Am 7. März 2021 stimmt das Schweizer Stimmvolk gleich über zwei Vorlagen ab, die das Verhältnis der Schweiz zur muslimischen Welt verhandeln. Auf der einen Seite steht das Verhüllungsverbot, bei dem es vor allem darum geht, Musliminnen in der Schweiz die Gesichtsverschleierung zu verbieten. Weniger breit, aber ebenso kontrovers diskutiert steht ein Freihandelsabkommen mit Indonesien zur Debatte – also dem Land mit der grössten muslimischen Mehrheitsbevölkerung der Welt.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es unter den Befürworter*innen beider Initiativen zahlreiche parteipolitische Überlappungen gibt. Denn während Befürworter*innen der ersten Vorlage den „Schutz“ der (muslimischen) Frau hervorheben, spielen Menschenrechte in letzterer nur am Rande eine Rolle. Während also innenpolitische Debatten zum Kampffeld vermeintlich entgegengesetzter Ideologien – „dem“ Islam und „der“ Schweiz – werden, erscheinen globale Wirtschaftsbeziehungen ideologisch und politisch neutral.
Doch so unschuldig, wie sie auf den ersten Blick wirken, sind wirtschaftliche Verflechtungen nicht. Das zeigt nicht zuletzt ein Blick in die Schweizer Kolonialgeschichte. Sie offenbart nämlich, dass wie und mit wem man Handelsbeziehungen eingeht, durchaus eine Rolle spielt – damals wie heute.
Die Schweiz und Indonesien: Eine zutiefst koloniale Beziehung
Die Schweiz und Indonesien verbindet eine lange Beziehung, die bis in die Kolonialzeit zurückreicht, genauer gesagt bis in das 17. Jahrhundert. Tausende Schweizer heuerten damals als Soldaten, Ärzte und Matrosen bei der Niederländischen Ostindienkompanie (VOC) an. Eine Tradition, die sich bis in die jüngere Geschichte fortsetzen sollte: Rund 7’500 Schweizer Söldner stellten sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert, also auch nach dem Verbot des Söldnerwesens, in den Dienst der niederländischen Kolonialarmee. Sie nahmen dabei an der blutigen Unterwerfung derjenigen Sultanate teil, die sich gegen die europäische Fremdherrschaft zur Wehr setzten. Für den Bundesrat war das Söldnerwesen indes eine Erleichterung. Er sah die mehrheitlich aus der Unterschicht stammenden Soldaten als Belastung für das Sozialwesen an.
Gleichzeitig strömten Dutzende Schweizer Wissenschaftler in die niederländische Kolonie, um sich in den wachsenden Forschungsfeldern zur „tropischen Welt“ zu profilieren. In die Schweiz brachten sie Menschenschädel, Kulturgüter und Tierpräparate, die sich noch heute in den hiesigen Völker- oder Naturkundemuseen befinden. Beim Zugang zu ihren Forschungsobjekten wurden sie durch die niederländische Kolonialregierung und ‑armee tatkräftig unterstützt.
Auch in der kolonialen Plantagenarbeit waren Schweizer an vorderster Front mit dabei: Als die Niederlande in den 1870er-Jahren ihre Märkte liberalisierten, strömten zahlreiche Europäer*innen nach Indonesien, insbesondere nach Sumatra, wo der lukrative Tabakhandel schnelles Geld versprach. Mittendrin: rund 59 Schweizer Tabakpflanzer. Unter ihnen etwa Karl Fürchtegott Grob, der an der Ostküste der Insel 4’300 Zwangsarbeiter unter prekären Bedingungen beschäftigte. Als er in die Schweiz zurückkehrte, galt er als einer der reichsten Schweizer seiner Zeit.
Koloniale Kontinuitäten
Der Kolonialismus prägte Indonesien nachhaltig mit. Im Rahmen von Kolonialkriegen wurden 360 verschiedene ethnische Gruppen, die zum Teil sprachlich und kulturell ungefähr so viel gemeinsam haben wie die Schweiz und Sibirien, unter einer auf Java konzentrierten Zentralregierung vereint. Bis heute kommt es daher immer wieder zu separatistischen Konflikten – etwa in Papua oder in Aceh. Auch der „Goldrausch“ der europäischen Pflanzer prägte die Wirtschafts- und Sozialstruktur von Inseln wie Sumatra nachhaltig.
Bis heute ist die lokale Bevölkerung weitgehend von der Plantagenwirtschaft abhängig, da die gerodeten Regenwälder kaum Alternativen zulassen. Politisch war die Schweiz daran nicht beteiligt, denn sie war nie selbst eine Kolonialmacht. Wissenschaftlich und wirtschaftlich profitierten Schweizer*innen aber von der Zusammenarbeit mit der niederländischen Kolonialregierung und trugen so zur Aufrechterhaltung eines Regimes bei, das auf rassistischen Hierarchien und ökonomischer Ungleichheit aufbaute.
Heute scheint die Situation eine andere. Indonesien ist unabhängig und gilt als „grösste muslimische Demokratie“ der Welt. Im Freihandelsabkommen sehen Befürworter*innen von der SVP und FDP eine Chance, Schweizer Unternehmen den Zugang zu einem Riesenmarkt zu öffnen. Und obwohl die SP am 13. Februar die Nein-Parole beschloss, geniesst das Abkommen auch in linken Kreisen Zustimmung. Allen voran: der ehemalige Juso-Präsident und Nationalrat Fabian Molina. In einem kürzlich in der WOZ publizierten Interview streicht Molina insbesondere eine im Abkommen verankerte Klausel, die den Import von nachhaltigem Palmöl vorsieht, positiv heraus. In Sachen „Demokratisierung“ stehe Indonesien zudem „noch immer relativ gut da“.
Doch wie steht es wirklich um die Demokratie in Indonesien?
Neoliberalismus hinter verschlossenen Türen
Am 13. Januar 2020 brannte es in den Strassen der indonesischen Grossstädte. Von Jakarta bis Surabaya, von Papua bis Kalimantan lieferten sich Arbeiter*innen, Student*innen und selbst Schüler*innen Strassenschlachten mit der indonesischen Polizei. Der Anlass: die von der indonesischen Regierung verabschiedeten Omnibus-Gesetze (Undang-Undang Cipta Kerja), die darauf abzielen, Schwellen für ausländische Investor*innen abzubauen und Arbeitsplätze zu schaffen. Formuliert wurde das Gesetzespaket weitgehend hinter verschlossenen Türen.
Anlass zum Aufstand gaben insbesondere vehemente Einschnitte im Arbeitsrecht: Das Gesetzespaket schaffte in vielen Branchen Mindestlöhne ab, erhöhte die zulässigen Überstunden von drei auf vier pro Tag und reduzierte das Wochenende von zwei Tagen auf einen. Mobilisiert von lokalen Gewerkschaften und Aktivist*innenkollektiven gingen Zehntausende Indonesier*innen auf die Strasse. Die Polizei ging mit harter Hand gegen die Demonstrierenden vor. Allein in Jakarta wurden mindestens 60 Personen verletzt und Hunderte verhaftet. Bei der indonesischen Menschenrechtsorganisation KontraS gingen rund 1500 Beschwerden wegen exzessiver Polizeigewalt ein. Trotz diesem vehementen Widerstand aus der Bevölkerung wurde das Gesetzespaket am 5. Oktober 2020 formell verabschiedet.
Demonstrationen gegen Regierungsbeschlüsse haben in Indonesien Tradition. Für viele stellen sie das einzige Instrument dar, um sich politisches Gehör zu verschaffen. Tradition hat auch, dass die indonesische Polizei gewalttätig gegen die Kundgebungen vorgeht. Dennoch schneidet Indonesien auf Demokratie-Indizes verhältnismässig gut ab, besser etwa als das benachbarte Singapur. Der aktuelle Präsident Joko Widodo – genannt Jokowi – gilt als progressiver Mitte-Politiker, der sich 2014 wie 2019 medienwirksam gegen den konservativ-islamistischen Ex-General Prabowo Subianto durchsetzte. Die Zeiten der Militärdiktatur Suhartos, der Indonesien von 1968 bis zu seinem Sturz 1998 regierte, scheinen vorbei. Hört sich so weit alles gut an.
Suharto ist weg – der Autoritarismus bleibt
Doch unter indonesischen Aktivist*innen hält sich bis heute der Spruch: Suharto hilang tapi rezimnya ngga hilang – Suharto ist weg, aber sein Regime bleibt bestehen. Gemeint sind damit die zahlreichen personellen Kontinuitäten aus der Suharto-Ära, insbesondere bei der Polizei und im Militär. Ein Paradebeispiel dafür ist der ehemalige Präsidentschaftskandidat, Schwiegersohn Suhartos und gegenwärtige Verteidigungsminister Prabowo Subianto.
In den 80er-Jahren war er an brutalen Militäraktionen gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Osttimor beteiligt. Als sich 1998 das Ende der Suharto-Diktatur abzeichnete, leitete Prabowo eine Truppe von 27’000 Mann, die gegen Protestierende eingesetzt wurde. Mindestens neun Aktivist*innen wurden von seinen Männern entführt und gefoltert. Der Politiker und ehemalige Suharto-General Luhut Binsar Pandjaitan führte sogar die Verhandlungen für das Handelsabkommen mit den EFTA-Staaten.
In welchem Ausmass die gegenwärtige Militär- und Politelite in Menschenrechtsverletzungen involviert war, ist unklar. Fest steht aber, dass sich die Bemühungen, diese Unklarheiten zu erhellen, in Grenzen halten. Kennzeichnend dafür ist die Ermordung des Menschenrechtsaktivisten und Anwalts Munir bin Thalib. Munir galt als bisher lautstärkster Kritiker des indonesischen Militärs und untersuchte unter anderem Menschenrechtsverletzungen in Osttimor und Aceh. 2004 wurde er auf einem Flug von Jakarta nach Amsterdam vergiftet. Der Fall wurde bis heute nicht aufgeklärt, Mitglieder der von Munir mitgegründeten NGO KontraS vermuten jedoch einen Inside-Job des indonesischen Geheimdienstes.
Kurzum: Gegen Regimekritik wird in Indonesien noch immer mit harter Hand vorgegangen. Auch weil davon auszugehen ist, dass neue Enthüllungen mindestens einen Teil der Polit- und Militärelite in ein schlechtes Licht rücken dürften. Trotz freier Wahlen kann von Meinungsfreiheit keine Rede sein, und die autoritären Tendenzen der Suharto-Diktatur hallen bis in die Gegenwart nach.
Schöne neue Palmöl-Welt?
Für Befürworter*innen des Handelsabkommens stehen diese politischen und sozialen Fragen jedoch im Hintergrund. Sie zeigen sich vielmehr überzeugt von einer Klausel, die den Import von nachhaltig produziertem Palmöl vorschreibt. Zwei Dinge gehen dabei jedoch vergessen: Erstens, dass es im Freihandelsabkommen nicht nur um Palmöl geht. Profitieren dürfte in der Schweiz vor allem die Chemie- und Pharmaindustrie, weil mit dem Abkommen der Patentschutz verschärft würde. 16 indonesische NGOs haben sich aus Angst vor einer massiven Verteuerung der Medikamente daher gegen das Abkommen ausgesprochen. Ein Dorn im Auge ist ihnen zudem der Abbau von Zöllen auf norwegische Fischexporte, welcher indonesischen Fischer*innen ihre Erwerbsgrundlage entziehen könnte.
Zweitens ist das RSPO-Label, mit dem das Palmöl aus Indonesien zertifiziert werden soll, umstritten. Immer wieder kritisieren etwa Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace oder Paneco die Kontrollmechanismen des RSPO als unzuverlässig – diese könnten keine nachhaltige Produktion garantieren. Hinzu kommt, dass die indonesische Wirtschafts- und Politelite angesichts weit verbreiteter Korruption nicht unbedingt als zuverlässige Partnerin betrachtet werden kann.
Erst letztes Jahr wurde etwa der Fischereiminister Edhy Prabowo festgenommen, weil er ein Nachhaltigkeitsgesetz zum Verbot von Export von Hummerlarven ausser Kraft gesetzt hatte. Die indonesische Antikorruptionskommission KPK ging davon aus, dass Prabowo bestochen wurde. Fälle von Korruption sind insbesondere auch aus der Palmölindustrie bekannt, wie Indonesienspezialist Heinzpeter Znoj kürzlich in einem Interview mit der Universität Bern erklärte. Dennoch wurde 2019 ein Gesetz verabschiedet, das die Kompetenzen der KPK massiv einschränkte. Dieses Gesetz führte wie das Omnibus-Paket zu Massenprotesten – die ebenfalls brutal von der Polizei niedergeschlagen wurden.
(Post-)koloniale Komplizenschaften
Die Schweiz hat eine Kolonialgeschichte, das bestätigt ein wachsender Korpus an historischer Forschung. Vom 17. bis in das 20. Jahrhundert gingen Schweizer*innen militärische, wissenschaftliche oder ökonomische Komplizenschaften mit Kolonialregierungen ein, die zur Verfestigung globaler Ungleichheiten und rassistischer Regimes beitrugen, die bis heute nachwirken.
An dieser Geschichte kann man nichts ändern. Am 7. März 2021 haben die Schweizer Stimmbürger*innen aber die Chance, aus der Vergangenheit zu lernen. Denn das Freihandelsabkommen mit Indonesien würde eine neue Komplizenschaft mit einer autoritären Elite herstellen, die Arbeiter*innenrechte einschränkt und die Mehrheit der Bevölkerung mit Gewalt vom politischen Diskurs ausschliesst.
Würden sich die Befürworter*innen der Burka-Initiative mit demselben moralischen Eifer der Debatte über das Freihandelsabkommen annehmen, müssten sie konsequenterweise ein Nein empfehlen. Statt über die vermeintliche Unterdrückung von 20–30 Nikab-Trägerinnen (mehrheitlich Konvertitinnen) zu wettern, könnten sie ihre Ressourcen dafür einsetzen, sich über die politische Situation der 270 Millionen (mehrheitlich muslimischen) Indonesier*innen zu unterhalten. Denn Ungleichheiten und Unterdrückung halten sich nicht an politische Landesgrenzen – und wirtschaftliche Beziehungen sind nicht politisch neutral.
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