Nach der Flucht kommt das Trauma

In München erfor­schen und behan­deln Wissenschaftler*innen erst­mals syste­ma­tisch die Trau­mata, die Krieg und Verlust Klein­kin­dern zufügen. Unsere Reporter haben sie drei Jahre lang begleitet. 
Spielegruppe in der Geflüchtetensunterkunft Ankerzentrum am Moosfeld in München. (Foto: Sascha Montag)

Der Super­held Captain America brauchte 70 Jahre Kälte­schlaf, um wieder zu seiner Kraft zu kommen, sein Fan Kambi Gilo* schafft es womög­lich in vier Jahren. Der Junge, acht Jahre alt, hüpft mit einem Schutz­schild aus Plastik durch einen Wohn­con­tainer am Stadt­rand Münchens und baut sich vor dem Sofa auf. „Ich beschütze euch“, ruft er. Seine Mutter und seine Oma machen verzückte Gesichter. Der Junge eifert ameri­ka­ni­schen Super­helden nach – Spiderman, Ironman, vor allem Captain America. Seine Wand­lung kommt den beiden Frauen vor wie ein Wunder.

Drei Jahre zuvor, am 21. Januar 2020, griffen russi­sche Kampf­flug­zeuge bei Aleppo, Syrien, einen Bauernhof an und töteten sechs Kinder; im afgha­ni­schen Kandahar erschossen zwei Männer auf einem Motorrad einen Poli­zi­sten; und über Moria in Grie­chen­land hingen dunkle Wolken. 

In Europas grösstem Lager für Geflüch­tete kauerten rund 20’000 Menschen in Zelten und warteten auf eine Zukunft, die viel­leicht nie kommen würde. An jenem Tag legte sich Kambi Gilo in einer ehema­ligen Funk­ka­serne in München, einer Zentral­un­ter­kunft für Geflüch­tete, auf den Boden, hielt sich die Ohren zu und regte sich nicht mehr.

Er ist damals fünf. Es ist kurz nach neun Uhr am Morgen im Spiel­kreis, einem Zimmer voller Kinder, mit Regalen, Kinder­bü­chern und Spiel­zeug in allen Farben, die Wände tape­ziert mit bunten Bildern. Eine der Erzie­he­rinnen ermahnt zwei Jungen, die Pistolen aus Lego­steinen gebaut und sich gejagt haben, weshalb andere Kinder sich die Ohren zuhalten und aussehen, als würden sie jeden Moment anfangen zu brüllen. „Schluss, hier nicht“, sagt die Erzie­herin. Das Spiel mit Waffen ist in diesem Raum, Haus B, zweites Ober­ge­schoss, niemals nur ein Spiel.

Dieser Spiel­kreis soll Klein­kin­dern ein paar Stunden Sicher­heit am Tag ermöglichen.

Dieser Spiel­kreis soll Klein­kin­dern, die mit ihren Eltern aus Syrien, Afgha­ni­stan oder Afrika geflohen sind, später auch aus der Ukraine, ein paar Stunden Sicher­heit am Tag ermög­li­chen. Eine Zuflucht vor Angst und Erin­ne­rungen, die die Kinder aus ihrer Heimat mitge­bracht haben und die sie verfolgen. So ist es bis heute.

Ein Junge namens Omar macht sich daran, einen Schnee­mann aus Plüsch zu operieren. „Er hat Aua.“ Also sticht er mit dem Zeige­finger in den weißen Bauch, als nähe er eine Wunde.

„Nein, nein!“, schreit ein Mädchen namens Hana und schlägt um sich, weil eines der Kinder sie kurz an der Schulter ange­fasst hatte.

Kambi, 8 Jahre alt, spielt gerne mit Comic­fi­guren, seine Lieb­lings­figur ist Spiderman. (Foto: Sascha Montag)

Und Kambi liegt am Boden und achtet nicht auf die Erwach­senen, die sich zu ihm hinun­ter­beugen und ihn zu beru­higen versu­chen. Zwei Kinder haben ihn gehän­selt, ihm ein Spiel­zeug abge­nommen. Er, der Sohn einer kenia­ni­schen Familie, erst kürz­lich mit seiner Mutter und seiner Oma von einem Schleuser nach München gebracht, versteht damals kaum Deutsch und traut sich nicht, sich zu wehren.

Kambi und der Spiel­kreis sind zu dieser Zeit längst Teil einer gross ange­legten Studie. Ein gutes Dutzend Erzieher*innen, Therapeut*innen und Wissenschaftler*innen der Tech­ni­schen Univer­sität München und des Ulmer Unikli­ni­kums versucht erst­mals gezielt, die seeli­schen Erschüt­te­rungen zu ergründen und zu heilen, die Millionen Kinder welt­weit durch Vertrei­bung, Krieg und Flucht erleiden.

Man kennt den Begriff post­trau­ma­ti­sche Bela­stungs­stö­rungen oder das Kürzel PTBS von Soldat*innen. Man kennt ihn viel­leicht auch von Schul­kin­dern und Jugend­li­chen, die einen schweren Unfall oder eine Verge­wal­ti­gung erlebt haben. Was es dagegen bisher kaum gibt, sind Wissen und Hilfe für jüngere Kinder, die noch keine Worte für das Grauen haben, das sie erlebt und gesehen haben. 

Die Zahlen verdeut­li­chen, wie gross der Bedarf ist. Etwa 100 Millionen Menschen sind Schät­zungen zufolge derzeit welt­weit auf der Flucht, mehr als 42 Prozent sind jünger als 18 Jahre. Im Jahr 2022 wurden in Deutsch­land 20.4 Prozent aller Asyl­an­träge für Kinder gestellt, die noch keine sechs Jahre alt waren. In der Schweiz sieht die Situa­tion kaum anders aus. Auf Anfrage schreibt das Staats­se­kre­ta­riat für Migra­tion, dass mehr als 9’000 der insge­samt 24’511 Asyl­an­träge im Jahr 2022 für Minder­jäh­rige gestellt worden seien. 

Viele der Kinder haben Gewalt und Tod gesehen. Sie haben ihre Heimat verloren, manche auch ihre Eltern; sie haben in der Gefahr und auf der Flucht funktioniert.

Die Ersten, die sich in München um die Kinder kümmern, sind eine Sozi­al­wis­sen­schaft­lerin und eine ange­hende Kinder­psy­cho­the­ra­peutin, dazu die Mitarbeiter*innen des Spiel­kreises. Mit diesem Team unter­su­chen die Wissenschaftler*innen die Kinder, erfassen soge­nannte über­le­bens­fo­kus­sierte Zustände, wie sie es in ihrer Fach­sprache nennen: Viele der Kinder haben Gewalt und Tod gesehen. Sie haben ihre Heimat verloren, manche auch ihre Eltern; sie haben in der Gefahr und auf der Flucht funk­tio­niert. Und nun, in Sicher­heit, kann ein harm­loser Reiz – ein Geräusch, eine Geste, eine Berüh­rung – alles zurückholen.

Die Münchner Wissenschaftler*innen suchen nach Wegen, diesen kompli­zierten Teufels­kreis des inneren Alarms zu ergründen und ihn zu durch­bre­chen. Das Forschungs­vor­haben wie auch die Behand­lung der Kinder hat eine private Initia­tive im Jahr 2016 ange­stossen. Inzwi­schen zahlt die baye­ri­sche Staats­re­gie­rung jähr­lich rund 50’000 Euro, die EU gab bisher rund 700’000 Euro.

An jenem Morgen im Januar 2020 setzt Omar den frisch operierten Schnee­mann auf ein Bobbycar und schiebt ihn ins Krankenhaus.

Hana atmet tief ein und aus und holt sich ein Wimmel­bil­der­buch, um sich zu beruhigen.

Und Kambi bleibt am Boden liegen.

Andrea Hahne­feld behan­delt die geflüch­teten Kinder. (Foto: Sascha Montag)

Ein halbes Jahr später, im September 2020, ordnet Andrea Hahne­feld das viele Papier auf ihrem Schreib­tisch. Ihr Büro liegt in einem alten Gebäude mit viel hellem Stein und hohen Decken, der Linole­um­boden dämpft das Geräusch der Schritte. Hahne­feld, Psycho­the­ra­peutin, arbeitet an der TU München und in der sozi­al­päd­ia­tri­schen Ambu­lanz eines Kinderzentrums.

Als Ersten erwartet sie Kambi, einen der Jungen, die Anfang des Jahres in den Spie­le­kreis des Aufnah­me­zen­trums Moos­feld kamen. Es ist eine seiner ersten Thera­pie­stunden bei ihr.

Hahne­feld leitet das Forschungs­pro­jekt, sie koor­di­niert die Studien und die Sprech­stunden mit den Kindern. Ihr Ziel ist es, ein Verfahren zu entwickeln, das die Leiden der Kinder früh­zeitig erkennbar macht. Ausserdem bietet sie eine Trau­ma­the­rapie an, in der sie versucht, geflüch­tete Kinder zu heilen.

Das sei „ein Wett­lauf mit der Zeit“, sagt Hahnefeld.

Kambi, noch immer fünf, betritt mit seiner Mutter Hahne­felds Büro und setzt sich an einen runden Tisch. Im Januar 2019 bezahlte Victoria Gilo* 1’500 Euro an einen Schleuser, der sie, ihren kleinen Sohn und ihre Mutter auf dem letzten Teil ihrer Flucht von Italien nach Deutsch­land brachte. Es ist eine verschlun­gene Geschichte, die sie, ihren Sohn und ihre Mutter nach München trieb. Wenn Gilo sie erzählt, erin­nert sie an einen düsteren Thriller über einen mäch­tigen Clan.

Ihr Vater war in Kenia Vize­mi­ni­ster mehrerer Kabi­nette, die Mutter leitete eine Mädchen­schule. Als der Vater sie verliess und in eine einfluss­reiche Familie einhei­ra­tete, nahm er seine einzige Tochter mit, Victoria. Sie schwamm für die Jugend­na­tio­nal­mann­schaft, schloss ein Studium der Betriebs­wirt­schaft ab.

Andrea Hahne­feld testet die kogni­tiven Fähig­keiten eines geflüch­teten Jungen. (Foto: Sascha Montag)

Dann wurde Kambi geboren. Als der Vater vor einigen Jahren starb, forderte sie, die Tochter, einen Teil seines Erbes ein. Damit, so sagt Victoria Gilo, hätten die Drohungen begonnen. Die Stief­mutter habe Männer geschickt, die ihr auflau­erten und sie einschüch­terten. Und ihre Mutter sei zum Ziel mehrerer Anschläge geworden, die sie knapp über­lebte. Die Mutter sei darüber krank geworden, an Leib und Seele.

So wurden Victoria Gilo, ihr Sohn und ihre Mutter drei Menschen von Hundert­tau­senden, die Zuflucht in Deutsch­land suchten. Sie fanden Unter­schlupf in Obdach­lo­sen­heimen, mal gewährte eine Kirche ihnen ein paar Tage lang Asyl, mal eine deut­sche Familie. Schliess­lich kamen sie in eine Erst­auf­nahme, viele Menschen, wenig Raum.

Hahne­feld will mit Kambi einen Test machen. Auf dem Tisch liegen vier Karten mit Tieren darauf. Drei zeigen Schweine, die vierte eine Ente.

„Welches Bild passt nicht?“, fragt Hahnefeld.

Kambi zeigt auf den Schnabel der Ente. Als er wenig später geome­tri­sche Formen nach einem bestimmten Muster legen soll, rutscht er unter den Tisch und ruft: „Ich verstecke mich.“

„Sie zeigten urplötz­lich Über­re­ak­tionen, als ginge es um ihr Leben. So etwas hatten wir noch nie gesehen.“

Andrea Hahne­feld, Psychiotherapeutin

Die Forscher*innen haben in Leistungs­tests einen Intel­li­genz­quo­ti­enten von gerade einmal 61 ermit­telt, der Durch­schnitt liegt etwa bei 100. Dabei, sagt Hahne­feld, sei der Junge aufge­weckt, sein Spiel­ver­halten normal für sein Alter. So ist es oft. Hahne­feld und ihren Kollegen in der Ambu­lanz fiel auf, dass geflüch­tete Kinder in Leistungs­tests auffal­lend schlecht abschnitten. Hahne­feld sagt, die meisten hätten keinerlei kogni­tive Schwie­rig­keiten. Doch etwas scheine sie zu blockieren. „Sie zeigten urplötz­lich Über­re­ak­tionen, als ginge es um ihr Leben. So etwas hatten wir noch nie gesehen.“

Kambi musste in den etwas mehr als einein­halb Jahren seit seiner Ankunft in Deutsch­land achtmal mit seiner Mutter und Oma umzu­ziehen, von Unter­kunft zu Unter­kunft. Nun, im September 2020, sagt Hahne­feld, hätten die wech­selnden Bedin­gungen dem Jungen zu schaffen gemacht. Das Kind sei über viele Monate hinweg fort­wäh­rend dem Zwang ausge­setzt gewesen, sich neu anzu­passen, auf neue Umge­bungen einzu­stellen, in denen ihm alles fremd gewesen sei. Etwas in ihm wolle dem entkommen. Also versuche er, aus unan­ge­nehmen Situa­tionen zu fliehen.

Schliess­lich schreibt Hahne­feld in ihren sozi­al­päd­ia­tri­schen Bericht, dass Kambi einen Kita­platz benö­tige, Logo­pädie, Ergo­the­rapie, Musik­the­rapie. Im Moment komme er kaum einmal aus dem Gemein­schafts­zimmer der Geflüchtetenunterkunft.

„Bitte machen Sie was!“, sagt Kambis Mutter.

Hahne­feld nickt und tippt etwas in ihren Computer. Sie wird später sagen, dass der Junge keine Psycho­the­rapie brauche, die Mutter kümmere sich herz­lich um ihn, ermun­tere ihn zum Lernen, lese ihm vor. Aber gegen den Förder­rück­stand und die prekären Lebens­be­din­gungen müsse drin­gend mehr getan werden.

Im März 2022 ähnelt das Leben von Kambi, seiner Mutter und seiner Oma einer Wass­er­schüssel, die lange geschüt­telt und gerade wieder auf festen Grund gestellt wurde. Die kleine Familie ist in eine Unter­kunft für Geflüch­tete am Rande der Stadt gezogen, in eine Art Wohn­con­tainer. In dieser Gegend ist wenig los, es gibt dort nur Werk­hallen und ein grosses Gelände, auf dem Lkw verkauft werden. Doch die beiden Frauen und das Kind haben ihr eigenes Apart­ment, Kambi ein eigenes Zimmer.

Spie­le­gruppe in der Geflüch­te­ten­un­ter­kunft Anker­zen­trum am Moos­feld in München. (Foto: Sascha Montag)

Er ist sieben geworden und in einer Kinder­ta­ges­stätte unter­ge­kommen, wie es die Psycho­login Andrea Hahne­feld empfohlen hatte. Kambi geht noch in ihre Sprech­stunde, einmal im Vier­tel­jahr. Die Lern­tests besagen, dass sich seine Konzen­tra­tion und seine Leistungen verbes­sert haben.

„Das Leben wird leichter“, sagt seine Mutter in einem quadra­ti­schen Zimmer, das Küche und Wohn­raum zugleich ist. Victoria Gilo hat einen Kopf­hörer auf, sie lernt Deutsch­vo­ka­beln, während sie an einer Küchen­zeile Teig­ta­schen fürs Frau­en­café frit­tiert. Sie geht dort einmal in der Woche hin, besucht eine Bibelgruppe.

Irgend­wann blickt sie auf ihr Handy nach der Uhrzeit. In einer Stunde kommt Kambi aus der Kita. Sie sagt, sie schaue nicht mehr zurück, zumin­dest versuche sie es. Victoria Gilo sagt, Deutsch­land biete ihr und Kambi so viele Chancen, sie wolle das Beste daraus machen. Sie wolle die Sprache lernen und bald einen Job finden, der sie alle drei ernährt.

Am näch­sten Morgen, in jenem Früh­jahr 2022, springt Kambi im Büro von Andrea Hahne­feld zu einem Rund­tisch, der Raum und die Thera­peutin sind ihm vertraut geworden. „Ich habe sieben Freunde“, sagt er und zählt ihre Namen auf, Daniela und Konstantin und Mike und die anderen. Hahne­feld spielt Memory mit ihm, er findet sofort die Paare.

Am Abend tippt sie die Befunde des Tages in ihren Computer. Als Hahne­feld schliess­lich ihren Arbeitstag beendet, sieht der Himmel über München aus wie nach einem Brand, oran­ge­braun, undurch­dring­lich. Ein paar Tief­druck­ge­biete haben Saha­ra­staub aus Afrika nach Deutsch­land getragen. Es ist, als hänge für einen Moment alles untrennbar zusammen. Die Wüsten­flucht­route im Sahel, die Häfen Libyens, das Meer, München.

Das Jahr 2023 ist einige Wochen alt, als Kambi mit seinem ersten Schul­zeugnis nach Hause kommt, stolz wie ein Eroberer. Er hat seine Leistungen als gut bewertet, die Lehrer sahen es über­wie­gend wie er, so haben sie es geschrieben. Es gibt noch keine Noten in seiner ersten Klasse. Kambi ist acht geworden, alles an ihm ist gewachsen. Er misst 150 Zenti­meter und trägt Schuhe in Größe 40.

Keinen Tag wolle er in der Schule verpassen, sagt Victoria Gilo, die Mutter. Selbst wenn er krank sei. Er spreche jetzt davon, dass er Pilot werden wolle. Oder Chef einer grossen Orga­ni­sa­tion, die Leuten ohne Haus hilft.


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