Männer töten Frauen – und die Schweiz nimmt es hin

Jeder dritte Mord in der Schweiz ist ein Femizid. Trotzdem fehlt das Verständnis dafür, dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden, noch immer. Das verant­worten auch Staat und Politik. 
"Nicht alle verstehen dasselbe unter dem Begriff Femizid, aber es geht immer um patriarchale Machtverhältnisse", Sim Eggler, Expert*in für geschlechterspezifische Gewalt. (Illustration: Iris Weidmann)

Inhalts­war­nung: Dieser Beitrag enthält Schil­de­rungen eines Femi­zids.

Am 24. Mai 2024 verur­teilte das Bezirks­ge­richt Lenz­burg einen Mann zu 14 Jahren Haft. Er hat im März vor drei Jahren seine Frau ermordet.

Laut Polizei ist der Notruf um 00.50 Uhr einge­gangen. Die Tochter des Ehepaars meldet, sie habe die Mutter schreien gehört. Als Polizei und Sanität eintreffen, ist die Schlaf­zim­mertür von innen verschlossen. Nachdem der Mann sie öffnete, sehen sie die Frau leblos im Bett liegen. Sie wurde laut Bericht mehrere Minuten gewürgt. Trotz Reani­ma­tion stirbt sie wenige Tage später im Spital.

Was sich wie ein Einzel­fall liest, ist leider keiner: Allein im selben Monat wurden in der Schweiz mutmass­lich vier weitere Frauen durch die Hände von Männern getötet. So viele zählte zumin­dest das frei­wil­lige Recher­che­pro­jekt Stop Femizid auf Basis von Polizei- und Medienberichten.

Offi­zi­elle Zahlen zu Femi­ziden in der Schweiz gibt es nicht. 

Nur jene frei­wil­liger Kollek­tive, die aber keinen Anspruch auf Voll­stän­dig­keit haben. Trotzdem sind ihre Zahle alar­mie­rend: Stop Femizid erfasste für das Jahr 2023 vier versuchte und 18 voll­endete Tötungen von Frauen durch Männer. Das Netz­werk Contre les Femicides spricht gar von 24 Femi­ziden. Zur Rela­tion: Im selben Jahr gab es schweiz­weit insge­samt 53 Tötungsdelikte.

Mehr als jede dritte Tötung in der Schweiz ist also ein Femizid.

Der Ruf nach Zahlen

„Ich frage mich, warum Femi­zide in der Schweiz einfach hinge­nommen werden“, sagt Pia Alle­mann von der Bera­tungs­stelle BIF für Frauen gegen Gewalt. Draussen rüttelt der Wind an den Fenstern des Bera­tungs­zim­mers. Wenn in Spanien eine Frau getötet werde, gingen die Leute auf die Strasse und die Politik disku­tiere sofort über Mass­nahmen. Ähnlich wie vergan­genen März in Zürich, als ein ortho­doxer Jude nieder­ge­sto­chen wurde. „Einen solchen Aufschrei bräuchte es auch bei jedem Femizid“, sagt Allemann.

Aktivist*innen, Expert*innen und einzelne Politiker*innen fordern deshalb seit Jahren, dass der Bund Femi­zide stati­stisch erfasse. Nur was man bezif­fere, könne man bekämpfen, so der Appell.

Eine offi­zi­elle Kate­gorie für Femi­zide könnte dazu beitragen, dass Gewalt an Frauen nicht als „private“ Ausnah­me­fälle wahr­ge­nommen werden.

Das Eidge­nös­si­sche Depar­te­ment des Innern (EDI) dagegen argu­men­tiert, versuchte und voll­endete Tötungs­de­likte würden jähr­lich in der poli­zei­li­chen Krimi­nal­sta­ti­stik veröf­fent­licht. Die Daten basierten auf den Straf­be­ständen des Straf­ge­setz­bu­ches. Dort existiere der Begriff „Femizid“ nicht. 

Die Stati­stik weise jedoch von Täter*innen wie Opfern das Geschlecht aus, so das EDI weiter. In der Stati­stik zur häus­li­chen Gewalt erfasse man zudem die Bezie­hung von beiden. Letz­tere zeigt: Im Schnitt stirbt alle zwei Wochen eine Frau durch ihren Partner, Ex-Mann oder ein anderes Familienmitglied.

Aber genügen diese Zahlen?

Andrea Isabel Frei hat in ihrer Master­ar­beit unter­sucht, was es bedeutet, wenn Femi­zide nicht offi­ziell erfasst werden. UN-Orga­ni­sa­tionen verstehen Femi­zide als geschlech­ter­ba­sierte Gewalt, unab­hängig vom öffent­li­chen oder häus­li­chen Bereich. Der Begriff „Tötungen im häus­li­chen Bereich“ ist laut Frei daher unge­nü­gend, wenn die Öffent­lich­keit über die aner­kannte Ursache dieser Gewalt infor­miert werden soll. Eine offi­zi­elle Kate­gorie für Femi­zide könnte dazu beitragen, dass Gewalt an Frauen nicht als „private“ Ausnah­me­fälle wahr­ge­nommen werden, sondern als alltäg­li­ches, gesell­schaft­li­ches Phänomen der struk­tu­rellen Ungleich­heit zwischen Mann und Frau, so das Fazit von Frei.

Ein Begriff, viele Definitionen

Im April 2022 wurde eine Ostschwei­zerin mutmass­lich von ihrem Stalker getötet. Die Mutter der 21-Jährigen sagte gegen­über den Medien, der Täter habe ihre Tochter auf einer Party kennen­ge­lernt. Die beiden hätten nie eine Bezie­hung geführt. Statt­dessen habe er sie gestalkt. Als sie für ihr Studium nach Hamburg zog, reiste er ihr nach, erschoss erst sie und anschlies­send sich selbst.

Der Begriff „Femizid“ ist nicht klar defi­niert. Die Sozio­login Diane Russell über­setzte ihn 1976 als die vorsätz­liche Tötung von Frauen durch Männer aufgrund ihres Geschlechts. Etwas weiter gefasst ist das spani­sche Wort „Femi­ni­cido“, auf Deutsch Femi­nizid. Bekannt wurde der Begriff durch die femi­ni­sti­sche Bewe­gung „Ni una menos“. Eine Reihe von Protest­mär­schen, die 2015 in Argen­ti­nien begannen, nachdem eine 14-Jährige von ihrem Freund getötet wurde, weil sie nicht abtreiben wollte.

„Trans Frauen sind von beson­ders viel Gewalt betroffen, da ‚Trans-Sein‘ aus Sicht der Täter die patri­ar­chale Ordnung infrage stellt.“

Sim Eggler, Expert*in für geschlech­ter­spe­zi­fi­sche Gewalt

Auch in Zürich und Basel ziehen Aktivist*innen regel­mässig durch die Strassen. Mit dem Aufruf „Ni una menos“ (zu Deutsch: nicht eine weniger) fordern sie vom Staat, dass er patri­ar­chale Gewalt verhindert.

„Nicht alle verstehen dasselbe unter dem Begriff Femizid, es geht aber immer um patri­ar­chale Macht­ver­hält­nisse“, sagt Sim Eggler. Eggler befasst sich seit 15 Jahren mit geschlech­ter­spe­zi­fi­scher Gewalt und erklärt: Dahinter stecke die Vorstel­lung, dass es zwei Geschlechter gebe, die in klarer Hier­ar­chie zuein­ander stehen. „Das weib­liche Leben ist dabei weniger wert und der Mann darf darüber verfügen.“

In dieses Konstrukt hinein spielen auch Gewalt­de­likte gegen trans Personen – vor allem gegen trans Frauen. „Sie sind von beson­ders viel Gewalt betroffen, da ‚Trans-Sein‘ aus Sicht der Täter die patri­ar­chale Ordnung infrage stellt. Dazu kommt der Hass auf ihre Weib­lich­keit“, so Eggler.

Eggler geht davon aus, dass die Zahl der Femi­zide in der Schweiz gar noch höher sei, als vermutet. Unter anderem, weil Femi­zide nicht klar als solche erfasst werden. Dazu kommt: Auch in der Schweiz werden nicht alle Verbre­chen erkannt. So ist etwa Gift als Tötungs­mittel schwer nach­zu­weisen, wie ein Fall in der NZZ zeigte. Die Schweiz führt zudem keine syste­ma­ti­schen Obduk­tionen durch. 

Geht es nach Eggler, so müssten poten­zi­elle Femi­zide genauer unter­sucht werden. „Wir müssen verstehen, wie es dazu kommen konnte, damit wir künf­tige Tötungen verhin­dern können.“

Täter gibt’s in allen Milieus

Mit der Über­nahme der Istanbul-Konven­tion 2018 hat sich die Schweiz verpflichtet, häus­liche Gewalt sowie Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen und zu verhindern.

Seither hat sich einiges getan: So wurden etwa kanto­nale Opfer­hil­fe­stellen einge­richtet. Bis Ende 2025 soll zudem allen Gewalt­be­trof­fenen eine natio­nale Hotline zur Verfü­gung stehen. Im selben Jahr will der Bund auch einen Bericht veröf­fent­li­chen, der die Tatbe­stände aller Tötungs­de­likte genauer darlegt.

Im Kanton Zürich läuft derzeit ein Pilot­ver­such für eine elek­tro­ni­sche Über­wa­chung. Dabei werden die Beschul­digten wie auch die Opfer 24 Stunden am Tag über­wacht. Im Falle einer Annä­he­rung wird, wenn nötig, die Polizei alar­miert. Der Pilot­ver­such läuft noch bis 2026, danach wollen Bund und Kantone entscheiden, wie es weitergeht.

Pia Alle­mann von der Opfer­hilfe begrüsst diese Form der Über­wa­chung. Sie war mit vor Ort, als nach dem parla­men­ta­ri­schen Vorstoss von Sibel Arslan eine Schweizer Dele­ga­tion nach Spanien reiste und sich ein Bild über den Einsatz elek­tro­ni­scher Hilfs­mittel machte. „Obwohl die Geräte für die Frauen einen grossen Eingriff bedeutet, haben fast alle Opfer gesagt, dass sie froh darüber sind, weil sie sich so wieder freier bewegen können“, so Allemann.

Jede Einspa­rung in der Gleich­stel­lungs­po­litik und jeder Entscheid gegen eine Aufstockung der Mittel für die Gleich­stel­lung erhöht das Risiko für einen weiteren Femizid.

Im Ernst­fall können die Geräte tatsäch­lich Leben retten. Denn Femi­zide in Bezie­hungen zeichnen sich oft ab, indem es früher schon Gewalt gab. „Heikel wird es dann, wenn es zur Tren­nung kommt“, sagt Alle­mann. Da schwinge dann oft der Gedanke mit: Wenn ich sie nicht haben kann, dann soll sie keiner haben.

Doch wer sind die Täter?

Rechte Parteien verorten das Thema geschlech­ter­spe­zi­fi­sche Gewalt gerne bei Migrant*innen. Und tatsäch­lich zeigt die Stati­stik: Als Ausländer*innen erfasste Personen sind sowohl bei den Tätern als auch den Opfern tenden­ziell über­ver­treten. „Hier spielen jedoch viele Faktoren hinein, die Gewalt gene­rell begün­stigen, wie Armut, soziale Unsi­cher­heit oder enge Wohn­ver­hält­nisse“, sagt Alle­mann. Gewalt und Femi­zide gebe es jedoch in allen Gesell­schafts­schichten – auch in bürger­li­chen Kreisen.

Das promi­nen­teste Beispiel hierzu ist die Schweizer Skirenn­fah­rerin Corinne Rey-Bellet. Sie wurde 2006 mit ihrem Bruder vermut­lich von ihrem Ehemann in einem Chalet erschossen. Vermu­tungen zufolge hatte sich das Paar kurz zuvor getrennt. Zwei Tage später tötete sich der Ehemann selbst.

Viel getan, aber nicht genug

„Wir müssen verstehen, dass Menschen auch in der Schweiz aufgrund ihres Geschlechts getötet werden“, sagt Eggler. Jede Einspa­rung in der Gleich­stel­lungs­po­litik und jeder Entscheid gegen eine Aufstockung der Mittel für die Gleich­stel­lung erhöhe deshalb auch das Risiko für einen weiteren Femizid. Ein Verständnis, das noch nicht überall ange­kommen sei.

Zu einem ähnli­chen Schluss kommt die Exper­ten­gruppe Grevio. Sie prüfte die Schweiz 2022 zur Umset­zung der Istanbul-Konven­tion und lobte unter anderem den natio­nalen Akti­ons­plan und die Mass­nahmen, die die Schweiz ergriffen hat, vor allem zur Verhin­de­rung von häus­li­cher Gewalt. Die Stra­tegie müsse jedoch auf geschlech­ter­spe­zi­fi­scher Perspek­tive erwei­tert werden und alle Formen von Gewalt gegen Frauen einschliessen, so das Fazit. Es brauche zudem mehr finan­zi­elle und perso­nelle Ressourcen, etwa für frau­en­spe­zi­fi­sche Opfer­hil­fe­zen­tren oder Notunterkünfte.

„Fami­li­en­drama“, ein verharm­lo­sender und irre­füh­render Begriff, den man heute zum Glück immer weniger liest – auch dank der Hart­näckig­keit von Expert*innen und Aktivist*innen.

Seit Inkraft­treten der Konven­tion hätten Bund und Kantone den Fokus von häus­li­cher Gewalt auf alle Gewalt­formen ausge­weitet, schreibt der Bund auf Anfrage. „Dabei wird zuneh­mend eine breite Defi­ni­tion verwendet, die auch struk­tu­relle Ursa­chen wie ungleiche Macht­ver­hält­nisse und fehlende Gleich­stel­lung berücksichtigt.“

Die Finanzen würden zudem regel­mässig über­prüft. Seit 2021 stehen jähr­lich drei Millionen Franken zur Verfü­gung für die Bekämp­fung von Gewalt gegen Frauen.

Man denke noch zu wenig lang­fri­stig, meint dagegen Eggler. „Menschen kommen nicht als Täter*innen zur Welt. Wir müssen deshalb so früh wie möglich verhin­dern, dass jemand über­haupt zum*zur Täter*in wird.“ In der Pflicht sieht Eggler etwa die Bildung, wo die Gleich­stel­lung der Geschlechter sowie Gewalt­prä­ven­tion zu wenig thema­ti­siert werde.

Als zweites Beispiel nennt Eggler die Gerichte: Väter hätten im Falle einer Schei­dung oft noch immer ein Sorge- und Besuchs­recht für ihre Kinder – selbst wenn sie gegen­über der Mutter Gewalt anwenden. „Und das, obwohl wir wissen, dass Kinder aus einem gewalt­tä­tigen Eltern­haus später eher dazu neigen, selbst Gewalt anzu­wenden“, so Eggler.

Staat in der Verantwortung

Am 21. März 2023 stach in Siders im Wallis ein 88-jähriger Mann mutmass­lich auf seine 79-jährige Ehefrau ein. Sie starb in der Folge, der Mann wurde fest­ge­nommen. Die Walliser Kantons­po­lizei schrieb dazu: In einer Wohnung in Siders habe sich ein „Fami­li­en­drama“ ereignet.

Ein verharm­lo­sender und irre­füh­render Begriff, den man heute zum Glück immer weniger liest – auch dank der Hart­näckig­keit von Expert*innen und Aktivist*innen.

Wer hingegen durch die Kommen­tare von Online-Platt­formen und sozialen Medien scrollt, liest immer wieder, dass Bezie­hung Privat­sache sei und die Opfer viel­leicht auch ihren Teil zur Gewalt­dy­namik beisteuerten.

„Das trägt sicher dazu bei, dass wir nicht mehr über Femi­zide spre­chen“, sagt Alle­mann von der Opfer­hilfe. Bei der Bekämp­fung von Femi­ziden, sieht sie vor allem den Staat in der Pflicht: Er habe die Aufgabe, die Bevöl­ke­rung zu schützen. Das gilt auch für Frauen.

Bei diesen Bera­tungs­stellen und Telefon-Hotlines finden Betrof­fene von Gewalt Hilfe.


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