Mise­rable Bericht­erstat­tung zu Palästina-Demo

Auf die Demon­stra­tion in Bern folgte ein Medi­en­spek­takel, das sich lieber über Sach­schäden empört, statt über Genozid und Schweizer Betei­li­gung zu berichten. Gleich­zeitig forderten bürger­liche Medien harte Mass­nahmen gegen Antifaschist*innen und legi­ti­mierten Polizeigewalt. 
Reizgas, Gummischrot, Einzelgeschosse: 27 verschiedene Polizeiteams waren an diesem Tag in Bern im Einsatz und verletzten über 300 Demonstrant*innen. (Bild: Kritisches Fotografiekollektiv)

Als sich am vorletzten Samstag über acht­tau­send Personen in Bern zu einer natio­nalen Palä­stina-Demo versam­melten, waren zwei Jahre vergangen, in denen Israel seine Angriffe auf Gaza nicht beenden wollte. Laut Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen hat die israe­li­sche Armee mitt­ler­weile minde­stens 100’000 Palästinenser*innen getötet, 80 Prozent davon sind Zivilist*innen. 95 Prozent der Bevöl­ke­rung Gazas ist vertrieben worden, im Extrem­fall über 20-mal. Die gesell­schaft­li­chen Infra­struktur ist fast voll­ständig zerstört: Laut eines UN-Berichts liegt Gaza dermassen in Schutt und Asche, dass 105 Last­wagen 22 Jahre bräuchten, um die Über­bleibsel aus dem Küsten­streifen abzutransportieren.

In diesen letzten zwei Jahren haben Menschen in der Schweiz – wie welt­weit – unauf­haltsam versucht, ihre Regie­rungen zum Handeln zu bewegen: mit Beset­zungen, Demon­stra­tionen, Kund­ge­bungen, Peti­tionen, Hunger­streiks, Hilfs­flotten und vielen weiteren Aktionen. Immer wieder appel­lierten sie an die Schweizer Politik, das zerstö­re­ri­sche Vorgehen der rechts­extremen israe­li­schen Regie­rung endlich zu sank­tio­nieren. Doch die meisten dieser Bemü­hungen blieben ohne Wirkung: die Schweizer Politik reagierte weit­ge­hend tatenlos und profi­tiert weiterhin wirt­schaft­lich vom Krieg, während die Zerstö­rung Gazas unver­min­dert anhält.

Vor diesem Hinter­grund versam­melten sich Tausende zu einer Demon­stra­tion, zu der der Berner Kantons­po­lizei bereits im Vorfeld ein grosses Repres­si­ons­auf­gebot ankün­digte. Dafür zog sie Unter­stüt­zung aus den Poli­zei­kon­kor­daten Nord­west­schweiz, Zentral­schweiz, Ostschweiz und West­schweiz zusammen, wie sie der Repu­blik erklärte. An der Demon­stra­tion waren schliess­lich 27 verschie­dene Poli­zei­korps im Einsatz, darunter auch die Landes­po­lizei des Fürsten­tums Liechtenstein.

Die Demonstrant*innen spre­chen von über 300 Verletzten durch Polizeigewalt.

Einige hundert der über acht­tau­send Demonstrant*innen formierten sich zu einem schwarzen Block – eine Demo­taktik, um sich vor Repres­sion zu schützen. Diese liess auch nicht lange auf sich warten: Die Demonstrant*innen spre­chen von über 300 Verletzten durch Poli­zei­ge­walt, teil­weise durch Geschoss auf Augen­höhe. Amnesty Schweiz prüft derzeit 200 Meldungen wegen mögli­cher Menschen­rechts­ver­let­zungen.

In den hunderten Medi­en­be­richten zur Demon­stra­tion fand der Kontext des anhal­tenden Geno­zids in Gaza und die Schweizer Betei­li­gung nahezu keine Beach­tung. So rissen bürger­liche Medien die Vorkomm­nisse an der Demon­stra­tion aus ihrem Zusam­men­hang. Mit grosser Lust an linker Denun­zie­rung stürzten sie sich auf den Umfang der Sach­be­schä­di­gung und stellten dubiose Forde­rungen zur Krimi­na­li­sie­rung von linken Demonstrant*innen. Den tausenden Teilnehmer*innen am Samstag warfen sie vor, nicht für «Frieden» zu prote­stieren, sondern aus reinem «Spass an der Action». Mit Demonstrant*innen hat aller­dings kaum ein Medium gesprochen. 

Die Sprache war von zerstörten Schau­fen­stern und Schäden in Millio­nen­höhe, aber nicht von den Millio­nen­summen, die Schweizer Banken am Töten der Palästinenser*innen mitver­dienen oder dem anhal­tenden Unwillen der Schweiz, Sank­tionen gegen Israel zu verhängen.

Statt­dessen war die Demon­stra­tion ein gefun­dener Anlass, das reali­täts­ferne Verbot «der Antifa» und «des schwarzen Blocks» erneut aufs Parkett zu bringen. Und nicht nur das: Der FDP-Sicher­heits­di­rektor des Kantons Bern, Phil­ippe Müller, forderte in der NZZ, die blosse Teil­nahme an unbe­wil­ligten Demon­stra­tionen mit Gefängnis zu bestrafen. SVP-Präsi­dent Marcel Dett­ling plädierte im Blick dafür, alle Namen der Demoteilnehmer*innen öffent­lich zu machen, damit beispiels­weise ihre Arbeit­neh­mende infor­miert würden. Die Welt­woche schlug vor, schon im Vorn­herein mögliche künf­tige Demonstrant*innen zu «infil­trieren», also auf tech­ni­schem Weg in ihre Handys und Computer einzu­dringen, um ihr Verhalten zu über­wa­chen und von linken Protest­ak­tionen abzuhalten.

Auch über Anti­se­mi­tismus im Zusam­men­hang mit der Demon­stra­tion und der gesamten Palä­stina-Bewe­gung disku­tierten Medien im Nach­gang ausgiebig. Die NZZ unter­stellte der Soli­da­ri­täts­be­we­gung gegen den Genozid, sie würden sich «gegen Jüdinnen und Juden» enga­gieren und verkehrte den Protest gegen die israe­li­sche Politik in anti­se­mi­ti­sches Enga­ge­ment. Selbst die linke Wochen­zei­tung WoZ veröf­fent­lichte einen Artikel, dessen Titel auf Insta­gram ledig­lich «Anti­se­mi­tismus» lautete, wodurch der Eindruck entstand, die gesamte Soli­da­ri­täts­demo sei ausschliess­lich unter diesem Aspekt zu betrachten und deshalb abzulehnen.

Es ist unbe­stritten, dass es – wie in allen Schichten und poli­ti­schen Spek­tren – auch linke Exponent*innen gibt, die anti­se­mi­ti­sche Haltungen zeigen oder minde­stens unwis­send repro­du­zieren. Aus anti­fa­schi­sti­scher Sicht ist die Hamas – und jede andere reak­tio­näre, reli­giös-funda­men­ta­li­sti­sche Orga­ni­sa­tion – nichts, mit dem Linke auf Tuch­füh­lung gehen sollten. Das ist den meisten propa­lä­sti­nen­si­schen Aktivist*innen bewusst. Poten­tial für Kritik und Refle­xion bleibt dennoch – die Frage ist nur, wann und auf welche Weise sie geäus­sert wird.

Die Sprache ist von zerstörten Schau­fen­stern und Schäden in Millio­nen­höhe, aber nicht von den Millio­nen­summen, die Schweizer Banken am Töten der Palästinenser*innen mitverdienen.

In den derzei­tigen Umständen, in denen propa­lä­sti­nen­si­sche und die Anti-Genozid-Bewe­gung auf der ganzen Welt von der Polizei unter dem Vorwand der Anti­se­mi­tis­mus­be­kämp­fung nieder­ge­prü­gelt wird, muss Kritik in den eigenen Reihen sorg­fältig formu­liert und plat­ziert werden. Sonst schlägt sie in die gleiche Kerbe wie reak­tio­näre, rechte Kräfte.

Die USA hat ein Verbot anti­fa­schi­sti­scher Bewe­gungen bereits umge­setzt, die Nieder­lande und Ungarn machen sich auf den selben Weg und auch in Deutsch­land und der Schweiz wird darüber disku­tiert. Zwar ist unklar, was sich genau verbieten lässt, da es «die Antifa» als einheit­liche Orga­ni­sa­tion bekannt­lich nicht gibt, aber es braucht auch keine formelle Einheit, um Repres­sionen zu ermög­li­chen. Frag­wür­dige Bericht­erstat­tung erweist sich wiedermal als wirk­sames Mittel, um staat­liche Gewalt zu legi­ti­mieren und zu fördern.


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