Corona-Locke­rungen: Mit Vollgas in den näch­sten Lockdown

Der Bundesrat lockert trotz stei­gender Fall­zahlen die Mass­nahmen zur Eindäm­mung des Coro­na­virus. Das ist dumm und wider­spricht den Erfah­rungen anderer Länder. Eine voranschlei­chende Impf­kam­pagne darf kein Anlass für eine Mogel­packung zur Öffnung der Wirt­schaft sein. Ein Kommentar. 
Der Soundtrack der Pandemie (Bild: OgerCartoon)

Trotz stei­gender Fall­zahlen kündigte der Bundesrat am 14. April Locke­rungen der Mass­nahmen zur Eindäm­mung des Coro­na­virus an. Und zwar ohne Rück­sicht auf das im März ange­kün­digte Drei-Phasen-Modell, mit dem die Pandemie unter Kontrolle gehalten werden soll. Dazu zählten unter anderem eine 14 Tages­in­zi­denz von unter 350 Fällen pro 100 000 Einwohner:innen, ein R‑Wert unter 1,15 und eine Inten­siv­sta­tio­nen­be­le­gung unter 300 Betten. Bisher ist nur der letzte Punkt erreicht.

Möglich gemacht worden sei diese ausser­ge­wöhn­liche Entschei­dung durch das verant­wor­tungs­be­wusste Verhalten der Bevöl­ke­rung und den Fort­schritt der Impf­kam­pagne. Zudem hätten die bishe­rigen Locke­rungen nicht zu einem drasti­schen Anstieg der Fall­zahlen geführt.

Selbst die NZZ zeigte sich „über­rascht“ und sprach von „anti­zy­kli­schem Verhalten“. So reiben wir uns die Augen: Hat der Bundesrat noch immer nicht begriffen, dass das, was in der Wirt­schaft funk­tio­niert, sich nicht einfach auf die Gesund­heit über­tragen lässt?

Doch nicht nur von bürger­li­cher Seite kommt verhal­tener Applaus für die „mutige Entschei­dung“. Selbst die SP unter­stützt den Beschluss, sprach von „einer Perspek­tive“ und davon, dass man nun die „Impf­kam­pagne voran­treiben“ solle.

Dass die schlei­chende Kampagne nun als Ausrede für die Öffnung der Wirt­schaft miss­braucht wird, zeigt vor allem eines: Die Schweiz hat mal wieder nichts gelernt. Um das zu verdeut­li­chen, lohnt sich ein Blick ins entfernte Chile.

Noch vor wenigen Wochen wurde der Anden­staat als Impf­welt­mei­sterin gefeiert. Kaum ein anderes Land impfte zu der Zeit so schnell wie Chile, Ende März hatten bereits etwa 20 % der Bevöl­ke­rung zwei Dosen erhalten. In der Euphorie über eine baldige „Perspek­tive“ öffnete das Land zuneh­mend so gut wie alle Wirt­schafts­zweige. Trotz stei­gender Fall­zahlen wurden im Januar inter­re­gio­nale Reisen wieder erlaubt und im Februar gar Schulen, Kinos und Restau­rants geöffnet. Auch Präsenz­ar­beit wurde wieder eingeführt.

Doch schon bald stiegen die Fall­zahlen erneut rasant an, selbst aus länd­li­chen Gebieten wurden Rekord­zahlen gemeldet. Wieder waren die Spitäler über­la­stet und das medi­zi­ni­sche Personal rief um Hilfe. Am 27. März wurde ein neuer­li­cher Lock­down ausge­rufen, selbst die Wahlen vom 11. April wurden um einen Monat verschoben.

Nun wird auch behauptet, dass sich die Entwick­lung darauf zurück­führen lasse, dass Chile vor allem mit der chine­si­schen Sinovac impft. Eine Studie aus Brasi­lien weist einzig eine Immu­ni­sie­rungs­wir­kung von 50 % nach. Doch dies ist zu kurz gedacht: Gemäss der glei­chen Studie sollte eine Impfung mit Sinovac zu 100 % vor einem Aufent­halt auf der Inten­siv­sta­tion schützen.

Und doch füllen sich seit März die Inten­siv­sta­tionen, während das Alter der dort behan­delten Patient:innen fällt. Es sind immer mehr unter 50-Jährige betroffen, während der Anteil an über 70-Jährigen und mitt­ler­weile auch von über 60-Jährigen abnimmt, die beiden Alters­gruppen also, die die höchste Impf­rate haben.

Grund dafür, dass immer jüngere Menschen auf den Inten­siv­sta­tionen landen, könnten die neuen Vari­anten aus den USA und Brasi­lien sein. Diese sind nach ersten Erkennt­nissen deut­lich gefähr­li­cher als die bishe­rigen Virusvarianten.

Chile sitzt nach der über­ha­steten Öffnung in einem zweiten Lock­down, und hier­zu­lande macht sich der Bundesrat daran, den Fehler vom Juli 2020 zu wieder­holen, als er ankün­digte, Massen­events von über 1 000 Personen zu erlauben. Doch während in Chile im Juni das Errei­chen der Herden­im­mu­nität erwartet wird, kann in der Schweiz frühe­stens im August oder September mit einem ähnlich hohen Anteil geimpfter Personen gerechnet werden.

Während sich also welt­weit neue Virus­va­ri­anten ausbreiten, die even­tuell sogar die Immu­nität durch die verfüg­baren Impf­stoffe zunich­te­ma­chen, pulve­ri­siert der Bundesrat die Möglich­keit auf einen entspannten Sommer. Die Regie­rung lässt sich von der Rechten und den Wirt­schafts­ver­bänden vor sich hertreiben, ohne auf warnende Beispiele wie dasje­nige von Chile zu achten. Der dritte Lock­down und Fall­zahlen wie im November 2020 zeichnen sich ab. Diesmal aber mit jüngeren Menschen auf den Intensivstationen.


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