Neue Gewalt in Chiapas – und eine kleine Revo­lu­tion der Bienen

Chiapas ist in Aufruhr, seit Monaten kommt es zu Gewalt durch Para­mi­li­tärs und Drogen­banden. Der mexi­ka­ni­sche Bundes­staat war in den 90er-Jahren Ursprungsort der zapa­ti­sti­schen Revo­lu­tion, die linke Strö­mungen welt­weit beein­flusste und den Kampf gegen die neoli­be­rale Globa­li­sie­rung entschei­dend prägte. Im Gespräch mit einem schwei­ze­ri­schen Akti­vi­sten vor Ort versucht das Lamm, die Gescheh­nisse einzuordnen. 
Menschen aus den umliegenden Gemeinden besetzten die Stadt Pantelhó. (Foto: Angeles Mariscal)

Das Lamm: Philipp Gerber, Sie sind in Zürich aufge­wachsen, leben jetzt in Mexiko und enga­gieren sich für die zapa­ti­sti­sche Bewe­gung. Man hat in den letzten Jahren eher wenig aus Chiapas gehört. Wie ist die Situa­tion vor Ort?

Philipp Gerber: Es war jahre­lang relativ ruhig in Chiapas, deswegen die Funk­stille. Die zapa­ti­sti­sche Bewe­gung, die 1994 den bewaff­neten Aufstand gegen die mexi­ka­ni­sche Regie­rung orga­ni­sierte, war in den letzten Jahren nicht mehr mili­tä­risch aktiv. Sie hat sich darauf konzen­triert, die indi­gene Auto­nomie auszu­bauen. Gleich­zeitig war die Region bislang vom Drogen­krieg in Mexiko nur am Rande betroffen. Das hat sich jetzt geän­dert. In den letzten zwei bis vier Jahren hat sich in Chiapas vermehrt die Orga­ni­sierte Krimi­na­lität breit­ge­macht und ein Klima der Angst geschaffen. Vor ein paar Wochen kam es dann zur Eskalation.

Was ist passiert?

Am 5. Juli wurde der Menschen­rechtler Simón Pedro Pérez López in der Stadt Simo­jovel erschossen. Dieses Ereignis war der Auslöser für einen lokalen Aufstand gegen Machthaber:innen, denen enge Verbin­dungen zur Orga­ni­sierten Krimi­na­lität nach­ge­sagt werden.

Wer war Simón Pedro?

Simón Pedro Pérez López war bis letztes Jahr der Präsi­dent der Orga­ni­sa­tion Las Abejas de Acteal, auf Deutsch: die Bienen von Acteal. Die Abejas sind christ­lich orien­tiert und arbeiten eng mit den befrei­ungs­theo­lo­gisch geführten Kirchen in Chiapas zusammen. Sie verstehen sich als Pazifist:innen, stimmen aber in der poli­ti­schen Ausrich­tung mit den Zapa­ti­stas überein: Das heisst, sie wollen keine wirt­schaft­li­chen Gross­pro­jekte auf ihrem Terri­to­rium, sie wollen indi­gene Auto­nomie, sie wollen als voll­wer­tige Mitglieder der mexi­ka­ni­schen Gesell­schaft aner­kannt werden.

Pazi­fist und Akti­vist Simón Pedro Pérez López bei einem Gottes­dienst. (Foto: Luis Aguilar )

Was ist nach der Ermor­dung von Simón Pedro passiert?

Am 6. Juli, in der Nacht nach der Beer­di­gung, wurde der Hauptort der Region Pantelhó, Pantelhó Stadt, von Bewaff­neten ange­griffen. Zuerst wusste man gar nicht, was geschah. Bald wurde klar: Das ist die orga­ni­sierte Bevöl­ke­rung der 86 Gemeinden von Pantelhó, die sich erhoben hat. Die Menschen haben versucht, auf eigene Faust Grup­pie­rungen der Orga­ni­sierten Krimi­na­lität aus dem Hauptort zu vertreiben. Aus diesem Aufstand ist eine Selbst­ver­tei­di­gungs­or­ga­ni­sa­tion hervor­ge­gangen, die sich El Machete nennt.

Stehen die Aufstän­di­schen von El Machete in Kontakt mit den Zapatistas?

Das ist eine eigen­stän­dige Gruppe ohne engere Verbin­dungen zu den Zapatistas.

Wer genau soll aus Pantelhó vertrieben werden?

Es geht um die Lokal­für­sten, die soge­nannten Caci­ques, und ihre Hand­langer. Caci­ques sind so etwas Ähnli­ches wie Feudal­herren, sie enga­gieren sich poli­tisch, lassen sich wählen und machen Fami­li­en­mit­glieder zu Gemeindepräsident:innen. Wenn sich jemand mit ihnen anlegt, schrecken sie auch vor Mord nicht zurück.

In Chiapas speziell kommt zu den Caci­ques noch das Problem der Para­mi­li­tärs hinzu. Die para­mi­li­tä­ri­schen Grup­pie­rungen wurden in den 90ern vom Staat unter­stützt, um die Zapa­ti­stas zu bekämpfen. Sie wurden nach dem Waffen­still­stand aber nie entwaffnet. Mit dem Aufkommen der Drogen­kri­mi­na­lität in den letzten Jahren haben sich diese Gruppen reor­ga­ni­siert und neue Einnah­me­quellen aufgetan. Heute arbeiten sie zum Teil mit den Caci­ques zusammen.

Das ist die poli­ti­sche Gemenge­lage, in welcher der Mord an Simón Pedro geschehen konnte.

Philipp Gerber ist Mitbe­gründer der Direkten Soli­da­rität mit Chiapas. (Foto: Urs Gerber)

Philipp Gerber war in den 90er-Jahren in der linken Szene der Schweiz aktiv und enga­giert sich seit dem Aufstand von 1994 für die Zapa­ti­stas. Er ist Mitbe­gründer der Gruppe Direkte Soli­da­rität mit Chiapas, heute Direkte Soli­da­rität. Nach einem Ethno­lo­gie­stu­dium, das er mit der Arbeit „Das Aroma der Rebel­lion“ über Café RebelDía abschloss, zog er nach Mexiko. Er lebt heute im Bundes­staat Oaxaca, wo er mexi­ka­ni­sche Gruppen im Kampf gegen wirt­schaft­liche Gross­pro­jekte wie Stau­dämme und Berg­werke unter­stützt. Neben seiner Arbeit für die Direkte Soli­da­rität ist er in der Länder­ko­or­di­na­tion Mexiko für Medico International.

Warum eska­liert die Situa­tion ausge­rechnet jetzt?

Es ging um Betrug bei den kürz­lich abge­hal­tenen Gemein­de­wahlen. Der Vorwurf war, dass ganze Gemeinden gezwungen wurden, für bestimmte Kandidat:innen zu stimmen. Ausserdem soll die Regie­rung von Pantelhó mit der Orga­ni­sierten Krimi­na­lität unter einer Decke stecken. Dorf­vor­ste­hende aus Pantelhó spra­chen im Anschluss an die Wahlen beim Innen­mi­ni­ste­rium von Chiapas vor, um auf die Miss­stände aufmerksam zu machen. Simón Pedro soll diese Initia­tive mitor­ga­ni­siert haben. Kurz darauf wurde er umgebracht.

Was weiss man über die Vorgänge in Pantelhó? Wie ist die Informationslage?

Am Anfang war alles sehr unüber­sicht­lich. Unge­fähr dreissig Stunden war die Region abge­rie­gelt, es gab weder Tele­fon­kon­takt noch konnten Polizei und Militär in das Gebiet vordringen. Wie viele Verletzte und Tote es gab, ist unbe­kannt. Klar ist nur, dass in diesen Stunden Menschen aus den Gemeinden krimi­nelle Gruppen bekämpften, die sich im Hauptort verschanzt hatten.

Für die Zeit danach ist dann alles mehr oder weniger gut doku­men­tiert, auch über Journalist:innen, die vor Ort waren: Die Guardia Civil und das Militär haben den Hauptort besetzt und sind dort bis heute präsent.

Unter­stützt die Guardia Civil die Bewohner:innen im Kampf gegen die Orga­ni­sierte Kriminalität?

Diese Hoff­nung bestand, bislang ist aller­dings nicht viel geschehen.

Das Militär patrouil­liert in Pantelhó. (Foto: Angeles Mariscal)

Nachdem kurz Ruhe einge­kehrt war, sind erneut Kämpfe aufge­flammt. Wie kam es dazu?

Zu Beginn des Konfliktes sind bis zu 3 000 Anwohner:innen in die Berge oder in den Nach­bar­bun­des­staat geflohen. Mit der Präsenz von Militär und Polizei konnten die Menschen dann teil­weise wieder in ihre Dörfer zurück­kehren. Weil unter den Rück­keh­renden aber auch Leute aus der Orga­ni­sierten Krimi­na­lität waren, hat sich die Situa­tion nochmal drastisch verschärft.

Wie das?

Die Bewohner:innen wollten sich den Wieder­einzug der Mafia nicht gefallen lassen und haben Häuser von Fami­lien mit Verbin­dung zur Orga­ni­sierten Krimi­na­lität ange­zündet und den Präsi­den­ten­pa­last als Sitz der lokalen Regie­rung einge­nommen. An dieser Aktion waren etwa 20 % der Gesamt­be­völ­ke­rung betei­ligt. Das Militär und die Guardia Civil hatten sich zurück­ge­zogen und dem Geschehen zugesehen.

Sind also Ange­hö­rige der Orga­ni­sierten Krimi­na­lität am Ende Opfer eines aufge­brachten Mobs geworden?

Die Menschen haben sich nur gewehrt. Sie haben zurück­ge­schlagen, weil die Para­mi­li­tärs und Narcos die Dörfer seit 20 Jahren terro­ri­sieren und gezielt Menschen ermorden. Ich hab das mit lokalen Vertrau­ens­leuten abge­klärt: Hinter dem Aufstand steht keine andere lokale Mafia­grup­pie­rung oder etwas Ähnli­ches. Die Aktion war Notwehr, damit zwar eine Form von Selbst­ju­stiz, aber ganz klar Selbst­ju­stiz mit Unter­stüt­zung der Gemeinden und Gemein­de­voll­ver­samm­lungen. Viel­leicht kann man sagen: eine legi­time, von den Voll­ver­samm­lungen getra­gene Selbstjustiz.

Und trotzdem hat sich die Eska­la­ti­ons­spi­rale kürz­lich noch weiter gedreht. Anfang dieser Woche, also um den 10. August, wurde der Sonder­staats­an­walt Gregorio Peréz in San Cristóbal de las Casas ermordet. Verschie­dene Medien, zum Beispiel der Spiegel, melden, dass sich El Machete zu dem Mord bekannt haben, wahr­schein­lich, weil Peréz auch ihre Vergehen unter­su­chen sollte.

Das war sicher nicht El Machete. Es würde keinen Sinn machen. Hinter dem Mord am Staats­an­walt steckt die Orga­ni­sierte Krimi­na­lität und mit ihr die örtliche Caci­ques-Familie. Ihre Verbre­chen wollte Gregorio Peréz unter­su­chen, woraufhin er auf typi­sche Mafia-Art umge­bracht wurde. Die Vorge­hens­weise der Täter war sogar ähnlich wie bei der Ermor­dung von Simón Pedro in Simo­jovel: Zwei Personen auf einem Motorrad näherten sich Gregorio Pérez Gómez und erschossen ihn auf einer belebten Strasse mitten im Stadt­zen­trum von San Cristóbal de las Casas.

Die Orga­ni­sa­tion El Machete grün­dete sich in Reak­tion auf Morde durch die Orga­ni­sierte Krimi­na­lität. (Foto: Angeles Mariscal )

Wie wird es jetzt weitergehen?

Es könnte für eine Prognose noch etwas zu früh sein. Aber es sieht schon danach aus, dass die Orga­ni­sa­tion der Gemeinden stark genug ist, um ein Zurück zu den vorhe­rigen Zuständen zu verhin­dern. Anfang August fanden erste Verhand­lungen der aufstän­di­schen Bevöl­ke­rung mit den mexi­ka­ni­schen Behörden statt, die nun verspra­chen, die zahl­rei­chen Verbre­chen der Orga­ni­sierten Krimi­na­lität zu verfolgen. Ausserdem verbot die Bevöl­ke­rung in ihrer Gemeinde Pantelhó den Konsum von Alkohol und Drogen. Am 9. August kam es zu einer Voll­ver­samm­lung der 86 Dörfer und 18 Quar­tiere des Haupt­orts Pantelhó, auf der ein unab­hän­giger Gemein­derat gewählt wurde. In diese Situa­tion platzte am 10. August die erschüt­ternde Nach­richt, dass der indi­gene Staats­an­walt, der die Verbre­chen der Lokal­für­sten unter­su­chen sollte, auf offener Strasse ermordet wurde. Einmal mehr wird klar, wie gross der Hand­lungs­spiel­raum der Mafia ist und wie schlecht der mexi­ka­ni­sche Staat auf eine konse­quente Straf­ver­fol­gung vorbe­reitet ist.

Welches poli­ti­sche System schwebt den Aufstän­di­schen vor?

Die Menschen wollen weg von der Herr­schaft der Parteien und ihrer lokalen Auto­ri­täten hin zu einer, wie es hier heisst, Herr­schaft auf Grund­lage der Gebräuche und Sitten. Dabei handelt es sich um eine Art indi­gene Auto­nomie, die zum Beispiel im Bundes­staat Oaxaca schon weit­ge­hend durch­ge­setzt ist und vom mexi­ka­ni­schen Staat auch aner­kannt wird; im Gegen­satz zur zapa­ti­sti­schen Auto­nomie, die de facto existiert, aber keine Aner­ken­nung besitzt.

Die Zapa­ti­stas genossen in den 90er-Jahren grosse Aufmerk­sam­keit bei der inter­na­tio­nalen Linken. Ist es für die Aufstän­di­schen von Pantelhó gefähr­lich, dass sie nicht mehr über diese Aufmerk­sam­keit verfügen?

Die Öffent­lich­keit damals war extrem wichtig. Nur deswegen hat sich das mexi­ka­ni­sche Militär in den 90er-Jahren zurück­ge­halten und ist der Staat am Ende in Verhand­lungen einge­treten. Das hat die mexi­ka­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft in Zusam­men­ar­beit mit der inter­na­tio­nalen Linken erreicht. Darum wäre es natür­lich wichtig, dass die Welt auch heute wieder genau auf die Vorgänge in Chiapas schaut.

Wer sich heute also für die Zapa­ti­stas und die begin­nende indi­gene Selbst­ver­wal­tung in Pantelhó enga­gieren will, sollte welt­weit für Öffent­lich­keit sorgen. Wie könnte man da vorgehen?

Das ist recht einfach. Beson­ders die Zapa­ti­stas stellen diese Öffent­lich­keit auch selber her. Gerade ist zum Beispiel eine kleine Dele­ga­tion mit dem Segel­schiff La Montaña von Mexiko nach Europa gefahren. Zum 500. Jahrestag der Kolo­ni­sa­tion Mexikos drehen sie den Spiess um und erobern mit ihrer symbo­li­schen Über­fahrt den „alten“ Konti­nent. Zusammen mit einer weiteren Dele­ga­tion, die noch folgen wird, bereisen die Zapa­ti­stas Europa, um mit Genoss:innen aus vergleich­baren poli­ti­schen Bewe­gungen ins Gespräch zu kommen.

Vom 27. bis 29. August finden in Basel Akti­ons­tage zur Rund­reise der Zapa­ti­stas statt. Eine Ausrede gibt es also nicht: Wer sich soli­da­ri­sieren will, kann das tun. Auch vor der eigenen Haustür.


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