grosses erreicht.

Sherko Fatah: Der grosse Wunsch, Luch­ter­hand Lite­ra­tur­verlag 2023, jetzt bestellen bei der Buch­hand­lung Para­noia City.

„Keiner betete an ihren Gräbern“ von Khaled Khalifa

„So wie wir jetzt leben, kann man nicht leben“, meinte der syri­sche Autor Khaled Khalifa im Früh­ling dieses Jahres während einer Lesung in Zürich, wo er sich für eine Schreib­re­si­denz aufhielt. Fünf Monate später starb Khalifa im Alter von 59 Jahren an einem Herz­in­farkt. In Damaskus, jenem Ort, wo er trotz des Syri­schen Bürger­krieges geblieben war und zahl­reiche Romane und Dreh­bü­cher schrieb.

Wegen seiner anhal­tenden Kritik am Regime ist sein Werk in Syrien verboten – im Ausland wird es gefeiert. Zu Recht, wie der 2022 im Deut­schen erschie­nene Roman „Keiner betete an ihren Gräbern“ in der Über­set­zung von Larissa Bender zeigt. Ein zutiefst trau­riges, mitreis­sendes und zugleich leiden­schaft­li­ches Buch. Auf über 500 Seiten schil­dert Khalifa das Leben von Menschen verschie­dener Gene­ra­tionen in Aleppo.

Er richtet den Blick zurück zum Ende des 19. Jahr­hun­dert, als Muslim*innen, Christ*innen und Jüd*innen in Aleppo zusam­men­lebten. Mit seinen Figuren schreitet er durch die Zeit bis ins Jahr 1951. Im Zentrum steht dabei die Freund­schaft zwischen dem Chri­sten Hanna und dem Muslim Zakaria, von denen der Text ein Netz an Figuren spannt, über das ein Verzeichnis am Ende des Buches einen Über­blick verschafft (und das für die Lektüre sehr hilf­reich ist). Während die einen von ihnen von tragi­schen Natur­ka­ta­stro­phen heim­ge­sucht werden, befinden sich die anderen auf der Flucht vor der Osma­ni­schen Herrschaft.

„Keiner betete an ihren Gräbern“ ist ein Roman, der an die trau­rige Gegen­wart Syriens erin­nert. Khalifa schreibt über den Aufbau und die Zerstö­rung, die Willkür des Todes und der zum Schei­tern verur­teilten Liebe. „Ich möchte in Syrien sterben und neben meiner Mutter begraben werden“, sagte Khalifa während einer Lesung in Berlin. Immerhin dieser Wunsch ist ihm in Erfül­lung gegangen.

Khaled Khalifa: Keiner betete an ihren Gräbern, Rowohlt 2022, jetzt bestellen bei der Buch­hand­lung Para­noia City.

Dass Wünsche zu Weih­nachten in der Regel nicht in Erfül­lung gehen und Vorsätze fürs neue Jahr meist schon in der ersten Janu­ar­woche ihren Schwung verloren haben, daran kann auch die Lite­ratur nichts ändern. Und obwohl Pollat­schek, Prizkau, Fatah und Khalifa aus ihren Leser*innen keine Engel machen oder ihnen das para­die­si­sche Morgen prophe­zeien, voll­bringen sie doch Wunder: grosse Unter­hal­tung und die Anre­gung der Gedanken – nur in Worten.


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