Das Lamm: Alice el-Wakil, die Grünen fordern einen Bürger:innenrat für die Klimakrise. Was kann ein solches Instrument in einem Land leisten, in dem die Bevölkerung bereits über jede Gemeindestrasse abstimmen kann?
Alice el-Wakil: Die Schweiz kennt mit Initiative und Referendum tatsächlich zwei partizipative Prozesse, bei denen die Bevölkerung Entscheidungen treffen kann. Darin unterscheidet sich unser politisches System von jenem in Frankreich, wo Präsident Macron auf Druck der Gelbwestenbewegung einen sogenannten Hohen Klimarat ins Leben gerufen hat. Die Französ:innen können faktisch nur über Wahlen am politischen Prozess teilnehmen, wir in der Schweiz nehmen hingegen ständig Einfluss.
Das heisst aber nicht, dass demokratische Prozesse in der Schweiz nicht verbessert werden können. Eine Sache, die bei uns fehlt, ist der Austausch zwischen den Bürger:innen. Zwar gibt es Räume für Debatten, aber im Endeffekt füllen die meisten Menschen ihren Wahlzettel zu Hause aus, ohne gross mit anderen Perspektiven in Kontakt zu kommen.
Hier sehe ich eine der potenziellen Stärken der Bürger:innenräte: Durch das Losverfahren kommen die Teilnehmer:innen mit Menschen in Kontakt, mit denen sie sonst nie diskutieren würden. Wie demokratisch diese Bürger:innenräte allerdings dann sind, hängt von deren Ausgestaltung ab.
Wie meinen Sie das?
Zum einen stellt sich die Frage, was die Kompetenzen dieser Räte sind. Können sie nur unverbindliche Vorschläge formulieren, oder können sie tatsächlich Einfluss nehmen, etwa mit einer Volksinitiative oder mit Vorstössen im Parlament? Auch zentral ist, wer überhaupt an diesen Räten teilnehmen kann. Das Ziel muss sein, auch Menschen, die bis jetzt kaum eine Stimme in der Politik haben, einzubinden. Das wäre ein Fortschritt gegenüber heute.
Das funktioniert mit dem Losverfahren sicher besser als mit dem klassischen Wahlverfahren, aber auch beim Losverfahren gibt es strukturelle Verzerrungen. So sind etwa obdachlose Menschen auf den Listen nicht aufgeführt.
Alice el-Wakil befasst sich an der Universität Konstanz mit normativer Demokratietheorie und der Frage, ob und wie direktdemokratischen Instrumenten eingesetzt werden sollten.
Im Vorschlag der Grünen ist vorgesehen, dass Ausländer:innen mit Ausweis C an den Bürger:innenräten teilnehmen können.
Das ist sicher gut. Die Idee der Demokratie ist, politische Macht so zu legitimieren, dass alle Menschen, die ihr unterworfen sind, auch mitbestimmen können. Insofern führt mehr Inklusion zu mehr Demokratie. Natürlich gibt es auch weitere Ungleichheiten bei Bürger:innenräten: Gewisse Menschen haben etwa weniger Zeit als andere.
Damit das ausgeglichen werden kann, müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Teilnahme erleichtern: eine Entlöhnung der Teilnehmer:innen, ein Ange bot für Kinderbetreuung und sonstige Care Arbeit. Ausserdem muss die Moderation dafür schauen, dass alle zu Wort kommen. Die Bürger:innenräte, die ich begleitet habe, waren stets bemüht, bestehende Ungleichheiten zu minimieren.
Warum werden gerade im Zusammenhang mit der Klimakrise die Forderungen nach Bürger:innenräten laut?
Für die Klimafrage ist die Anreizstruktur von parlamentarischer Politik problematisch. Parlamentarier:innen wollen wiedergewählt werden, und das macht es schwierig, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Ausserdem wissen wir aus den Politikwissenschaften, dass Lobbyverbände – trotz Initiativrecht in der Schweiz – einen viel stärkeren Einfluss auf die politische Themensetzung haben als Bürger:innen. Sie können verhindern, dass Themen, die ihren Interessen schaden, breit diskutiert werden. Mit den Bürger:innenräten kann die Bevölkerung mehr Einfluss auf die politische Themensetzung nehmen.
Aber gerade bei den Klimaräten ist ja das Thema von der institutionellen Politik bereits vorgegeben. Wird da nicht das Pferd von hinten aufgezäumt?
Diese Strategie konnten wir bereits in Irland beobachten. Dort war klar, dass es das Parlament niemals schaffen würde, Abtreibungen zu legalisieren, weil das ein Kernthema für die Politiker:innen bei den Wahlen war. Weil die Meinung der breiten Bevölkerung aber deutlich liberaler war, nahm man den Weg über einen Bürger:innenrat, um die Legalisierung der Abtreibung vors Volk zu bringen. Dieses stimmte mit 62 Prozent deutlich Ja zur Verfassungsänderung.
Es ist ein sinnvoller Ansatz, dass die institutionelle Politik bei einem Thema, bei dem sie sich in einer Sackgasse befindet, die Debatte für Bürger:innen öffnet, die nicht unter dem Einfluss einer Wiederwahl und von Lobbyinteressen stehen.
Sind Bürger:innenräte progressiver als die institutionelle Politik?
Das ist bisher wenig untersucht. Es scheint, dass sie weniger progressiv sind, als es sich zum Beispiel Extinction Rebellion erhofft, aber oft ambitionierter als die Entscheidungen der institutionellen Politik. Dass die Bürger:innenräte aber politisch extrem werden, ist unwahrscheinlich, weil sie durch das Losverfahren sehr divers zusammengesetzt sind.
Wie müsste man dann aber die Vorschläge eines solchen Klimarats gewichten, gerade, wenn diese etwa dem Abstimmungsergebnis zum CO2- Gesetz widersprechen würden?
In einer Demokratie gibt es keine finale Abstimmung. Über Themen wie das Frauenstimmrecht oder die Proporzwahl wurde immer wieder abgestimmt. Das ist auch bei der Klimapolitik so.
Die Frage des Klimanotstandes wird in Zukunft höchstwahrscheinlich auch den Einsatz von Zwangsmitteln erfordern – ähnlich wie die bei Covid-19. Die Beteiligung der Bürger:innen, die mit den getroffenen Entscheidungen leben müssen, an der Ausarbeitung von Massnahmen könnte dazu beitragen, dass diese Entscheidungen auf breiter Basis akzeptiert werden.
Dieses Interview ist zuerst bei der P.S.-Zeitung erschienen. Die P.S.-Zeitung gehört wie Das Lamm zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.
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