Das Klappern der Stricknadeln war die Hintergrundmusik, wenn die Frauen sich abends trafen. Sie strickten gemeinsam Kleider für die kriegsgepeinigten Mütter und Kinder in Spanien. Der Bürgerkrieg dort ging in den ersten Winter, die Not war gross. Um den spanischen Schwestern zu helfen, griffen die Frauen in der Schweiz zu dem, was ihnen zur Verfügung stand: den Stricknadeln. Das Geld für die Wolle hatten sie gesammelt, indem sie Gebäck, Orangen, Kerzen, Blumen und Schokoladenherzchen verkauften und Gesellschaftsspiele organisierten. Aus den Wollresten fabrizierten sie Decken.
In den 1930er Jahren verschoben sich die politischen Machtverhältnisse. Offen faschistische Parteien in ganz Europa bekamen Aufschwung, die Zeichen standen auf Krieg. Der Faschismus machte die emanzipatorischen Errungenschaften aus dem ersten Weltkrieg wieder zunichte.
Frauen wurden entrechtet, zurück in die häusliche Sphäre gezwungen und zum Kinderkriegen gedrängt. Die Geburtenrate stand im Zentrum faschistischer Politik und wurde zum Symbol nationaler Virilität. In der Schweiz wurde diese Politik unter dem Stichwort der „Geistigen Landesverteidigung“ betrieben. Um die Arbeitslosigkeit unter den Männern zu bekämpfen, verdrängten faschistische Regimes in Spanien, Italien und Deutschland Frauen systematisch aus dem Arbeitsmarkt, aus öffentlichen Ämtern und aus Bildungseinrichtungen. Quoten, psychologische Kriegsführung, biologistische Argumente und Lohnsenkungen gehörten zu den Strategien, die der Faschismus sich zu eigen machte.
Auch in der Schweiz waren diese Tendenzen spürbar. „Das Klima war extrem konservativ“, sagt Nathalie Grunder, die an der Universität Bern zur Frauenfriedensarbeit in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts forscht.
Eine progressive Charta und Frauenzeitschriften
August, 1934. In diesem frauenfeindlichen und konfliktgeladenen Klima bestiegen 28 Schweizerinnen den Zug nach Paris. Im Maison de la Mutualité im Pariser Quartier Latin trafen sie auf über 1000 Frauen aus fast 30 anderen Ländern – darunter Fabrikarbeiterinnen, Hausfrauen, Lehrerinnen, Studentinnen, Krankenschwestern, Landarbeiterinnen und Ladenbesitzerinnen unterschiedlicher politischer Färbung und konfessioneller Zugehörigkeit.
Viele der Frauen hatten lange Reisen auf sich genommen. Sogar aus Australien, Asien und Südamerika waren Aktivistinnen angereist. Sie schlossen sich zusammen, um aus vielen, bereits bestehenden Frauenorganisationen ein neues Bündnis zu gründen: das Weltfrauenkomitee gegen Krieg und Faschismus.
Nach drei Tagen intensiver Arbeit verabschiedeten sie eine Charta. In Anbetracht der faschistischen Bedrohung forderten sie darin das Recht auf vollständige Gleichberechtigung mit dem Mann in allen Lebensbereichen, den Schutz des Lebens ihrer Kinder, freien Zutritt und gleiche Zulassungsbedingungen zu allen Bildungseinrichtungen, das Recht auf selbstbestimmte Mutterschaft und das Verbot einer militärischen Ausbildung ihrer Kinder. Forderungen, die laut Historikerin Nathalie Grunder für die Zeit äusserts progressiv waren.
Und sie stiessen auf Anklang.
Zwei Jahre nach der Gründung zählte das Komitee bereits 10 Millionen Mitglieder, davon 500 in der Schweiz. Die Friedensaktivistinnen trafen sich auf nationalen und internationalen Kongressen, organisierten Veranstaltungen und Demonstrationen und waren an der Herausgabe von über 20 nationalen Zeitschriften beteiligt.
Diese Zeitschriften boten den Frauen eine niederschwellige Plattform, um ihre Meinungen und Erfahrungen zu Themen zu äussern, von denen sie die Gesellschaft sonst weitgehend ausschloss. Alle Frauen waren eingeladen, sich als Redakteurinnen zu beteiligen, über ihren Alltag zu berichten, ihr Fachwissen zu vermitteln oder für Unterhaltung zu sorgen.
In der Schweiz gab es zwei Zeitschriften, eine für die Welschschweiz und eine für die Deutschschweiz. Die Deutschschweizer Frauenwelt erschien ab Oktober 1936 monatlich, das Exemplar kostete 30 Rappen. Neben Koch- und Erziehungstipps, einem juristischen und einem medizinischen Ratgeber und zahlreichen weiteren Sparten fanden die Leserinnen darin eine Analyse der globalen und nationalen Geschehnisse.
Ein Blick in die vergilbten Ausgaben dieser Zeitschrift, die im Sozialarchiv in Zürich liegen, zeigt, wie die Schweizer Friedensaktivistinnen die Welt der 30er Jahre und ihre Rolle darin sahen. So schrieb eine Autorin im November 1936: „Ohne Überwindung des Faschismus ist kein Frieden möglich. Unser Schweizer Frauenkomitee mit seinen lokalen Gruppen sieht mehr denn je darin seine Aufgabe. Wir sind entschlossen, alles, was uns trennen könnte, zu überwinden, um der Gemeinsamkeit des Zieles willen, das uns verbindet. Die Solidarität der Frauen muss mächtig werden wie ein Strom!“
Briefe, humanitäre Hilfe und Warenboykotte
Während die Anfangszeit durch eine intensive Vernetzungsarbeit und Solidaritätsbekundungen gekennzeichnet war, konzentrierten sich die Frauen ab 1936 weltweit vor allem auf direkte Aktionsformen. Ihr Widerstand war trotz der beschränkten Mittel divers und originell.
Gemeinsam mit den Komitees anderer Länder engagierten sich die Schweizer Aktivistinnen für eine internationale Petition gegen die Erhöhung der Militärbudgets und für eine allgemeine Abrüstung. Die Frauen organisierten Streiks und Demonstrationen, forderte den Bundesrat auf, die „scheinheilige“ Neutralitätspolitik zu beenden und verlangten vom Völkerbund, Waffenlieferungen an Kriegsparteien zu stoppen. Sie verfassten „Sympathie- und Solidaritätsschreiben“ an Mitkämpferinnen weltweit und forderten Regierungen auf, gefangene Antifaschist*innen freizulassen. Sogar an Goebbels und Hitler persönlich richteten die Schweizerinnen zahlreiche Schreiben.
Um Beweismaterial über die Terrorakte der deutschen Faschisten zu sammeln, reisten internationale Delegationen des Komitees immer wieder nach Nazideutschland. Die Lokalkomitees planten Vorträge, Diskussions- und Filmabende, um möglichst viele Frauen für die Friedensbewegung zu gewinnen. Durch die Veranstaltung von Tombolas und Festen sammelten die Frauen Geld für humanitäre Hilfslieferungen an Antifaschist*innen auf der ganzen Welt. Neben Kleidung und Schuhen verschickten sie Büchsenmilch, ärztliche Instrumente und Medikamente.
Als Italien 1935 in Abessinien einmarschiert, Japan 1937 in China und Nazideutschland 1939 in der Tschechoslowakei, rief das Schweizer Komitee dazu auf, italienische, deutsche und japanische Waren zu boykottieren. Die Aktivistinnen dekorierten Schaufenster mit besagten Waren, damit sich die Hausfrauen ansehen konnte, was sie fortan nicht mehr kaufen sollten.
Besonders engagierten sich die Schweizerinnen für die Spanienhilfe. „Man nahm an, dass sich der Machtkampf zwischen Faschismus und Demokratie in Spanien entscheidet“, so die Historikerin Nathalie Grunder. Zahlreiche internationale Delegationen – darunter auch Schweizerinnen – reisten nach Spanien, um die Frauen vor Ort in ihrem antifaschistischen Kampf zu unterstützen. In schweizweit über 30 Strick-Zirkeln entstanden über die Monate Berge an Pullovern, Socken und Decken, die nach Spanien transportiert wurden.
Friedfertigkeit als weibliche Eigenschaft
Die Rhetorik des Frauenkomitees beruhte auf biologistischen Argumenten und sprach Frauen eine natürliche Neigung zum Frieden zu. Sie adressierte Frauen in ihrer Rolle als Mütter, deren Aufgabe darin bestand, die Kinder vor einer militärischen Erziehung fernzuhalten und sie zu wertvollen Bürger*innen der Demokratie zu erziehen. Die Annahme, Frauen seien durch ihr Geschlecht von Natur aus friedfertiger als Männer, war weit verbreitet und durchaus im Einklang mit dem Feminismus der Zeit.
Das Komitee übersetzte politische Themen konsequent in die Sprache des Häuslichen und Familiären, jeder Aufruf zum antifaschistischen Widerstand wurde mit der Mutterrolle gekoppelt. Als im Oktober 1938 die Schweiz ihre Grenzen für jüdische Geflüchtete schloss, war in der Frauenwelt zu lesen: „Wollen wir uns wirklich von drüben den Antisemitismus importieren lassen? Das widerspricht unserem Mutter- und Familienempfinden. Leider gibt es immer noch eine grosse Zahl Frauen, die ihre Mission als Menschen und Mütter in der Gesellschaft nicht erkannt haben.“
Mit der wachsenden Erkenntnis, dass ihr Einfluss stark an politische Rechte gebunden war, forderte das Schweizer Komitee vehementer den Ausbau von Frauenrechten und politischer Mitsprache. Die Frauen hielten nun regelmässig Treffen zur Frage des Frauenstimmrechts ab.
Die unterschiedlichen Errungenschaften des Frauenwahlrechts in Europa gefährdeten das gemeinsame Band der politischen Machtlosigkeit der Frauen. Die Schweizerinnen, die in Europa als zweitletzte das Frauenstimmrecht erhielten, wurden immer einsamer in ihrem Kampf um politische Gleichberechtigung. „Wie unmündige Kinder stehen wir da und haben zu tragen, was die Herren über uns beschliessen und wenn es noch so verhängnisvoll in unser Leben und unsere Familien einschneidet“, schrieb eine Autorin der Frauenwelt im März 1938.
Die Mehrheit der Schweizer Männer wollte von einem Frauenstimmrecht nichts wissen, die Forderungen der Aktivistinnen nach politischer Mitsprache verklang ohne Widerhall – zumindest vorerst.
Es sollten noch weitere 32 Jahre vergehen, bis Frauen in der Schweiz endlich zu politisch vollwertigen Bürgerinnen erklärt wurden.
„Unsere Zeit wird kommen“
Bei Kriegsausbruch im September 1939 war die Frustration unter den Frauen gross. Antifaschist*innen wurden nun auch in der Schweiz vermehrt kriminalisiert, Verhöre, Hausdurchsuchungen und Verbote waren die Folge. Die Schweizer Regierung betrachtete antifaschistische Aktivitäten als Bedrohung der Neutralitätspolitik und der öffentlichen Ordnung.
Die meisten internationalen Aktivitäten des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus kamen zum Erliegen. Das Hauptziel des Komitees, einen neuen Weltkrieg zu verhindern, war gescheitert.
Im September 1940, ein Jahr nach Kriegsausbruch, wurde die Frauenwelt eingestellt. In der letzten Ausgabe der Zeitschrift war zu lesen: „In Liebe und Hilfsbereitschaft gedenken wir aller, die heute in den Kriegsländern heimgesucht werden, die nichts sehnlicher gewünscht hatten, als in Frieden leben zu können, die um den Frieden sich knechten und ausbeuten liessen.“
Im März 1939 wurde das Weltkomitee mit Sitz in Paris aufgelöst. Kurz darauf wurde es in Frauenkomitee für Frieden und Demokratie umbenannt und verlegte seinen Sitz nach London – möglicherweise, um dem Verbot der Organisation in Frankreich im September 1939 zuvorzukommen. Nach dem Ausbruch des Krieges wurde die transnationale Zusammenarbeit noch schwieriger, die Organisation brach langsam auseinander. 1941 stellte das Komitee seine Arbeit vollständig ein.
Viele Aktivistinnen führten ihr Engagement aber in anderen Organisationen weiter, denen sie oft auch schon davor angehört hatten. Eine dieser Organisationen, die bereits seit 1915 besteht, ist die Women’s International League for Peace and Freedom, kurz WILPF. Die Organisation mit Sitz in Genf, die eng mit dem Frauenkomitee gegen Krieg und Faschismus vernetzt war, führte die feministische Friedensarbeit auch nach dem zweiten Weltkrieg weiter.
Ihre Forderungen klingen heute wieder erschreckend aktuell.
Trotz ihrer politischen Machtlosigkeit zeugt das Engagement des Frauenkomitees gegen Krieg und Faschismus von den vielen Möglichkeiten, wie sich Menschen über Grenzen hinweg solidarisieren und unterstützen können. Dem Komitee gelang es, Frauen unterschiedlicher politischer und konfessioneller Zugehörigkeit zu vereinen und das übergeordnete Ziel der Friedenssicherung in den Vordergrund zu stellen.
„Man kann diese Aktivistinnen durchaus als Vorbild nehmen“, so Historikerin Nathalie Grunder. „Ihr Kampf zeugt von einem fast unerschütterlichen Glauben an Demokratie, Frieden und Freiheit.“
Mehr Forschung zur Friedensarbeit von Frauen zwischen den Weltkriegen könnte das Verständnis für die Bedeutung von Friedensarbeit vertiefen und Frauen in der Geschichte endlich den Platz zugestehen, den sie verdienen. Um es mit den Worten einer Autorin der Frauenwelt von August 1937 zu sagen: „Und eines weiss ich: Kein Fabrikant, kein Kirchenmann, keine Obrigkeit wird es auf die Dauer verhindern können, dass unsere Zeit kommt.“
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