Passt Links und Männer­fuss­ball zusammen?

Viele Linke sind sich einig: Männer­fuss­ball ist ein Symbol­sport des patri­ar­chalen, natio­na­li­sti­schen und korrupten Kapi­ta­lismus. Kann das also weg oder sollte der Männer­fuss­ball aus linker Perspek­tive neu gedeutet werden? Im Rahmen der allge­gen­wär­tigen Euro­pa­mei­ster­schaft entflammt die Frage nach dem rich­tigen Umgang mit der welt­weit belieb­te­sten Sportart von neuem. Ein Thema, zwei Autoren, zwei Meinungen. 
Männerfussball: Unpolitisch oder mit dem Potential, politische Themen zu verbreiten? Wir diskutieren! (Foto: Bruno Aguirre / Unsplah)

Ja!

Simon Muster

Die Illu­sion der anstän­digen Schweiz ist ein dünner Schleier, der leicht verrückt. Manchmal reichen ein Schopf blon­dierter Haare und ein paar prot­zige Sport­wagen, und eine Nation überbeisst.

Was der Natio­nal­mann­schaft in den letzten Wochen an unver­hoh­lenem Rassismus aus der Schweizer Mehr­heits­ge­sell­schaft entge­gen­ge­schlagen ist, sollte empören. Doch wer sich mit der jüngeren Geschichte dieses Teams ausein­an­der­setzt, kann nicht wirk­lich über­rascht sein. Egal, ob die ewige Diskus­sion über die Natio­nal­hymne, den Doppel­adler oder einge­flo­gene Coiffeur:innen: Die Elf um Xhaka wird schon länger als abge­hoben beschrieben – als Multi­mil­lio­näre, die den Bezug zur einfa­chen Schweizer Bevöl­ke­rung verloren hätten, weil einige davon beim Trai­nings­lager in Bad Ragaz mit teuren Sport­wagen vorge­fahren sind.

Dieselbe Schweizer Bevöl­ke­rung fährt übri­gens, wie Sport­jour­na­list Florian Renz ange­merkt hat, propor­tional am meisten SUVs in Europa. Und während­dessen baut sich Natio­nal­held Roger Federer in Rapperswil eine 16’000 Quadrat­meter Villa direkt an den Zürichsee. Womit sich Herr und Frau Schweizer halt noch iden­ti­fi­zieren können.

Vorge­schoben wird bei der neusten Kritik an Shaqiri und Co. das Leistungs­ar­gu­ment: Das Spiel gegen Italien sei grot­ten­schlecht gewesen, die Spieler nicht enga­giert bei der Sache. Als würde ein schlechter Arbeitstag das Trom­mel­feuer der rassi­sti­schen Kritik legitimieren.

Profi­sport ist wie jeder gesell­schaft­liche Raum eminent poli­tisch – und Männer­fuss­ball ist der grösste und einfluss­reichste Sport der Welt. Wer genau hinschaut, findet hier alle gesell­schaft­lich rele­vanten Diskus­sionen gespie­gelt. Natür­lich war die Regen­bo­gen­dis­kus­sion rund um das Spiel der Deut­schen gegen Ungarn symbo­lisch und die Anbie­de­rung von Unter­nehmen und Politiker:innen lächer­lich – aber wie viele der grölenden Männer­fuss­ball­fans hätten ohne die Armbinde von Manuel Neuer von der poli­ti­schen Homo­phobie in Ungarn erfahren?

Der tragi­sche Suizid eines Nach­wuchs­spie­lers in Gross­bri­tan­nien haben erst kürz­lich zu einer öffent­li­chen Diskus­sion über psychi­sche Gesund­heit und toxi­sche Männ­lich­keit bei Fuss­bal­lern geführt. Die stän­digen rassi­sti­schen Anfein­dungen, die POC-Fuss­baller tagtäg­lich erleben, hat zu einer anhal­tenden Soli­da­ri­täts­be­we­gung unter den Spie­lern geführt – eine Bewe­gung, die die Premier League und die UEFA eifrig versu­chen zu entpolitisieren.

All diese Diskus­sionen sind wichtig – und die poli­ti­sche Linke wäre gut beraten, sich gegen die Entpo­li­ti­sie­rung von Männer­fuss­ball einzu­setzen. Kaum ein anderes öffent­li­ches Phänomen wird von so vielen Menschen aus den unter­schied­lich­sten poli­ti­schen Lagern und sozio­öko­no­mi­schen Schichten verfolgt. Auch wenn der einst prole­ta­ri­sche Brei­ten­sport heute komplett vom Kapital verein­nahmt ist – bei den Spielen fiebern immer noch Menschen mit, nicht Aktien.

Deswegen: Wer im Männer­fuss­ball die Deutungs­ho­heit hat, hat auch poli­ti­sche Macht. Diese liegt heute bei den Konzernen: Profi­fuss­ball ist ein freier Markt, auf dem Fuss­baller ohne nennens­werten Arbeiter:innenschutz gehan­delt werden und Fankultur als Mittel zur Vermark­tung instru­men­ta­li­siert wird. Ein linker, poli­ti­scher Fuss­ball hingegen verstaat­licht die Fuss­ball­ver­eine und über­führt sie an Fans und Commu­nity; er bricht die unsin­nige Geschlech­ter­tren­nung auf und löst sich aus der Gänge­lung von Fuss­ball­ver­bänden. Gerade die Schweiz, als Haupt­sitz von UEFA (Nyon) und FIFA (Zürich), wäre ein guter Ausgangs­punkt für Veränderungen.

Statt­dessen werden während grossen Turnieren wie der EM immer die glei­chen Argu­mente von Links gegen den Natio­na­lismus bei Länder­spielen, patri­ar­chale Männer­bilder und das kapi­ta­li­sti­sche Wesen der Sport­ver­bände und Vereine laut. Diese Kritik ist berech­tigt. Sie wirkt aber platt und selbst­ge­recht, wenn man nicht versucht, etwas zu ändern. Die Stimmen inner­halb des Sports, die für eine bessere Fuss­ball­welt arbeiten, sind da, doch sie sind auf sich allein gestellt. Das Feld wird lieber jenen über­lassen, die Geld an den von links kriti­sierten Struk­turen verdienen.

Natür­lich sind die Schweizer Fahnen an jeder Ecke pein­lich und niemand muss beim Spiel heute Abend mitfie­bern. Sich nicht für Männer­fuss­ball zu inter­es­sieren ist das Normalste der Welt. Wenn sich aller­dings der Schleier verschiebt und der rassi­sti­sche Diskurs über Zuge­hö­rig­keit und Legi­ti­mität an der Schweizer Natio­nal­mann­schaft kristal­li­siert, ist die linke Pauschal­ver­wei­ge­rung fatal. Soli­da­rität mit Mitmen­schen kann nicht dort aufhören, wo wir uns nicht unter­halten fühlen.

Es gibt genug «Patriot:innen» in diesem Land, die mit ihren rassi­sti­schen Ressen­ti­ments nur darauf warten, dass Frank­reich Akanji und Seferović heute hoch­kant nach Hause schicken. Deswegen: Sich heute über eine gute Leistung der Schweiz zu freuen, ist ironi­scher­weise eine anti­pa­trio­ti­sche Handlung.

Nein!

Jonas Frey

Fuss­ball scheint eine grosse Sache zu sein, wirft man dieser Tage einen Blick auf die Titel­seiten von Schweizer Tages­zei­tungen. Elf Männer der Schweizer Natio­nal­mann­schaft treten heute Abend gegen elf Männer aus Frank­reich an. Im Vorfeld des Achtel­fi­nal­spiels der Euro­pa­mei­ster­schaft äussern sich die Schweizer Kicker zu ihren Chancen, spre­chen über Taktik und Menta­lität, über Leiden­schaft und Härte.

Es geht um Sport. Um Sieg oder Nieder­lage. Und es geht um Männer.

Es geht um Sport. Um Sieg oder Nieder­lage. Und es geht um Männer.

Die Erkenntnis, dass es im Sport darüber hinaus um Politik geht, ist so banal und offen­sicht­lich wie die Tatsache, dass Patri­ar­chat und Markt­li­be­ra­lismus unser Leben schlechter machen. Und trotzdem herrscht im Profi­fuss­ball die Devise: Hier darf Politik keine Rolle spielen.

So durfte die Münchner Allianz-Arena beim Euro­pa­mei­ster­schafts­spiel zwischen Deutsch­land und Ungarn letzte Woche nicht in den Regen­bo­gen­farben leuchten, wie der Euro­päi­sche Fuss­ball­ver­band UEFA entschied. Dies, nachdem die Stadt München einen Antrag bei der UEFA stellte, um gegen ein vom unga­ri­schen Parla­ment vorletzte Woche verab­schie­detes homo- und trans­feind­li­ches Gesetz zu protestieren.

In einem State­ment schrieb die UEFA, das dies­be­züg­liche Anliegen der Stadt München sei hinsicht­lich des Ungarn-Kontextes «poli­tisch». Der Regen­bogen hingegen sei «kein poli­ti­sches Symbol, sondern ein Zeichen für unser Enga­ge­ment für eine diver­sere und inklu­si­vere Gesellschaft.»

Die in der Folge durch zahl­reiche Spieler ange­stos­sene Kritik gegen die menschen­feind­liche Politik Viktor Orbáns und die Empö­rung über den Entscheid der UEFA mögen löblich sein. Dass die Kritik jedoch in einem Rahmen aufflammt, der laut Akteur:innen und Organisator:innen des Fuss­balls nicht poli­tisch sein sollte, lässt sie zur Farce verkommen.

Wenn eine Orga­ni­sa­tion mit dem Einfluss einer UEFA den Regen­bogen aus seinem poli­ti­schen Kontext reisst, ihn in einen Frei­raum für Männ­lich­keit, Natio­na­lismus und Kommerz inte­griert, so verwäs­sert dies die Dring­lich­keit des Anliegens.

Denn am Ende steht ausschliess­lich das Grät­schen und Kicken im Vorder­grund. Der Sport. Sieg oder Nieder­lage. Die Männer.

Wenn der Männer­fuss­ball etwas nicht kann, dann gesell­schaft­liche Verän­de­rungen anstossen. Er ist das Produkt einer patri­ar­chal-kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft, der Männ­lich­keits­kult und die Iden­ti­fi­ka­tion damit fördert. Alle poli­ti­schen Anliegen, die an ihn heran­ge­tragen werden, werden abge­stumpft durch seinen Anspruch, nicht poli­tisch zu sein und durch die Tatsache, dass es nur Männer sind, die Anliegen einbringen und thematisieren.

Der Anspruch des Männer­fuss­balls, poli­tik­frei zu sein, bietet dem männ­li­chen, kommer­zi­ellen und natio­na­li­sti­schen Status Quo die idealen Über­le­bens­chancen. Alle darin enthal­tenen Anzei­chen von Politik gehen unter im Unter­hal­tungs­wert des Spiels. Fuss­ball bleibt Fuss­ball, Politik bleibt Politik.

So geschah auch nach der Akti­ons­welle um das Spiel zwischen Deutsch­land und Ungarn auf poli­ti­scher Ebene nichts.

So geschah auch nach der Akti­ons­welle um das Spiel zwischen Deutsch­land und Ungarn auf poli­ti­scher Ebene nichts. Ungarn ist weder aus der EM ausge­schlossen worden, noch wird sich die EU zu einer restrik­ti­veren Politik gegen Orbán durch­ringen. Eine grosse Mehr­heit der euro­päi­schen Staatschef:innen bleibt ihrer markt­li­be­ralen Politik verpflichtet. Auf dem Rasen der Fuss­ball­plätze der Euro­pa­mei­ster­schaft grät­schen weiterhin ausschliess­lich Männer, die ihre öffent­liche Reich­weite für die Insze­nie­rung von Norm­schön­heit statt für den Kampf gegen Geschlech­te­run­ge­rech­tig­keit nutzen.

Sollte also der Torhüter der Schweiz Yann Sommer beim heutigen Spiel gegen Frank­reich hin- und her hech­tend das Weiter­kommen der Natio­nal­mann­schaft sichern, im Inter­view nach dem Spiel von Stolz und Stärke spre­chen und morgen auf den Titel­seiten der Schweizer Tages­zei­tungen zum Helden der Nation stili­siert werden, wird einmal mehr deut­lich, was der Männer­fuss­ball ist: eine reak­tio­näre Sportart, bei der Männer für Männer gewinnen, die nichts zur Über­win­dung der vorherr­schenden Struk­turen beitragen.


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