„Nicht Gier treibt uns an, sondern Angst“

Einst galt die Hoff­nung, durch Wachstum den ökono­mi­schen Mangel zu über­winden. Heute stehen alle unter dem stän­digen Zwang, effi­zi­enter, inno­va­tiver, schneller zu werden. Sozio­loge Hartmut Rosa erklärt im Inter­view, warum Burn­outs mehr mit Hoff­nungs­lo­sig­keit als mit Über­ar­bei­tung zu tun haben. 
Schneller, besser, weiter: Wer sich nicht steigert, läuft Gefahr, abgehängt zu werden. (Bild: Martin Adams / Unsplash)

Das Lamm: Herr Professor Rosa, viele Menschen plagt heute das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Wann hat das begonnen?

Hartmut Rosa: Ganz so neu, wie es uns manchmal erscheint, ist das nicht, es begann schon im 18. Jahr­hun­dert. Damals wandelte sich die Gesell­schaft massiv, erlebte einen gewal­tigen Schub der Verän­de­rung – vor allem mit der Entwick­lung einer vom Markt gesteu­erten Wirt­schaft. Zwar waren auch Gemein­schaften zuvor nicht statisch, auch sie haben sich beständig verän­dert, durch Kriege, Dürren, Krank­heiten, den Wechsel der Herr­scher – oder durch Zufall, etwa wenn jemand eine Entdeckung gemacht hatte.

Aber dass eine Gesell­schaft gar nicht anders kann, als sich zu verän­dern, das war ein modernes Prinzip, das mit dem Kapi­ta­lismus aufkam. Denn wirt­schaft­liche Tätig­keit funk­tio­nierte von nun an nur durch das Verspre­chen, dass man mehr gewinnt, als man einge­setzt hat: Geld wird ja immer in der Hoff­nung inve­stiert, dass mehr Geld rauskommt.

Fortan musste in immer weniger Zeit immer mehr produ­ziert werden. Denn nun galt: Zeit ist Geld!

Drückte sich diese Beschleu­ni­gung anfangs nur in der Ökonomie aus?

Nein, das geschah auf allen Ebenen. Etwa in der Wissen­schaft: Hatte man bis zum 18. Jahr­hun­dert Bildung vornehm­lich als Schatz ange­sehen, der von einer Gene­ra­tion zur näch­sten weiter­ge­geben wird, kam nun eine völlig neue Dynamik in Gang. Laufend wurden jetzt neue Fragen gestellt, ständig neue Projekte ins Leben gerufen, immer neue Antworten gefunden.

So fing etwa Charles Messier an, den Himmel syste­ma­tisch nach auffäl­ligen Nebel­fleck­chen zu durch­for­sten, nach Gala­xien also, und die Astro­nomie nahm einen gewal­tigen Aufschwung. Aber auch die moderne Agro­chemie entstand. Mit Tele­skopen weit ins All, mit Mikro­skopen tiefer in die Materie hinein – das war die Logik.

Auch in der Kunst zeich­nete sich das Prinzip ab. Die Malerei war jetzt nicht mehr mime­tisch, Künstler ahmten nicht mehr einfach nur die Natur nach oder imitierten die alten Meister — sondern sie suchten das Origi­nelle, das Inno­va­tive. Am deut­lich­sten kommt dies im Genie­kult zum Ausdruck und in den Werken des Sturm und Drang.

„Para­do­xer­weise stellt sich mit der Moderne kein Zeit­reichtum ein, sondern Zeitknappheit.“ 

Hartmut Rosa, Soziologe

Überall ging es zuneh­mend darum, das Vorgän­gige zu über­bieten. Und immer tiefer veran­kerte sich die Über­zeu­gung, dass sich eine Gesell­schaft nur erhalten kann, wenn sie sich verän­dert, beschleu­nigt, wächst, inno­viert. Stei­ge­rung wurde eine struk­tu­relle Notwen­dig­keit. Das war im 18. Jahr­hun­dert wirk­lich neu.

Aber mit jeder tech­ni­schen Neue­rung verschafften Menschen sich doch mehr Zeit, nicht weniger?

Natür­lich, die ganze Moderne ist eine einzige Geschichte des Zeit­spa­rens und der Beschleu­ni­gung: Mit dem Auto kommen wir rascher voran als zu Fuss, mit dem Flug­zeug schneller als mit dem Auto. Wasch­ma­schinen, Staub­sauger, Mikro­wellen sparen Zeit, E‑Mails errei­chen ihren Adres­saten in Sekun­den­schnelle. Fast jede Technik ist mit dem Verspre­chen verbunden, dass wir mit ihr Zeit gewinnen.

Para­do­xer­weise stellt sich dennoch kein Zeit­reichtum ein, sondern Zeit­knapp­heit. Denn die Aufga­ben­menge nimmt so rasant zu, dass wir sie trotz des Zeit­ge­winns nicht abar­beiten können. Früher wech­selten Menschen einmal in der Woche ihre Klei­dung, heute machen wir das täglich. Statt zehn Briefe zu schreiben, lesen wir 30, 40 oder noch mehr E‑Mails. Und mit dem Auto legen wir natür­lich viel weitere Strecken zurück als Menschen vormals zu Fuss. Die neuen Tech­niken verspre­chen aber nicht nur eine Zeit­er­sparnis, sondern in der Regel auch eine Horizonterweiterung.

Was meinen Sie damit?

Mit vielen tech­ni­schen Neue­rungen vergrös­sern sich unsere Optionen. Viele Inno­va­tionen bringen uns mehr Welt in Reich­weite. Besitze ich beispiels­weise ein Auto, weitet sich mit einem Mal der Hori­zont, vermehren sich die Möglich­keiten: Ich kann am Abend noch schnell in die Stadt fahren, ein Konzert besu­chen, in die Natur hinaus­gehen, einen Freund treffen. Genauso verhält es sich mit dem Smart­phone: Habe ich es dabei, eröffnen sich plötz­lich viele neue Optionen – nun kann ich überall und jeder­zeit online gehen, kann chatten, Nach­richten schauen, shoppen, spielen. Und genau danach sehnen wir uns: nach immer mehr Optionen.

„In unserer Gesell­schaft haben wir das Gefühl, frei zu sein. Und doch sagen wir bei allem, was wir tun: ‚Ich muss.‘ “

Hartmut Rosa, Soziologe

Sind wir einer Sucht ausgeliefert?

Ja, man kann unser Verhalten mit dem eines Süch­tigen beschreiben. Wir gieren nach mehr Möglich­keiten, mehr Hand­lungen, mehr Erleb­nis­epi­soden – und dementspre­chend brau­chen wir auch mehr und mehr Zeit. Wir können gar nicht anders.

Weshalb?

Weil wir es für eine Bedin­gung des gelun­genen Lebens halten, möglichst viel Welt in unsere Reich­weite zu bringen. Hinzu kommt: Wir gehen von der irrigen Vorstel­lung aus, dass allein schon ein Mehr an Auswahl­mög­lich­keiten Glück auslöst. Dass wir immer mehr Frei­heit erlangen.

Ein Trug­schluss?

Ja. Er besteht darin, dass die Stei­ge­rung von Möglich­keiten an sich keinen Wert hat; die perma­nente Vermeh­rung von Optionen ist ja noch kein Zuge­winn an Frei­heit. Der tritt logi­scher­weise erst dann ein, wenn ich meine Wahl­mög­lich­keiten auch realisiere.

Können Sie Beispiele nennen?

Etwa wenn ich von den Büchern, die ich kaufe, ein paar auch wirk­lich lese; wenn ich das Tele­skop, das ich mir gelei­stet habe, auch wirk­lich benutze, oder von den Opern­häu­sern, die ich in Reich­weite habe, auch eines besuche.

Die Illu­sion gründet darin, dass viele Menschen inzwi­schen ihr Glück allein daran bemessen, wie viele Optionen sie haben. Ihre ganze Libido hängt mitt­ler­weile am Erschliessen von Optionen. Das aber ist ein kultu­reller Irrtum, denn das Leben wird erst dann gut, wo man eine Möglich­keit auch tatsäch­lich umsetzt.

„Viele meinen, Gier treibe uns an, das ist falsch: Es ist die Angst.“

Hartmut Rosa, Soziologe

In unserer Gesell­schaft haben wir das Gefühl, frei zu sein. Keine*r sagt uns, wie wir leben müssen, ob und wen wir heiraten müssen, was wir glauben sollen. Und doch sagen die meisten Menschen bei fast allem, was sie tun: „Ich muss.“ Den ganzen Tag müssen wir. Wir sitzen fast alle in erbar­mungs­losen Hamster­rä­dern. Wir sind also gleich­zeitig maximal frei und maximal unter Zwang. Und zugleich wollen wir uns so viele Optionen wie möglich offen­halten, wollen uns nie und nirgends festlegen.

Führt das zu Atem­lo­sig­keit und Verun­si­che­rung? Denn wer sich fest­legt, könnte ja etwas noch Verheis­sungs­vol­leres verpassen.

Ja, und in dieser Unschlüs­sig­keit drückt sich eine weitere Angst aus: davor, stehen zu bleiben – und so zurück­zu­fallen. Wer sich an etwas fest­hält, ist nicht flexibel. Unsere Beschleu­ni­gungs­ge­sell­schaft aber erfor­dert einen extrem hohen Grad an Flexi­bi­lität. Je dyna­mi­scher die Gesell­schaft wird, je schneller sich Kontexte ändern, umso verhäng­nis­voller wird es, sich festzulegen.

Man kann heute nicht mehr sagen: Ich bin Schuster*in und werde für immer Schuster*in bleiben. Eine solche Stra­tegie ist nicht zeit­ge­mäss. Oder: Ich kaufe mir den neue­sten Computer, und mit dem werde ich alt. Stehen bleiben heisst heute immer: zurück­rut­schen. Wir befinden uns quasi auf Roll­treppen abwärts. Wenn ich sage: So, jetzt habe ich, was ich brauche, befinde ich mich schon auf dem Weg nach unten. Es ist ein Gefühl, als stünde man auf rutschenden Abhängen.

Ist also Angst unser Motivator?

Im Kern ja. Viele meinen, Gier treibe uns an, das ist falsch: Es ist die Angst. Wir sind gar nicht getrieben von dem Verlangen, immer höher, immer schneller, immer weiter zu kommen, sondern von der Angst, nicht mehr mitzu­kommen, abzu­rut­schen, zurückzufallen.

In der Beschleu­ni­gungs­logik spie­gelt sich auch die Angst vor dem Tod. Jede*r weiss, dass er*sie irgend­wann sterben muss, dass seine*ihre Zeit begrenzt ist. 

„Wir rennen vor einem düsteren Abgrund davon.“

Hartmut Rosa, Soziologe

Ohne Gott und Glauben bezieht sich all unser Handeln und Sein einzig auf das Dies­seits. Wenn es uns nun gelänge, immer schneller zu werden, immer mehr in immer kürzerer Zeit zu erleben, zu reisen, zu konsu­mieren, zu produ­zieren, dann könnten wir das Leben dehnen, dem Tod förm­lich entrinnen. Dann könnten wir die ganze Welt vor dem Tod ausschöpfen, gleichsam ein ewiges Leben vor dem Tod haben. Wir alle sagen doch: Klar muss ich irgend­wann sterben, aber bevor es so weit ist, will ich noch ganz viele Dinge tun.

War das nicht zu allen Zeiten so?

In gewisser Weise ja. Doch seit den 1990er-Jahren erleben wir eine massive Beschleu­ni­gungs­welle, ausge­löst durch das Internet und die Digi­ta­li­sie­rung zahl­loser Prozesse – in der Kommu­ni­ka­tion, Produk­tion, im Trans­port. Gleich­zeitig sind die Infor­ma­tions- und vor allem Geld­ströme global geworden. Durch die Dere­gu­lie­rung und Digi­ta­li­sie­rung der Finanz­märkte rasen gewal­tige Kapi­tal­mengen in Sekun­den­bruch­teilen um die Welt.

Die massivste Verän­de­rung, der am tief­sten grei­fende Wandel aber hat sich in den letzten Jahr­zehnten in uns selbst voll­zogen. Es ist zu einem radi­kalen Perspek­tiv­wechsel gekommen.

Wie meinen Sie das?

Über lange Zeit glaubten Menschen, durch Fort­schritt und Verän­de­rung werde die Welt nicht nur anders, sondern auch besser. Mit der Beschleu­ni­gung ging also eine Hoff­nung einher: Durch Wachstum über­winden wir ökono­mi­sche Knapp­heit, Mangel, Armut, Unwis­sen­heit. Der tech­ni­sche Fort­schritt wird uns auch helfen, das Zeit­pro­blem zu überwinden.

Diese Sicht hat sich stark gewan­delt. Heute haben Menschen nicht mehr das Gefühl, Wachstum und Beschleu­ni­gung dienten der Verbes­se­rung der Welt — sondern der Vermei­dung der Krise. Das poli­ti­sche, wissen­schaft­liche und wirt­schaft­liche Credo lautet heute nicht mehr: Wir wollen wachsen und beschleu­nigen, um die Welt besser zu machen. Sondern: Wir müssen alles Erdenk­liche tun, um unsere Inno­va­ti­ons­kraft zu stei­gern, unsere Produk­ti­vität zu erhöhen, Wachstum zu sichern.

Andern­falls würden wir abge­hängt werden im globalen Wettbewerb.

Genau, ohne Wachstum und Beschleu­ni­gung drohen ökono­mi­sche und poli­ti­sche Krisen. Aber selbst und gerade mit Wachstum und Beschleu­ni­gung drohen ökolo­gi­sche Krisen. Der Moti­vator, der Antrieb liegt also nicht mehr vor uns, sondern hinter uns: Wir laufen nicht auf eine verheis­sungs­volle Zukunft zu, sondern wir rennen vor einem düsteren Abgrund davon.

Das ist ein Wandel der kultu­rellen Perspek­tive um 180 Grad.

„Burn-out entsteht nicht dadurch, dass man viel zu tun hat.“

Hartmut Rosa, Soziologe

Diesen perspek­ti­vi­schen Bruch offen­baren etliche Umfragen in Japan, in den USA, in Europa. Mehr und mehr Eltern sagen: Wir inve­stieren alles, was wir haben, nicht etwa, damit unsere Kinder eine bessere Zukunft haben – sondern damit ihre Zukunft nicht noch schlechter aussieht als die Gegenwart.

Führt dieser Verlust an Hoff­nung unter anderem auch dazu, dass immer mehr Menschen an Burn-out und Depres­sionen erkranken?

Ja. Das ist genau meine These. Burn-out entsteht nicht dadurch, dass man viel zu tun hat. Arbeit macht ja per se weder krank noch unglück­lich. Und auch früher schuf­teten Menschen immens viel. Denken Sie nur an die Trüm­mer­frauen. Die haben unfassbar hart gear­beitet, die waren auch erschöpft. Aber die litten nicht an der Art von Burn-out, die wir heute beobachten.

Das lag daran, dass es für die Menschen damals einen Ziel­ho­ri­zont gab: die Hoff­nung, irgend­wann wird der Trüm­mer­berg abge­baut sein, irgend­wann wird ein neues Haus dort stehen – und die Welt besser sein.

Die heutigen Ziel­ho­ri­zonte dagegen scheinen nicht erreichbar zu sein: Opti­mie­rung kennt keine Ziel­linie. Man kann Quar­tals­zahlen in Unter­nehmen, Quoten in den Medien, Publi­ka­ti­ons­li­sten in den Wissen­schaften und auch den Body-Mass-Index immer weiter verbes­sern. Völlig gleich­gültig, wie effi­zient, inno­vativ, gross wir heute sind – morgen müssen wir noch eine Schippe drauf­legen, wenn wir unseren Platz halten wollen.

Wie sehr stresst es Arbeitnehmer*innen, dass Arbeits­pro­zesse in rascher Folge umor­ga­ni­siert werden?

Es ist in der Regel kein Problem für einen Menschen, sich neuen Bedin­gungen anzu­passen – aber nur, wenn er nach einer Einge­wöh­nungs­phase mit einer längeren Zeit der Stabi­lität rechnen kann. Doch heute spürt man einen regel­rechten Drang vieler Chef*innen nach stän­diger Umor­ga­ni­sa­tion, um mehr Effi­zienz zu errei­chen. Und so ist den Ange­stellten klar: Die nächste Reform folgt in Kürze, ich kann mich gar nicht mehr eingewöhnen.

Diese Haltung lässt Menschen zynisch werden, der Arbeit, der Welt, dem Leben gegen­über. Der nächste Schritt ist dann: Burn-out. Das ist auch eine Folge davon, dass Menschen die Reso­nanz­erfah­rungen fehlen.

Was verstehen Sie darunter?

Reso­nanz erfahren wir, wenn uns etwas in der Tiefe berührt, wenn wir uns bewegt fühlen. Dann fühlen wir uns in einer bestimmten, posi­tiven Weise in die Welt gestellt. Das kann auf unter­schied­lich­sten Ebenen geschehen. Manche Menschen erfahren Reso­nanz, wenn sie sich in die Natur begeben, ans Meer, in den Wald, in die Berge. Dort haben sie das Gefühl, mit Leib und Seele ganz anders in die Welt gestellt zu sein, mit ihrer Umge­bung in Einklang zu stehen.

„Das stei­gende Tempo führt zu einer Entso­li­da­ri­sie­rung. Je gestresster ich bin, desto weniger empa­thisch kann ich sein.“

Hartmut Rosa, Soziologe

Oder weshalb gehen Menschen ins Konzert? Weil sie berührt werden wollen. Wer weint – beim Erklingen einer Symphonie oder wenn er einen Film anschaut –, der wird berührt, den erreicht die Welt. Auch Reli­gio­sität birgt ein Reso­nanz­ver­spre­chen. Die Bibel ist ein Doku­ment des Flehens und Flüsterns, Rufens und Schreiens und Bittens und Betens nach Gott, sie birgt das Verspre­chen: Da hört dich einer, durch Gott erfährst du Resonanz.

Gibt es solche Reso­nanz­erfah­rungen auch in der Arbeitssphäre?

Gewiss, und dort sind sie beson­ders wichtig: Ein Lehrer kann das Gefühl haben, dass er seine Schüler erreicht, dass er etwas bewirkt. Und dass von den Schü­lern etwas zu ihm zurück­kommt. Das ist der Haupt­grund, weshalb sich Menschen ehren­amt­lich enga­gieren: Sie sagen, da kommt etwas zurück. Doch heut­zu­tage beklagen immer mehr Menschen, dass sie etwas Vergleich­bares auf der Arbeits­stelle nicht mehr erleben.

Und dieser Mangel an Reso­nanz führt zu Burn-out?

Menschen, die an Burn-out erkranken, sagen fast unisono: Ich habe mich abge­ar­beitet und mich bemüht, aber da kam nichts zurück. Ich hatte das Gefühl, ich arbei­tete im leeren Raum. Wenn man über lange Zeit unter hohem psychi­schen Druck steht und über­mässig viel leistet, hat man irgend­wann keine Lust und keine Zeit mehr, sich auf Kollegen einzu­lassen. Man ist nur noch in der Lage, fast mecha­nisch mit den anderen zu inter­agieren, zu funktionieren.

Man gerät nicht mehr in Schwin­gung mit anderen Menschen.

Richtig. Ganz drama­tisch ist das in solchen Berufen, bei denen es in beson­derer Weise auf zwischen­mensch­liche Reso­nanz ankommt. Daher gibt es auch viele Burn-out-Fälle in den sozialen Berufen, bei Pfle­ge­kräften, Lehrern, Betreuern, Erzie­hern – alles Personen, die in ihren Berufen in beson­derer Weise auf eine wech­sel­sei­tige, auf eine antwor­tende Bezie­hung ange­wiesen sind. Auf Resonanz.

Auf Zeit, die sie mit ihrer Klientel verbringen.

Das ist der entschei­dende Punkt. Der Aufbau solcher Bezie­hungen ist zeit­in­tensiv. Und er wird durch die perma­nente Beschleu­ni­gung erschwert. Eine Kran­ken­schwe­ster, die ihre Arbeits­zeit in Minuten einge­teilt bekommt, kann weder den Bedürf­nissen der Pati­enten nach Reso­nanz noch ihren eigenen nachkommen.

Wenn man dieser Anfor­de­rung ausge­setzt ist, sie aber durch Über­for­de­rung und Zeit­druck immer weniger erfüllen kann, und wenn auch noch die Aner­ken­nung fehlt, dann gerät man in eine Art Verstei­ne­rungs­modus. Dieses Miss­ver­hältnis macht Menschen auf Dauer krank und führt zu Burn-out.

Heisst das: Die Beschleu­ni­gung, die wir heut­zu­tage erleben, geht insge­samt auf Kosten unserer Mitmenschlichkeit?

Ja, das stei­gende Tempo führt zu einer Entso­li­da­ri­sie­rung. Je gestresster ich bin, desto weniger empa­thisch kann ich sein. Das bemerkt jeder in alltäg­li­chen Situationen.

„Glück ist nicht stei­ge­rungs­fähig, es ist auch gar nicht steigerungsbedürftig.“

Hartmut Rosa, Soziologe

Mir geht es oft so, wenn ich drin­gend irgend­wohin muss, der Zug Verspä­tung hat, mir im Gang eine Rent­ner­gruppe den Weg blockiert. Dann ertappe ich mich bei dem beschä­menden Gedanken, dass ich am lieb­sten eine Knarre hätte — um mir den Weg frei­schiessen zu können. Da zeigt sich, wie Stress, Zeit­druck, Beschleu­ni­gung die Fähig­keit zu sozialer Rück­sicht­nahme untergraben.

Auch hier sieht man Reso­nanz­ver­lust: Empa­thie ist eine Form von zwischen­mensch­li­cher Reso­nanz­fä­hig­keit. Es gibt eine große US-Studie über den Rück­gang an Mitge­fühl: Die Grund­be­reit­schaft, sich auf andere einzu­lassen, hat danach zwischen 1979 und 2009 um fast 40 Prozent nachgelassen.

Wie wirkt sich die Entso­li­da­ri­sie­rung in Betrieben aus?

Zum Teil drama­tisch. In manchen Unter­nehmen spürt man ein regel­rechtes orga­ni­sa­to­ri­sches Kammer­flim­mern: Ständig wird umge­staltet, Prozesse werden laufend verän­dert, Abtei­lungen aufge­löst und neu grup­piert. Dieser stete Wandel führt zum Verlust von Reso­nanz – und das kann drasti­sche Folgen haben.

Ein erschreckendes Beispiel dafür bietet die France Télécom, deren Führung vor einigen Jahren das Motto „Time to Move“ zum Prinzip erhoben hat: Nach späte­stens 36 Monaten mussten Führungs­kräfte ihre Posi­tion wech­seln, man befürch­tete, es mindere die Effi­zienz, wenn leitende Mitar­beiter zu viele persön­liche Bezie­hungen aufbauten und sich gewis­ser­maßen heimisch fühlten, sie sollten flexibel bleiben.

Die Folge dieser stän­digen Verän­de­rungen waren aber enorm hohe Burn-out-Raten, Depres­sionen und eine Welle von Selbst­morden. Inner­halb von zwei Jahren brachten sich 40 Ange­stellte um.

Gehen Depres­sionen immer auf einen Mangel an Reso­nanz­erfah­rungen zurück?

Ganz sicher sind sie mit einem umfas­senden Reso­nanz­ver­lust verbunden, ich würde sogar so weit gehen zu behaupten: Eine schwere Depres­sion ist der Zustand, in dem alle Reso­nanz­achsen verstummen.

Die Beweise dafür sind wirk­lich über­wäl­ti­gend, Depres­sive schil­dern genau das: Die Welt um mich herum scheint stumm, tot, leer, kalt, sie schweigt; und auch in mir schweigt alles – ich selbst fühle mich leer, tot, stumpf.

Würden Sie also sagen, jeder Mensch muss mehr Reso­nanz­erfah­rungen machen?

Nein, eben nicht. Reso­nanz kann man nicht ohne Weiteres herstellen, sozu­sagen nach Plan, stra­te­gisch – sie hat immer etwas Unver­füg­bares und Flüch­tiges an sich. Das Glück, das uns beim Anblick eines Sonnen­un­ter­gangs über­wäl­tigt, ist ein gutes Beispiel. Es liegt nicht in unserer Macht zu planen, wie ein Sonnen­un­ter­gang ausfällt, oben­drein verän­dert sich dessen Schön­heit laufend und vergeht.

„Ich bin ganz sicher kein Entschleunigungsguru!“

Hartmut Rosa, Soziologe

Ebenso ist es bei Musik: Die beglückenden Stellen lassen sich nicht einfrieren. Und wenn ich nur meine Lieb­lings­pas­sage in Endlos­schleife höre, nutzt sich die tiefe Empfin­dung bald schon ab.

Was raten Sie gestressten Menschen, die sich erschöpft fühlen?

Diese Frage bringt mich immer wieder in Schwie­rig­keiten. Es gibt kein rich­tiges Leben im falschen, hat schon der Philo­soph Theodor Adorno gesagt – das Indi­vi­duum ist nicht in der Lage, ein struk­tu­relles gesell­schaft­li­ches Problem zu lösen.

Ausserdem: Beschleu­ni­gung ist ja nicht grund­sätz­lich schlecht, Entschleu­ni­gung nicht grund­sätz­lich gut.

Wir müssen uns klar machen: Lang­sam­keit ist kein Selbst­zweck. Ich will durchaus keine lang­same Achter­bahn, keine lang­same Inter­net­ver­bin­dung, keine lang­same Feuer­wehr. Ich bin ganz sicher kein Entschleu­ni­gungs­guru! Ich will nicht sagen: Leute, entspannt euch, hört schöne Musik, dann geht es euch gut.

Die grund­le­gende Frage ist: Wie gelingt ein gutes Leben? Ganz sicher nicht durch die blinde Vermeh­rung von Optionen. Aber natür­lich will ich auch nicht sagen, man könne gar nichts tun, die Welt sei nun mal schlecht.

Ich denke, wir sollten eine Sensi­bi­lität dafür gewinnen, was uns wirk­lich wichtig ist. Den Blick dafür haben viele nicht mehr. Doch das Wissen um die Bedeut­sam­keit ist die Basis für ein gelun­genes Leben, für Stabi­lität – für Resonanz.

Wie können Menschen erspüren, was für sie bedeutsam ist?

Eine Möglich­keit besteht darin, sich zu fragen: Was war im vergan­genen Jahr das Wich­tigste für mich? Viele Menschen beenden ihre jeweils indi­vi­du­elle Antwort mit den Worten: „... das hat mich wirk­lich berührt, das hat mich bewegt.“ Solche Formu­lie­rungen sind ein Indi­kator für etwas Bedeut­sames, für das, was wirk­lich wichtig im Leben ist. Das werden auch die Momente sein, an die wir uns am Ende unseres Lebens, kurz bevor wir sterben, erin­nern. Die Sensi­bi­lität für das Bedeut­same zurück­zu­ge­winnen, das ist das Beste, was man tun kann.

„Wir haben Angst davor, uns selbst ausge­setzt zu sein – davor, dass uns eine Leere entgegengähnt.“

Hartmut Rosa, Soziologe

Ein ganz deut­li­ches Merkmal von echter Reso­nanz ist, dass sie sich der Stei­ge­rungs­logik entzieht. Glück ist nicht stei­ge­rungs­fähig, es ist auch gar nicht steigerungsbedürftig.

Wie entschei­dend ist es, Zeit mit sich selbst zu verbringen?

Die Erfah­rung, eine solche Ich-Zeit zu erleben, ist wichtig. Danach sehnen sich viele, und doch haben immer mehr Menschen fast Panik davor, allein zu sein. Sie ertragen es nicht, Zeit mit sich selbst zu verbringen, schalten sofort TV-Gerät oder Computer an, schreiben Nach­richten auf dem Smart­phone oder lenken sich mit Spielen ab.

Woran liegt das?

Wir haben Angst davor, uns selbst ausge­setzt zu sein – davor, dass uns eine Leere entge­gengähnt. Dass in uns niemand ist, mit dem man Zeit verbringen kann oder möchte. Unser Wunsch ist es zwar, in tiefere Reso­nanz mit uns selbst zu kommen: Doch wir befürchten, dass wir uns gar nicht mehr spüren, weil wir es nicht mehr gewohnt sind, weil wir uns von uns selbst entfremdet haben. Also schalten wir den Computer an.

Ich nehme mich da gar nicht aus, mir geht es oft am Abend so, dass ich noch mal schnell im Internet surfe – ohne dass dies irgend­einen sinn­vollen Nutzen hat.

Selbst tags­über füllen ja mehr und mehr Menschen jede noch so kleine Pause, indem sie sich ablenken, etwa auf ihr Smart­phone schauen.

Darin drückt sich ein Defizit aus. Wer mehrere Dutzend Mal am Tag prüft, ob er eine Nach­richt, eine E‑Mail, einen Kommentar erhalten hat, der muss sich offenbar sehr oft verge­wis­sern, dass andere noch an ihn denken und ihm gewogen sind. Dass ihm also die Welt auch antwortet. Wenn wir nicht laufend neue Nach­richten erhalten, haben wir das Gefühl, etwas stimme nicht mit unserer Welt­be­zie­hung, wir seien abge­trennt von der Welt.

So durch­dringt die Wett­be­werbs­logik zuneh­mend auch unsere Bezie­hungen. Und eben­dies versu­chen wir beständig zu messen: durch die Anzahl von Freunden in sozialen Netzen, von Follo­wern, von „Gefällt mir“-Klicks.

„Ich habe über­haupt kein schlechtes Gewissen, einfach mal absolut nichts zu tun.“

Hartmut Rosa, Soziologe

Heute pflegen wir viel mehr Kontakte als früher, konsu­mieren viel mehr Infor­ma­tionen, lernen viel mehr tech­ni­sche Neue­rungen kennen. Wir sind also viel reicher an Erleb­nissen, aber dennoch ärmer an Erfah­rungen. Denn Erleb­nisse werden nicht mehr in Erfah­rungen transformiert.

Eine Erfah­rung ist etwas, was zum Teil meiner eigenen Geschichte wird, zum Teil meiner Identität.

Wie beschleu­nigt wird unsere Gesell­schaft in 50 Jahren sein?

Man muss sich hüten, Zukunfts­sze­na­rien zu entwerfen, die erfüllen sich ohnehin nie – vor allem die berühmten kultur­pes­si­mi­sti­schen, die apoka­lyp­ti­schen Visionen. Denken Sie daran, was viele Menschen noch Anfang der 1980er-Jahre für gewiss hielten: Dass im Jahr 2000 beinahe alle Wälder abge­storben sein würden, sämt­liche Flüsse vergiftet, dass wir vieler­orts nur noch mit Gasmasken rumlaufen könnten, es längst keinen Tropfen Erdöl mehr gäbe. Nichts davon ist eingetreten.

Glauben Sie denn, dass es mit der Beschleu­ni­gung des Lebens immer so weitergeht?

Wenn sich die gesell­schaft­li­chen und insbe­son­dere die ökono­mi­schen Bedin­gungen nicht ändern, müssen wir danach streben, die Geschwin­dig­keit, auch die unserer Körper, noch zu erhöhen. Sei es mit der Verschmel­zung von Organen, von Nerven und künst­li­chen Bauteilen, Compu­tern. Oder auch mithilfe von Medi­ka­menten. Es mag aben­teu­er­lich klingen, aber wir sind nicht so weit davon entfernt. Der Konsum dämp­fender Substanzen ist zurzeit eher rück­läufig: Mari­huana, Alkohol, LSD, Heroin. Dagegen sind alle Stoffe, die vorgeb­lich die Leistung erhöhen, im Vormarsch: Ener­gy­drinks, Amphet­amine, Speed, Kokain.

Ich kenne Kollegen in den USA, die schreiben ihre Texte nur, nachdem sie Ritalin genommen haben. Es gibt in den USA ein Medi­ka­ment, das heisst „Focus­factor“: Wer Konzen­tra­ti­ons­schwie­rig­keiten hat, schmeisst sich eine Pille ein und kann weiterarbeiten.

Wie schützen Sie sich persön­lich vor zu viel Stress?

Auch ich lebe sehr beschleu­nigt, da möchte ich mich gar nicht ausnehmen. Und doch lebe ich in gewisser Weise konser­vativ. Denn ich halte eisern an bestimmten Tradi­tionen und Routinen fest, die mir heilig sind. So spiele ich etwa regel­mässig Orgel in der Kirchen­ge­meinde, montags ist immer Probe — völlig egal, was sich spontan ergeben könnte, das muss warten. Ich kümmere mich zudem um einen Tennis­club in meinem kleinen Schwarz­wald­dorf; das liegt zwar 600 Kilo­meter entfernt, aber die Veran­ke­rung ist mir sehr wichtig.

Ich habe, bild­lich gespro­chen, ein paar Pflöcke in mein Leben geschlagen. Manche geben mir seit Jahren Halt.

Welche?

Jeden Sommer verbringe ich drei Wochen in einer Sommer­aka­demie, wo 90 hoch­be­gabte Schüler zusam­men­kommen. Manche Kollegen sagen: Musst du dir auch noch das aufladen? Für mich ist es aber das Gegen­teil von Stress, da entsteht eine Oase der Uner­reich­bar­keit, der Entschleu­ni­gung. Zwar herrscht dort reges Treiben, aber in der Zeit ist mir die Aussen­welt völlig egal: Meine Reich­weite ist in diesen drei Wochen begrenzt auf einen Umkreis von ein paar Hundert Metern und auf eine Gruppe von gut 100 Menschen.

Schaffen Rituale Verlässlichkeit?

Sicher – gerade heute, wo sich feste Zeit­fen­ster zuneh­mend auflösen, wo keine Sache mehr ihre eigene Zeit hat und sich unsere Lebens­sphären zuneh­mend verschränken. Die Pflöcke geben Halt, die Tradi­tionen sind nicht verhan­delbar. Menschen brau­chen ein paar Pflöcke im Leben! Der heilige Fami­li­en­be­reich, der „Tatort“ am Sonntag, die regel­mäs­sige Chor­probe am Dienstag.

Haben Sie noch einen Tipp für jene, die einmal das Gefühl haben wollen, endlich genug Zeit zu haben?

Das ist recht einfach. Anders als Geld kann man Zeit ja nicht anhäufen. Daher sollte man einen ganz anderen Weg als bei den Finanzen einschlagen. Zeit­sparen ist nicht die Methode der Wahl. Wer sich reich an Zeit fühlen möchte, sollte hin und wieder einen Tag verschwenden, nichts planen, nichts Produk­tives tun.

Ein weiteres Beispiel: Schon seit 30 Jahren verbringe ich die Tage zwischen Weih­nachten und Neujahr in meinem Heimat­dorf im Schwarz­wald – und in dieser Zeit verlasse ich das Dorf nicht, komme, was wolle.

Also auch so eine Oase der Unerreichbarkeit.

Ja, beson­ders dann, wenn ich ganz grosses Glück habe: Wenn der Schnee schwer auf den Fichten liegt, kippen mitunter die Hoch­span­nungs­ma­sten um. Dann fällt der Strom aus. Und ich bin glück­lich: Sobald der Akku meines Mobil­te­le­fons leer ist, kann ich weder tele­fo­nieren noch ins Internet; ich kann das TV-Gerät nicht einschalten und auch keine CDs hören, der Flug­hafen ist weit entfernt. Ich falle gewis­ser­massen aus der Zeit heraus.

Und habe über­haupt kein schlechtes Gewissen, einfach mal absolut nichts zu tun.

Dieses Inter­view ist zuvor im GEO Wissen erschienen.

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