Wussten Sie, dass der Philosoph und Mathematiker Pythagoras neben all seinen Erkenntnissen fest daran glaubte, dass ein Mensch bei einem äusserst „starken“ Furz versehentlich seine Seele rauspupsen könnte? Nein? Dann sind Sie wahrscheinlich nicht auf TikTok.
Haben Sie Videos gesehen, in denen regimetreue iranische Milizen Protestierende zu Tode geprügelt haben? Oder gehört, wie sich ein weinendes Mädchen vor tödlichen Schüssen versteckt? Wenn auch das nicht zutrifft, dann sind Sie wahrscheinlich nicht einmal in den sozialen Medien unterwegs.
Klimahysterisch und radikal oder unverantwortlich und faul: Es wird viel an jungen Menschen rumgenörgelt. Schlimmer als die Kritik ist aber ihre fehlende Repräsentation in der Öffentlichkeit. Während sich alle Welt über Anliegen der Jugend äussert, finden diese selbst nur in sozialen Netzwerken eine Plattform. Das ändert nun die Kolumne „Jung und dumm“.
Helena Quarck ist 18 Jahre alt und Schülerin. Sie ist als Siebenjährige aus Brasilien in die Schweiz gezogen und musste Deutsch lernen. Diese Beschäftigung mit Sprache hat sie zum Schreiben gebracht. Helena ist Redaktorin des Jugendmagazins Quint.
Jugendliche verbringen im Schnitt täglich über drei Stunden online. Die sozialen Medien sind für uns eine Realität, in der wir mehrere Stunden am Tag leben.
Dabei dienen uns diese Plattformen nicht nur als Unterhaltung, sondern immer mehr auch als Mittel, um über gesellschaftspolitische Anliegen informiert zu bleiben. Denn neben Memes, verstörenden Fakten über Mathematiker*innen und sogenannten „Photo Dumps“ von Kolleg*innen werden circa 35 Prozent der Schweizer Jugendlichen täglich während dem Swipen mit politischen und journalistischen Inhalten konfrontiert. Diese benutzen sie dann als Nachrichtenquellen. Eine Folge davon: Viele junge Menschen informieren sich nur noch oberflächlich.
Auch ich kriege online Unterschiedliches zu sehen – vom Furz des Pythagoras bis hin zu schrecklichen Szenen aus den Protesten im Iran. Dass Unterhaltung mit Information gemischt wird, ist nichts Neues. Das kommt auch bei den traditionellen Medien vor. Problematisch ist aber, dass die Grenze zwischen verschiedenen Arten, Medien zu nutzen, verfliesst.
Das Scrollen auf Social Media ist Unterhaltung und gleichzeitig ein Weg, sich über das Weltgeschehen zu informieren. Oft entscheiden wir nicht einmal aktiv, ob wir gerade auf den neusten Stand der Newslage kommen wollen oder nur zum Zeitvertreib durch den Feed rasen.
Wir kriegen online Unterschiedliches zu sehen – vom Furz des Pythagoras bis hin zu schrecklichen Szenen aus den Protesten im Iran.
Scrollen ist sehr einfach. Es ist schön, wenn man innerhalb weniger Zeit das Gefühl hat, über Anliegen aus der ganzen Welt Bescheid zu wissen. Ausserdem sind viele der herkömmlichen Medien hinter einer Paywall versteckt – im Gegensatz zu den sozialen Medien. Ein Problem dabei ist: Das Scrollen gibt uns das Gefühl, gut informiert zu sein, ohne dass wir wirklich Bescheid wissen.
Auch wenn seriöse Medien auf sozialen Plattformen aktiv sind, dient das eher als Überblick und Lockvogel für weitere Beiträge – nicht als abschliessende Informationsquelle. Die Posts verkürzen daher Inhalte auf ein Minimum. Das reicht nicht, um die Welt besser zu verstehen.
Ein weiterer Nachteil des Scrollens ist die fehlende Kontrolle über den eigenen Nachrichtenkonsum. Viele Jugendliche nehmen Nachrichten als Negativdiskurs wahr. Wenn das vierte Medium von der neuesten Krise berichtet, welche die Existenz der Menschheit gefährdet, ist es nicht gerade motivierend, weiterzulesen. Doch durch die Beschaffenheit der sozialen Medien liegt die Entscheidung über unseren Medienkonsum nicht bei uns.
Es ist kaum möglich, sich abends nach einem langen Tag auf den sozialen Medien abzulenken. Krisenberichte reihen sich beiläufig zwischen Memes und viralen Tanzvideos ein – ganz egal, ob ich das will oder nicht. Der Algorithmus entscheidet, was mir serviert wird.
Dafür, dass uns andere Generationen so gerne als „Digital Natives“ betiteln, fällt es uns manchmal doch schwer, uns nicht in dieser digitalen Welt zu verlaufen. Wir konsumieren vielfältige Informationen schnell und kommen nur schlecht vom kurzen Post weg, um uns die Zeit für eine Auseinandersetzung zu nehmen.
Man kann sich lange mit den Nachteilen von Social Media als Informationsquelle auseinandersetzen. Es wäre dabei ignorant, die positiven Seiten davon nicht auch zu nennen. In den letzten Jahren ist die Zahl der „News Avoiders“, also Menschen, die Nachrichten aktiv vermeiden, gestiegen. Für Menschen, die mehrere Stunden täglich auf Social Media unterwegs sind, ist das Vermeiden von Nachrichten deutlich schwieriger.
Wie gehen wir damit um, dass sich eine gesamte Generation immer mehr von traditionellen Medien distanziert und sich nur oberflächlich informiert?
Ein weiterer Vorteil ist, dass Social Media eine Waffe oder ein Zufluchtsort für junge Menschen sein kann, wenn keine andere Option übrig bleibt. Dies zeigt sich speziell während Krisenzeiten. Dass ich neben lustigen Videos auch verstörende Szenen aus den Protesten im Iran zu sehen bekomme, ist durchaus wichtig.
Im Iran findet momentan eine Revolution statt, die in die Geschichte eingehen wird. Der Widerstand ist so jung wie noch nie zuvor und an der Front wird unter anderem mit Social Media gekämpft. Westliche Medien scheinen inzwischen aber schon über die nächste Krise zu berichten und die Pressefreiheit vor Ort ist sowieso nicht gewährleistet.
Die Schrecken während den Protesten werden aber weiterhin in Videos, Fotos und Texten auf Apps wie Instagram und TikTok verbreitet und bieten eine gewisse Nähe zu den Geschehnissen. Junge Menschen im Iran schaffen es so, die Zensur zu umgehen und den Kontakt zur Aussenwelt zu behalten. Gleichzeitig werden Menschen überall auf der Welt auf diese Krise aufmerksam.
„Social Media is the only place I hear anything about what is happenning“ („Die sozialen Medien sind der einzige Ort, wo ich erfahre, was passiert“ auf Deutsch), kommentiert ein User unter einem TikTok, das eine Frau im Iran gepostet hat. Sie versteckt sich, denn rund um ihr Haus hört man Schüsse. Leise hört man sie schluchzen.
Wenn herkömmliche Medien keine Plattform für junge Menschen bieten oder sie gar nicht erst die Freiheit dazu haben, auf diese Medien zuzugreifen, weichen junge Menschen auf Social Media aus: Sie finden ihren eigenen Zufluchtsort, können Diskussionen in Gang bringen und dafür sorgen, dass andere junge Menschen über ihre Anliegen informiert werden.
Gleichzeitig stehen wir als Gesellschaft vor der Frage: Wie gehen wir damit um, dass sich eine gesamte Generation immer mehr von traditionellen Medien distanziert und sich nur oberflächlich informiert?
Medien selbst können gegensteuern: Journalist*innen müssen alltägliche Anliegen der Jugend in den Vordergrund rücken und Schulen müssen Medienkompetenz priorisieren. Vor allem aber müssen wir Digital Natives herausfinden, wie wir unseren Informationskonsum navigieren. Am besten so, dass wir unsere Köpfe noch über Wasser halten können.
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