«Liebe ist nie frei von patri­ar­chalen Strukturen»

Für die Poli­to­login Emilia Roig sind roman­ti­sche Bezie­hungen Orte struk­tu­reller Ungleich­heit, die Ehe die Stütze des Patri­ar­chats. Im Inter­view erklärt sie, warum sie dennoch nicht allen von der Ehe abrät, was Pene­tra­tion mit Gewalt zu tun hat und warum das Patri­ar­chat auch Männer hasst. 
Emilia Roig fordert die Abschaffung der Institution Ehe, damit sich Liebe von strukturellen Ungleichheiten lösen kann. (Bild: Mohamed Badarne)

Liebe ist auch Akti­vismus. Das schreibt die fran­zö­si­sche Autorin und Poli­to­login Emilia Roig, die sich welt­weit für Gerech­tig­keit und Gleich­heit einsetzt. Bekannt ist sie vor allem für ihre Haltung zur Liebe: Denn diese ist für sie kein intimes privates Gefühl, das allein zwischen zwei Menschen entsteht. Sie versteht die roman­ti­sche Liebe als Teil des Patri­ar­chats. Jenem System, das Männer bevor­zugt und Frauen benachteiligt.

Nachdem sie in ihrem ersten Buch Why we Matter Rassismus und soziale Ungleich­heit beleuch­tete, verschrieb sie sich danach der Liebe. Dazu gehört auch Roigs Forde­rung, dass die Ehe abge­schafft werden soll. Sie sei eine der wich­tig­sten Säulen der patri­ar­chalen Ordnung, schreibt sie in ihrem zweiten Buch Das Ende der Ehe. In ihrem aktu­ellen, dritten Werk Lieben löst sie die Emotion schliess­lich von der reinen Part­ner­schaft und weitet sie auf Freund­schaft, Natur und Kosmos aus.

„Wir alle sind in einem System gefangen, das aus Normen, Gesetzen und tradi­tio­nellen Vorstel­lungen besteht, die sich zwangs­weise auf unsere Liebe auswirken.“

Neben der gesell­schaft­li­chen Perspek­tive gibt Roig auch einiges über sich preis. Sie wuchs in einer „patri­ar­chalen Klein­fa­milie“ – mit einer Mutter aus Marti­nique und einem jüdisch-alge­ri­schen Vater – in Paris auf. Roig war zudem selbst vier Jahre verhei­ratet und hat einen Sohn. Heute ist sie geschieden und lebt mit ihrem Sohn in Berlin.

Emilia Roig kriti­siert und pola­ri­siert – sei es mit ihren Ansichten zur Ehe oder zuletzt zum Nahost­kon­flikt. Zwar verur­teilte sie den Angriff der Hamas, machte aber schnell klar, dass sie trotz ihrer jüdi­schen Abstam­mung nicht auf der Seite Israels stehe. Roig versteht sich selbst jedoch nicht als Akti­vi­stin. Sie sagt aber: „Wenn akti­vi­stisch bedeutet, dass ich den Status Quo nicht akzep­tiere, dann bin ich wohl aktivistisch.“

Das Lamm: Emilia Roig, Sie kriti­sieren die hete­ro­nor­ma­tive Liebe. Aber wenn zwei Menschen sich lieben und fürein­ander entscheiden, was spricht Ihrer Meinung nach dagegen?

Emilia Roig: Gegen die Liebe an sich spricht nichts. Es ist aber wichtig zu verstehen, in welchem Kontext diese statt­findet. Wir alle sind in einem System gefangen, das aus Normen, Gesetzen und tradi­tio­nellen Vorstel­lungen besteht, die sich zwangs­weise auf unsere Liebe auswirken.

Wie sieht dieses System aus?

Das kapi­ta­li­sti­sche Patri­ar­chat beruht auf der Vorstel­lung, dass das Männ­liche dem Weib­li­chen über­ge­ordnet ist. Auch in Liebe und Bezie­hungen entsteht dadurch ein Ungleich­ge­wicht, da Lohn- und Care-Arbeit unter­schied­lich bewertet werden. In hete­ro­se­xu­ellen Ehen führt dies oft zu finan­zi­eller Abhän­gig­keit der Frau – eine Abhän­gig­keit, die jedoch durch Erzäh­lungen verschleiert wird, wie etwa, dass sich eine Frau durch die Bezie­hung mit einem Mann „vervoll­stän­digt“. Männern hingegen wird vermit­telt, sie verlören durch eine feste Bindung ihre Auto­nomie. Tatsäch­lich zeigen Studien aber, dass Frauen als Singles glück­li­cher sind und Männer, wenn sie verhei­ratet sind. Denn Männer sind stärker auf roman­ti­sche Bezie­hungen ange­wiesen, da sie von Frauen nicht nur emotio­nale Unter­stüt­zung erhalten, sondern auch tägliche Unter­stüt­zung im Haushalt.

In gleich­ge­schlecht­li­chen Bezie­hungen gibt es diese Unter­schiede nicht. Ist ihre Liebe frei von patri­ar­chalen Strukturen?

Nicht ganz. Wir alle sind in dieser Gesell­schaft sozia­li­siert und einge­bettet. Keine Liebe oder Bezie­hung ist deshalb frei von patri­ar­chalen Struk­turen. Das gilt für queere Paare, aber auch für Mutter-Kind-Bezie­hungen oder Freundschaften.

Sie waren selbst vier Jahre lang verhei­ratet. Wann haben Sie diese Muster in Ihrer Ehe bemerkt?

Ich habe sie sehr lange nicht erkannt, obwohl ich ein grund­sätz­li­ches Unwohl­sein gespürt habe. Erst als wir zusam­men­ge­zogen sind und dann nochmal stärker, als unser Sohn zur Welt kam, wurde mir bewusst, dass ich viel mehr Care-Arbeit über­nehme als mein Mann und ich habe mich ausge­beutet gefühlt.

Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Ja, aber es waren keine einfa­chen Gespräche. Er ist in einer tradi­tio­nellen Familie aufge­wachsen, in der er der einzige Sohn unter fünf Kindern war. Er hat die patri­ar­chalen Rollen­bilder – genau wie ich – tief verinnerlicht.

Führte das schliess­lich zum Ende Ihrer Ehe?

Zum einen ja. Wir haben uns zwar geliebt, aber dieses Problem war unüber­windbar. Zudem wollte ich mit Frauen sein.

„Die Abschaf­fung der Ehe bedeutet einen Para­dig­men­wechsel auf poli­ti­scher, kultu­reller, wirt­schaft­li­cher und gesell­schaft­li­cher Ebene.“

Unab­hängig von Ihrer eigenen Geschichte gibt es viele Menschen, die heiraten wollen oder sagen, sie führten eine glück­liche Ehe. Was würden Sie dem entgegenhalten?

Ich will niemanden vom Heiraten abhalten. Im Gegen­teil, wenn ein Paar sich sehr tradi­tio­nell patri­ar­chal orga­ni­siert, die Frau ihre Lohn­ar­beit redu­ziert und mehr Care-Arbeit über­nimmt, rate ich ihr sogar, zu heiraten. Denn es ist für sie die einzige Möglich­keit, sich finan­ziell abzusichern.

Trotzdem haben Sie in Ihrem Buch die Abschaf­fung der Ehe gefordert.

Das heisst aber nicht, dass heiraten verboten werden soll. Die Abschaf­fung der Ehe bedeutet viel­mehr einen Para­dig­men­wechsel auf poli­ti­scher, kultu­reller, wirt­schaft­li­cher und gesell­schaft­li­cher Ebene. Der Staat soll nicht mehr in die Hier­ar­chie der mensch­li­chen Bezie­hungen eingreifen. Warum soll die Ehe über allem stehen? Weshalb ist sie die einzige Möglich­keit, um abge­si­chert zu sein? Wieso können Fürsor­ge­ge­mein­schaften oder Freund­schaften nicht dieselbe Funk­tion über­nehmen? Darum geht es mir.

Welche Rolle spielt hierbei das binäre Geschlechtersystem?

Eine grosse. Die Ehe basiert in ihrem Grund­satz nach wie vor darauf, dass es zwei vonein­ander getrennte, biolo­gisch unver­än­der­bare Geschlechter gibt. Diese stehen in einer klaren Hier­ar­chie zuein­ander. Zwar wurde dieses Modell durch die Öffnung der Ehe für gleich­ge­schlecht­liche Paare teils erwei­tert, trotzdem bleibt die recht­liche Orga­ni­sa­tion vieler Staaten in weiten Teilen binär. Wissen­schaft­lich wurde jedoch längst bewiesen, dass die Vorstel­lung eines binären Geschlechts keine biolo­gi­sche Grund­lage hat, sondern durch soziale, poli­ti­sche und kultu­relle Faktoren geprägt ist.

Sie sagen, es gibt biolo­gisch gesehen kein weib­li­ches und männ­li­ches Geschlecht?

Es gibt Vaginas und Penisse, aber unsere Anatomie und Geschlechts­or­gane sollten nicht bestimmten, wie viel Macht wir in der Gesell­schaft haben, wie sehr wir uns um andere kümmern oder wie viel wir verdienen. Wenn wir zudem an dieser starren Eintei­lung in zwei Geschlechter fest­halten, bedeutet es, dass Menschen, die in keine dieser Kate­go­rien passen, keinen Platz in unserer Gesell­schaft haben.

„Wir sollten Platz für verschie­dene Bezie­hungs­formen schaffen. Damit durch­bre­chen wir die Hier­ar­chie der mensch­li­chen Bezie­hungen, in der die hete­ro­se­xu­elle Mono­gamie nach wie vor an der Spitze steht.“

Geschlechter sind für Sie auch zentral, wenn es um Sexua­lität geht. Können Sie das erklären?

Das patri­ar­chale System gibt uns vor, dass es nur eine Form von „natür­li­cher“ Sexua­lität gibt: die Hete­ro­se­xua­lität. Sie bestimmt, mit wem wir leben, wie wir den Haus­halt orga­ni­sieren und wer sich um die Kinder kümmert. Wenn wir aber in die Tier­welt schauen, gibt es keine Norm. Für die Fort­pflan­zung braucht es zwar in den meisten Fällen Männ­chen und Weib­chen – doch selbst das ist nicht bei allen Tier­arten so. Zudem haben die meisten Tiere auch gleich­ge­schlecht­li­chen Sex. Somit dient Sex in der Tier­welt nicht ausschliess­lich der Fort­pflan­zung. Und auch bei Menschen ist es so: Der meiste Sex geschieht aus reinem Vergnügen, und nicht, um Kinder zu zeugen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, die Pene­tra­tion sei ein Mittel patri­ar­chaler Unter­drückung. Ist das nicht etwas extrem?

Ohne Kontext mag es extrem klingen. Der Akt selbst ist nicht das Problem, sondern das System, in dem er statt­findet. Es basiert auf patri­ar­chalen Macht­ver­hält­nissen, in denen Frauen struk­tu­rell benach­tei­ligt sind und Opfer von Gewalt durch Männer werden. Die Pene­tra­tion steht in diesem System symbo­lisch für die Ausübung von Macht, die tief in der Gesell­schaft veran­kert ist – in Medien, Normen und Bezie­hungen. Die Tatsache, dass alle zwei­ein­halb Tage eine Frau von ihrem Partner oder Ex getötet wird, zeigt die Trag­weite dieser Gewalt. Sie lässt sich nicht isoliert betrachten, sondern ist Ausdruck eines Systems, das Sexua­lität mit Kontrolle und Domi­nanz verbindet.

Aber nicht alle Männer sind gewalttätig.

Das stimmt. Aber jene, die gewalt­tätig sind, sind fast immer Männer. Männer verfügen kollektiv über patri­ar­chale Macht, auch wenn sie selbst nicht gewalt­voll sind. Jede Frau weiss, dass sie poten­ziell Gewalt durch einen Mann erfahren kann oder Angst haben muss, wenn sie nachts allein nach Hause läuft.

Immer mehr Menschen entscheiden sich für eine offene Bezie­hung oder Poly­amorie. Ist das ein Weg, um aus diesem System auszubrechen?

Ich plädiere nicht für die eine oder andere Bezie­hungs­form. Aber wir sollten Platz schaffen für verschie­dene Formen. Damit durch­bre­chen wir die Hier­ar­chie der mensch­li­chen Bezie­hungen, in der die hete­ro­se­xu­elle Mono­gamie nach wie vor an der Spitze steht. Und wir sollten die Liebe von der reinen Paar­be­zie­hung lösen.

Das heisst?

Die Liebe ist eine Kraft, die uns immer und überall begleitet. Eine, die wir auch auf andere Teile des Lebens ausweiten sollten, wie etwa Freund­schaften, Natur, Tiere oder Kosmos.

„Das Patri­ar­chat ist im Grunde das Gegen­teil von Liebe. Es ist voller Hass auf Frauen, auf nicht­bi­näre Menschen und auf Männer selbst.“

Trotzdem erleben viele von uns dieses Gefühl von Herz­klopfen und starkem Verlangen vor allem in der roman­ti­schen Liebe zu einer anderen Person. Müssen wir dieses Gefühl aufgeben oder sogar unterdrücken?

Nein, dieses Gefühl ist wunder­schön und wir sollten es voll und ganz ausleben. Aber wir dürfen nicht verleugnen, dass es in einem System voller Ungleich­heit, Unter­drückung und Gewalt statt­findet. Wir alle müssen gegen dieses System ankämpfen. Auch inner­halb von Beziehungen.

Denken Sie, auf diese Weise können wir patri­ar­chale Struk­turen aus der Liebe fernhalten?

Solange das Patri­ar­chat existiert, wird das kaum möglich sein. Ich denke aber, das Patri­ar­chat wird lang­fri­stig nicht überleben.

Was macht Sie zuversichtlich?

Die poli­ti­schen Zeichen welt­weit zeigen zwar derzeit eher in eine andere Rich­tung, aber ich glaube, das sind die letzten Wider­stände, bevor wir in eine neue Ära kommen.

Welche Rolle spielt die Liebe für die Abschaf­fung des Patriarchats?

Für jede Verän­de­rung, jeden Fort­schritt und jede Revo­lu­tion braucht es die Liebe. Das Patri­ar­chat ist im Grunde das Gegen­teil von Liebe. Es ist voller Hass auf Frauen, auf nicht­bi­näre Menschen und auf Männer selbst. Letz­teren nimmt es die Chance, anderen auf Augen­höhe zu begegnen – eine wesent­liche mensch­liche Erfah­rung. Die Abschaf­fung des Patri­ar­chats bedeutet deshalb Liebe für alle Menschen.

Emilia Roig: Das Ende der Ehe. Ullstein, 2023. S. 384. 

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Emilia Roig: Lieben. Hanser Berlin, 2024, S. 128. 

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