Simon: „Wir können nicht alle Held*innen sein!“
Wissen Sie, was ein litterbug ist? Nein, er ist kein Mistkäfer, wobei die Assoziation natürlich nicht allzu weit hergeholt ist. Das Wörterbuch verrät uns, dass ein litterbug jemand ist, der die Umwelt durch achtloses Wegwerfen von Abfall verschmutzt. Wirklich geläufig wurde der Begriff erst dank einer grossangelegten Werbekampagne 1954 von einer obskuren Gruppe, die den Namen „Keep America Beautiful“ (kurz: KAB) trug. Deren eingängige Losung: „People start pollution. People can stop it.“
Das Problem: Die people hinter KAB waren nicht etwa umweltbewusste Frühhippies, die sich über Bilder von dahinvegetierenden Vögeln mit Plastikabfall in den Mägen empörten, sondern Coca-Cola sowie verschiedene Hersteller von Blechdosen und Glasflaschen. Mit der Werbekampagne sollten Regulierungen torpediert werden, die den Gebrauch von Einwegverpackungen verbieten wollten, was die Konzerne wiederum einiges an Gewinnmarge gekostet hätte. Das Kalkül dahinter war simpel: Wenn wir alle kräftig nach dem Käfer treten, vergessen wir vielleicht, wer für den ganzen Mist eigentlich verantwortlich ist.
65 Jahre nach der KAB-Kampagne stehen wir wiederum vor einer ähnlichen Frage, dieses Mal nach der Verantwortung an der globalen Klimakatastrophe.
Die Zahlen sprechen eigentlich eine klare Sprache. The Guardian hat in einer Serie aufgedeckt, dass nur gerade 20 Öl- und Gasfirmen für 35 % aller CO2-Emissionen weltweit zuständig sind, die in den letzten 54 Jahren emittiert wurden. Hierzulande verdoppeln alleine die UBS und die Credit Suisse mit ihren klimaschädlichen Investitionen den CO2-Abdruck der Schweiz.
Warum halten wir uns also noch mit der ‚Flugscham‘ auf, wenn wir längst über Bankenregulierungen sprechen sollten? Verstehen Sie mich nicht falsch: Fliegen ist unsolidarisch und umweltschädigend. Wer einen Wochenendtrip nach New York macht, soll sich scheisse fühlen.
Das Problem ist aber, dass die Diskussion rund um Flugzeugticketabgaben, vegane Ernährung und das konsequente Verhalten von Klimastreikenden und grünen Politiker*innen den öffentlichen Diskurs verstopft. Während wir einander unsere CO2-Fussabdrücke um die Ohren hauen, bauen die Banken ihre klimaschädlichen Investitionen weiter aus. Wiederum drohen wir dem Irrglauben aufzulaufen, dass die Verantwortung für Umweltschäden erst bei den Konsument*innen und nicht bereits bei den Produzenten beginnt. Konzerne wie ExxonMobil sind im Kern Energiefirmen und könnten nachhaltige Energieträger fördern – sie haben halt einfach keinen Bock. Die Motive dahinter sind banal wie eh und je: Für ihre Grossaktionär*innen würde sich die Umstellung auf nachhaltige Energieträger kurzfristig nicht lohnen.
Wir haben längst verinnerlicht, was seit Jahrzehnten gepredigt wird: Steuern und Regulierungen runter, um den Konsum weiter anzuheizen. Wo eine Gesellschaft sich am Wirtschaftswachstum misst, wird Konsum schliesslich zur Pflicht. Diese Denkweise steht uns als Individuen im Angesicht der drohenden Katastrophe im Weg – und lässt uns erneut als einzelne litterbugs mit der ganzen Verantwortung im Stich.
Natürlich brauchen wir Held*innen, die uns mit ihrem Verhalten zeigen, wie ein nachhaltiges Leben aussieht. Aber Held*innen setzen sich mit einem übermenschlichen Aufwand über diejenigen Hindernisse hinweg, die ihnen in den Weg gelegt werden. Anstatt uns mit der Frage herumzuschlagen, wie wir alle Held*innen sein können, sollten wir lieber zusammen die Hindernisse abbauen, die das Heldenepos erst notwendig machen.s
Alex: „Wer sich heute einschränkt, ist ein Idiot!“
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie gehen mit einem Arbeitskollegen über den Mittag in einen Laden, um sich ein Sandwich zu kaufen. Während Sie sich in die Schlange vor der Kasse stellen, macht sich Ihr Kollege direkt auf den Weg Richtung Ausgang. „Hey, willst du nicht bezahlen?“, rufen Sie ihm hinterher. „Ach nö, das geht mir zu lange und kostet zu viel. Ist ja freiwillig.“ Sie finden die Vorstellung absurd, dass man freiwillig entscheiden kann, ob man für etwas, das man konsumiert, auch bezahlt? Ich auch. Immerhin fielen für die Produktion des Sandwiches ja Kosten an. Man musste das Brot kaufen, die Gurken schneiden und jemanden anstellen, der es belegt und verkauft. Und wer sonst als der Konsumierende soll nun diese Kosten übernehmen? Aber das fiktive Beispiel hat viel mehr mit unserer gesellschaftlichen Realität zu tun, als Sie denken. Bei vielen Kosten, die heute verursacht werden, kann der oder die Konsumierende tatsächlich frei entscheiden, ob er oder sie sie begleichen will oder nicht.
Die Kosten von CO2-intensiven Lifestyles werden nicht individuell beglichen.
Denn wer mit Billigflügen, SUVs und Fleischkonsum ein CO2-intensives Leben führt, verursacht Kosten. Und zwar hohe Kosten: Laut dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) werden wir in Zukunft nur schon eine Milliarde Franken pro Jahr aufbringen müssen, um unsere Infrastruktur angesichts der Klimaerhitzung instand zu halten. Bezahlen werden das nicht diejenigen, die klimaschädlich gelebt haben, sondern wir alle zusammen. Kommende Generationen wohl noch stärker als die gegenwärtigen.
Aber es kommt noch besser. Nicht nur ist klimaschädliches Verhalten gratis und breit akzeptiert, sondern für klimafreundliches Verhalten zahlt man auch noch drauf. Wenn ich Biogemüse kaufe anstatt billiges, konventionell angebautes Gemüse, das in erdölbeheizten Gewächshäusern gezogen wurde; wenn ich stundenlang im Zug sitze, statt den Billigflug zu nehmen; wenn ich mich mit dem Velo durch den Stadtverkehr quäle, statt ins benzinbetriebene Auto zu sitzen: Immer zahle ich mit Franken, Nerven und Stunden drauf.
Die strukturellen Vorteile für klimaschädliches Verhalten müssen weg.
Aber zurück zum Sandwich. Hand aufs Herz: Würden Sie sich in die Schlange hinter der Kasse stellen, wenn es freiwillig wäre, dafür zu bezahlen? Natürlich nicht. Sie sind ja kein Vollidiot. Lustigerweise gibt es aber solche Idiot*innen trotzdem. Zum Beispiel mich. Geflogen bin ich seit zehn Jahren nicht mehr. Können Sie sich vorstellen, wie viel mich das verglichen mit einem durchschnittlichen Reisenden gekostet hat? Und wofür, wenn alle anderen gleich weitermachen wie bis anhin? Denn es ist ja freiwillig, auf das Flugzeug zu verzichten. Dass sich die meisten dann denken: „Ach nö, das geht mir zu lange und kostet zu viel. Ist ja freiwillig“ scheint naheliegend. Drin liegen tut es in unserem CO2-Budget aber trotzdem nicht.
Deshalb ja: Der politische grüne Wandel soll auch das Individuum betreffen. Und zwar so, dass man für ein klimagerechtes Verhalten endlich nicht mehr dauernd bestraft wird.
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