„Man kann über sexu­elle Über­griffe spre­chen, ohne diese zu instrumentalisieren“

Im Thea­ter­stück „Töchter Europas” nähern sich Darstel­le­rinnen der Thematik sexu­eller Gewalt durch migran­ti­sche Männer an. Ein heikles Thema, ist der Grat zwischen Diffe­ren­zie­rung, Rela­ti­vie­rung und Mani­pu­la­tion oftmals sehr schmal. Die Regis­seurin Jasmine Hoch sprach mit das Lamm über Schock­vi­deos von rechts, unter­schied­liche Ängste und subjek­tive Zugänge zu einer heiklen Thematik. 

das Lamm: Im Stück „Töchter Europas“ geht es um Gewalt, verübt durch männ­liche Migranten, um Vorur­teile und die Instru­men­ta­li­sie­rung schreck­li­cher Taten durch die poli­ti­sche Rechte. Kein einfa­ches Thema…

Jasmine Hoch: Ich stiess im letzten Sommer im Internet zufällig auf das „Mein Name ist Mia“-Video. Das ist ein Schock­video, worin Frauen stell­ver­tre­tend für ihre betrof­fenen Geschlechts­ge­nos­sinnen von Über­griffen durch männ­liche Migranten in Europa berichten. Dahinter stecken die Frauen der 120dB-Bewe­gung [Anm.: Able­gerin der rechts­na­tio­nalen Iden­ti­tären Bewe­gung]. Ich habe dieses Video gesehen, und ich war komplett sprachlos darüber, wie hier aus schreck­li­chen Taten schamlos poli­ti­scher Profit geschlagen wird. Gleich­zeitig werden die Regie­rungen in ganz Europa immer rechter und popu­li­sti­scher, und der Diskurs wird immer ruppiger und kontext­loser. Sich dieser kompli­zierten Thematik anzu­nehmen, erschien mir unumgänglich.

Im Stück geht es um den Tod einer jungen Frau, ermordet durch einen marok­ka­ni­schen LKW-Fahrer. Ist das eine beab­sich­tigte Paral­lele zum Tod der jungen deut­schen Tram­perin Sophia L., deren Leiche vergan­genen Sommer in Spanien aufge­funden wurde?

Ja. Sophia verschwand während der Konzept­phase. Ich las davon in der Zeitung und spürte diese Zerris­sen­heit. Auf der einen Seite hoffte ich natür­lich, dass Sophia gefunden wird und es ihr gut geht, auf der anderen Seite ertappte ich mich aber auch dabei, wie ich an den poten­zi­ellen Täter dachte und hoffte, dass dies nicht zu einem Fall verkommt, der für Hass und Hetze herhalten muss. Wir haben auch sehr lange darüber disku­tiert, ob es vertretbar ist, einen so frischen Fall in der Produk­tion zu thema­ti­sieren. Wir entschieden uns dann für eine stark redu­zierte Version, an der die Mecha­nismen von realer Angst und poli­ti­scher Mani­pu­la­tion gut sichtbar werden.

Hattet ihr mit der Thema­ti­sie­rung dieses und anderer Über­griffe keine Angst, bestehende Ängste oder Vorur­teile zu repro­du­zieren oder zu verstärken?

Ich denke nicht, dass Vorur­teile repro­du­ziert werden. Die Frauen spre­chen über ihre eigenen Ängste und ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Hinter­grund, aber auch über ihre Erfah­rungen mit den Rechten. Sie reflek­tieren im Kern einfach ihre eigenen Erfah­rungen im Dialog und fällen somit keine mora­li­sie­renden Aussagen, sondern bleiben subjektiv und trans­pa­rent. Wo Ängste bestehen, dürfen diese meiner Meinung nach auch nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden. Wichtig ist aber Perspek­ti­vie­rung und Einordung.

Die Dialoge sind nicht gestellt, sondern entspre­chen den wahren Erfah­rungen der Frauen?

Ja, die Produk­tion zeigt auf, wie sich Frauen verschie­denen Themen annä­hern: dem Rechts­extre­mismus, den Mecha­nismen der Mani­pu­la­tion, dem Sexismus dieser Mani­pu­la­tion. Man kann auf der Bühne mitbe­ob­achten, wie die Frauen im diskur­siven Prozess neue Erfah­rungen gene­rieren und anfangen, die Mecha­nismen zu durch­schauen. Dieser Prozess ist nicht gestellt, sondern die Essenz der acht­mo­na­tigen Produk­tion. Die thema­ti­sierten Erfah­rungen und Ängste sind sehr divers, genau wie der Umgang damit.

Wie spricht man im Theater über tatsäch­liche Gewalt­er­fah­rungen oder Ängste und deren Instru­men­ta­li­sie­rung, ohne zu relativieren?

Da stehen fünf Frauen, die von extrem poli­tisch bis eher unpo­li­tisch eine unter­schied­liche Haltung haben auf der Bühne, und sie betrachten den ganzen Themen­kom­plex aus ihrer jeweils eigenen Perspek­tive. Dadurch werden die unter­schied­li­chen Haltungen sichtbar: Was gesagt wird, ist jeweils subjektiv – und nicht moralisierend.

Auf der Website des Thea­ters wird unter anderem der Begriff „Nafri“ verwendet, ein poli­zei­in­terner, diffa­mie­render Begriff für krimi­nelle Nord­afri­kaner. Wieso dieses Vokabular? 

Bei der Produk­tion geht es auch darum, wie sich etwa Poli­zei­sprache durch die eigene Kommu­ni­ka­tion und die Medien inner­halb der Bevöl­ke­rung ausbreitet, verselbst­stän­digt und plötz­lich weit­ge­hend gebraucht wird, ohne dass die Menschen den Hinter­grund und die abschät­zige Prägung verstehen. Somit wird etwa an diesem Begriff dieser Selbst­läu­fer­ef­fekt rund um Vorur­teile und Halb­wahr­heiten illustriert.

Etwas sehr Schlimmes ist passiert und das, was passiert ist, darf nicht herun­ter­ge­spielt oder rela­ti­viert werden. Aber ist Hetze und Verall­ge­mei­ne­rung deswegen okay? Und wo hört Frau­en­schutz auf und fängt Instru­men­ta­li­sie­rung an? Die Töchter Europas auf diskur­siver Spuren­suche. (Foto: Piero Weber)

Wie kann die Verbrei­tung solcher Halb­wahr­heiten einge­dämmt werden?

Während der Gespräche mit den Frauen wurde deut­lich, welche Rolle und Verant­wor­tung die Presse, Polizei und Lokal­po­litik bei solchen Fällen haben. Was wird kommu­ni­ziert? Und wie? Werden Ergeb­nisse abge­wartet oder unbe­stä­tigte Vermu­tungen verbreitet? Wie werden Straf­taten kontex­tua­li­siert und welche Para­meter des Täter­be­schriebs werden über­haupt bei der Bericht­erstat­tung beachtet? Die Komple­xität wird bei Über­griffen durch migran­ti­sche Personen oftmals massiv herun­ter­ge­setzt im Vergleich zu Tätern ‚von hier‘.

Eine gewisse Verant­wor­tung obliegt aber auch den Leser*innen – etwa, genauer hinzu­schauen und abzu­schätzen, anstatt sich unvoll­stän­dige Infor­ma­tionen anzu­eignen und zu verbreiten. Man kann sehr gut über die Thematik von sexu­ellen oder Gewalt-Über­griffen durch Asyl­su­chende oder Migranten spre­chen, ohne apolo­ge­tisch zu sein. Aber eben auch ohne zu hetzen und zu manipulieren.

Warum hast du dich dafür entschieden, ein exklusiv mit Frauen besetztes Stück zu machen? Wäre die Perspek­tive der Person, deren Existenz für rechte Propa­ganda miss­braucht wird, nicht minde­stens genauso beachtenswert?

Ich habe mir seit der Premiere viele Gedanken hierzu gemacht. Ich glaube, das wäre span­nend gewesen. Auf der anderen Seite haben sich aber de facto keine Männer gemeldet, die mitma­chen wollten. Aber aus dem Blick­winkel der Frauen, die ja alle­samt auch viele Männer kennen, welche in die Schweiz migriert sind, hätte ich durchaus etwas erfahren können. Das habe ich versäumt.

Um noch einmal auf Namen und Begriff­lich­keiten zurück­zu­kommen: Das Theater heisst „Töchter Europas“ — genauso nennen sich auch die Frauen der 120dB-Bewe­gung im früher thema­ti­sierten „Ich heisse Mia“-Video. Warum dieser Titel?

Ja, das stimmt, die iden­ti­tären Frauen nennen sich tatsäch­lich so. Aber wir machen keine Werbung für sie. Viel eher möchten wir ihnen diese Selbst­be­zeich­nung nicht über­lassen. Die Frauen im Stück setzen sich in einer Szene extrem stark damit ausein­ander, ob sie nun die Töchter Europas sind – zum einen aus ihrem eigenen Blick­winkel, zum anderen aus dem Blick­winkel der Rechten, denen sie oftmals nur dann etwas wert sind, wenn sich ihre Geschichten poli­tisch nutzbar machen lassen.

Mit welchem Ergebnis?

In ihrem Eigen­ver­ständnis sind sie alle die Töchter Europas: nicht aus dem Blick­winkel der Rechten, aber aus ihrem eigenen.

 


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 11 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 832 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel

Revolte statt Rosen

Der 8. März wird vielerorts als „Hommage an das weibliche Geschlecht“ verstanden. Dabei wird die politische Dimension des Tages komplett ignoriert. Eine Chronologie von über hundert Jahren proletarischem, feministischem Kampf.