Man muss sich Männlichkeit als zerbrechliche Vase und die feministische Bewegung als Elefanten im Porzellanladen vorstellen; anders lässt sich die Rundschaureportage „Leidende Männer“ nicht erklären. Kurz zusammengefasst konnten sich dort ein paar cis Männer, allen voran Leiter von Männlichkeitsgruppen, darüber beschweren, dass die Frauenbewegung „zu weit“ gegangen sei, dass cis Männer vermehrt verdrängt würden, aus Jobs, aus dem Liebesleben. Und überhaupt: Was haben Männer in dieser Welt noch zu sagen, in der sie lediglich 90 Prozent der Staatshäupter stellen?
Auf die einzelnen Argumente einzugehen, ist müssig. Auch, weil sie sich in den letzten Jahren kaum verändert haben. Bereits in den 90er-Jahren schrieben Politiker und Medien gegen den „Mythos von männlichem Privileg“ und „den Feminismus“ an; eine Reaktion, die die Feministin Susan Fauldi 1991 in ihrem gleichnamigen Buch als Backlash betitelte.
Darum nur so viel: Wir leben in einem Land, in dem vier von sieben Exekutivmitgliedern, 58 Prozent der National- und 74 Prozent der Ständerät:innen sowie der gesamte Vorstand des Verlegerverbands männlich sind. Eine stärkere und mächtigere Lobbygruppe als cis Männer gibt es nicht.
Aber natürlich, Männer leiden. Sie leiden an einem Versprechen, wonach ein Leben nach dem Geschlechterrollendrehbuch – aufmüpfig und frech in der Grundschule, raumeinnehmend und laut in der höheren Bildung, dominant und beherrschend im Privat- und Berufsleben – mit Erfolg auf der Bühne der Gesellschaft belohnt wird. Diese ist aber je länger je mehr nicht mehr bereit, dieses Versprechen zu erfüllen.
Weil dieses Versprechen, diese gesellschaftliche Hauptrolle von (weissen) cis Männern immer auf Kosten der Nebenrollen war: Das politische und ökonomische Scheinwerferlicht streifte die Lebensrealität von Frauen, trans Menschen und People of Color selten. Wem ständig gesagt wird, seine Meinung sei relevant, merkt irgendwann nicht, dass er mit seiner Stimme andere übertönt und zum Schweigen bringt – oder es wird ihm irgendwann egal.
Die feministische Bewegung stellt seit jeher die Rolle und Privilegien von cis Männern in Frage. Nicht aus Ungunst oder Neid, sondern aus Notwendigkeit. Weil ein Schattendasein materielle Konsequenzen hat: Frauen leiden in der Schweiz häufiger an Altersarmut, haben aufgrund struktureller Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt eine tiefere AHV- und Pensionskassenrente. Sie leiden unter sexualisierter Gewalt und darunter, dass ihnen diese Erfahrung immer wieder und gerade von cis Männern abgesprochen wird.
Aber natürlich, Männer leiden auch. Der gesellschaftliche Aushandlungsprozess darüber, was Männlichkeit sein soll bedeutet ein Verlust von Privilegien. Und das ist gut so, auch wenn es weh tut, weil es die eigene Biografie vieler cis Männer in Frage stellt: Vielleicht war ich gar nicht der Schlauste im Uni-Seminar, der Fähigste für das Praktikum, der Führungsstärkste für die Beförderung. Vielleicht war ich einfach der Einzige, der gesehen und gehört wurde.
Journalistisch spricht wenig dagegen, eine Gruppe zu porträtieren, die unter gesellschaftlichen Rollenbilder leidet. Auch nicht, wenn es sich bei der Gruppe um cis Männer handelt. Aber warum handelt der Beitrag nicht von bisexuellen Männern, von Männern mit Behinderung oder von Männern, die Rassismuserfahrungen machen – von all jenen also, die nicht dem hegemonialen Männlichkeitsbild entsprechen? Warum das Sprechrohr wieder denen geben, die immer sprechen können und die bei jedem Anspruch auf mehr Rechte seitens der feministischen Bewegung ihren eigenen Statusverlust beklagen, anstatt zu hinterfragen, auf wessen Kosten sie diesen überhaupt erlangt haben?
Aber natürlich, Männer leiden. Und wenn sie der feministischen Bewegung zuhören, wissen sie bald auch, woran.
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