Dieser Text erschien zuerst im 041 – Das Kulturmagazin (05/2022).
„Das Sex Stück redet über Sex“: Tabus sollen weggewischt, Sehnsüchte blankgelegt und Mythen aus dem Weg geräumt werden – so steht es auf der farbigen Webseite, die das neue Theaterstück vorstellt. Unter der künstlerischen Leitung von Beatrice Fleischlin und Nina Hellenkemper haben sieben Kompliz*innen im kollaborativen Prozess ihre eigenen Erfahrungen in das Stück einfliessen lassen.
Das Stück feierte Anfang Mai in Luzern Premiere und spielt nun vom 25. bis 28. Mai in einem eigens aufgestellten Zelt auf der Schulmatte Birsfelden in Basel. Kurz bevor die intensive Probenphase losging, hat das Lamm die beiden Künstlerinnen zum Interview getroffen.
Beatrice Fleischlin, 1971 geboren, ist mit acht Geschwistern in Sempach aufgewachsen. 2000 schloss sie ihr Studium an der Schauspielakademie Zürich (heute ZHdK) ab. Seitdem ist sie im Theater tätig; ob als Perfomerin, Texterin, Konzeptionistin oder Projektleiterin. Seit 2009 arbeitet Fleischlin kontinuierlich mit Anja Meser unter dem Kollektivnamen fleischlin/meser zusammen – 2021 erhielten sie einen Preis Darstellende Künste des BAK.

Nina Hellenkemper ist in Köln aufgewachsen und hat schon als Teenagerin das Theater für sich entdeckt. Mit 15 erhielt sie die erste Rolle im Kölner Schauspielhaus. Danach studierte sie Theater‑, Film- und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Ethnologie. Nach Zeiten am Theater arbeitet sie seit vielen Jahren als freie Radio- und Fernsehautorin und Regisseurin für die ARD.
Das Lamm: Beatrice Fleischlin und Nina Hellenkemper, mal ehrlich: Haben Sie Ihr Stück „Das Sex Stück“ genannt, weil sex sells?
Nina Hellenkemper: (lacht) Eigentlich nicht. Als wir das Thema festgelegt hatten, sind wir spazieren gegangen und haben uns Titel überlegt. „Das Sex Stück“ hat uns gut gefallen.
Beatrice Fleischlin: Es ist ja so ein Fadengrad-in-die-Fresse-Titel. Es heisst nicht „Der Garten Eden“ oder „Früchte der Verführung“, sondern „Das Sex Stück“. Der Titel hat etwas Befreiendes: Man weiss, es geht um Sex. Natürlich kommt dann auch die Frage auf, ob das Stück explizite Szenen enthält – das tut es aber nicht.
Worum geht es?
BF: Es wird Texte, Tanz und Musik geben. Auf der Bühne sind neun Menschen, die Showparts vorbereitet haben, in denen es um Sex, Sexualität und sexuelle Identität geht – aber auch um die naiven und nicht so heissen Seiten, die ja die meisten Menschen kennen. Das ist ein riesiges Spektrum: Sex bedeutet für alle etwas ganz anderes. Viele denken bei Sex zuerst an Geschlechtsverkehr, aber wir möchten dieses Feld wirklich ganz, ganz, ganz weit auffächern und das auf eine lustvolle Art transportieren.
„Wir reden darüber, dass 96 Prozent der Frauen durch reine Penetration nicht zum Orgasmus kommen.“
Beatrice Fleischlin
Werden bei Ihnen Zuschauer*innen aufgeklärt?
BF: Sie erfahren vom Mythos des Jungfernhäutchens oder dass die Form und Grösse der Klitoris erst 1998 wiederentdeckt wurde. Wir reden darüber, dass 96 Prozent der Frauen durch reine Penetration nicht zum Orgasmus kommen. Wenn du das laut ausgesprochen auf einer Bühne hörst, hat das möglicherweise schon einen aufklärerische, aber auch eine empowernde Wirkung.
Wer ist denn das Zielpublikum?
NH: Alle!
BF: Alle ab 15.
Was möchten Sie bei den Zuschauer*innen auslösen?
NH: Es wäre schön, wenn man berührt wird – auch weil man sieht, dass man nicht allein ist mit seinen Fragen. In der Sexualität denken viele: Nur ich habe dieses oder jenes Problem. Und aus dieser Verletzlichkeit heraus redet man nicht mit anderen darüber.
Die Beschreibung von „Das Sex Stück“ hat einen deutlich gesellschaftskritischen Anstrich.
BF: Das stimmt. Ich finde schon, dass in der Schweiz das Patriarchat die Vorstellung stark beeinflusst, was eine „Frau“, ein „Mann“ oder eine „Familie“ sein soll. Die traditionellen Bilder sind tief in unsere Identitäten eingeschrieben. Ich bin selbst in einem bäuerlichen, katholischen Milieu aufgewachsen und hatte das Glück, mich da über das Theater herauszuarbeiten und andere Lebensrealitäten kennenzulernen.
„In der Sexualität denken viele: Nur ich habe dieses oder jenes Problem. Und aus dieser Verletzlichkeit heraus redet man nicht mit anderen darüber.“
Nina Hellenkemper
Durch Ihre Arbeit möchten Sie auch Tabus brechen. Welche?
BF: Nur schon der Umstand, dass wir ein Zelt mitten in der Stadt hinstellen, wo gross „Das Sex Stück“ draufsteht, ist ein Tabubruch. Im engeren Sinne brechen wir auf der Bühne aber keine Tabus. Wir wollten ein Stück machen, das für ganz viele Menschen zugänglich ist.
Hat sich die Vorbereitung dieses Stücks anders gestaltet als bei vorherigen Projekten?
BF: Ja, schon, weil es um sehr intime Fragestellungen geht. Wir haben mittels Improvisation eine eigene körperlich-tänzerische Bewegungssprache für die Bühne erarbeitet. Und da wir unsere persönlichen Erfahrungen als „Material“ für die Arbeit mitbringen, ist diese Herangehensweise anders, als wenn die Arbeit mit einem festgesetzten Text und vorgeschriebenen Rollen starten würde.
Sind Sie einander dadurch nähergekommen?
NH: Ja. Ich denke, alle haben persönliche Geschichten, die anderen nahe gehen.
BF: Wir umkreisen gemeinsam Themen um Sex und Sexualität, da entsteht natürlich Wärme. Bezüglich sexualisierter Gewalt haben wir viel voneinander erfahren. Es gibt einen Moment im Stück, wo dieses Thema aufgegriffen wird – weil es wichtig ist und zur Sprache kommen muss. Es ist erschreckend, wie viele Übergriffsgeschichten es in einer Gruppe von einem Dutzend Menschen gibt.
Gab es einen Punkt im Prozess, wo Sie an Ihre Grenzen gestossen sind?
BF: Es ist eine sehr grosse Produktion, mit vielen Menschen und einem eigenen Zelt. Für dessen Aufbau arbeitet eine ganze Crew zwei Tage lang. Der logistische und organisatorische Aufwand ist gross. Da kommt die eine oder andere Person schon mal an ihre Kapazitätsgrenzen.
NH: Das Stück ist zudem über die letzten zweieinhalb Jahre hinweg gereift, auch während der Pandemie. Wir haben schon gemerkt, dass diese Situation alle in unserem Team auf unterschiedliche Weise herausgefordert hat.
Wie schwierig ist es, bei einem solch intimen Thema auf der Bühne die Balance zwischen Privatperson und Performer*in zu finden?
BF: Wenn ich auf der Bühne stehe und sage „Guten Abend, ich bin Beatrice Fleischlin“, dann bin ich eine reale Person und Fiktion gleichzeitig. Und das gibt mir einen Schutzraum, in dem ich erzählen kann, was ich will. Wichtig ist, dass die Zuschauer*innen mir glauben. Wir werden also alle als ein solch real-fiktives „Ich“ auf der Bühne stehen – in manchen Szenen auch als Figuren, als „Mann“ oder „Frau“ identifizierbar. Doch im Verlauf des Abends lösen sich diese binären Zuordnungen auf.
Worauf freuen Sie sich jetzt am meisten?
BF: Auf das Publikum!
NH: Ich freue mich sehr darauf, mich nach der Vorführung mit den Zuschauer*innen auszutauschen.
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