Das Lamm: Herr Professor Rosa, viele Menschen plagt heute das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Wann hat das begonnen?
Hartmut Rosa: Ganz so neu, wie es uns manchmal erscheint, ist das nicht, es begann schon im 18. Jahrhundert. Damals wandelte sich die Gesellschaft massiv, erlebte einen gewaltigen Schub der Veränderung – vor allem mit der Entwicklung einer vom Markt gesteuerten Wirtschaft. Zwar waren auch Gemeinschaften zuvor nicht statisch, auch sie haben sich beständig verändert, durch Kriege, Dürren, Krankheiten, den Wechsel der Herrscher – oder durch Zufall, etwa wenn jemand eine Entdeckung gemacht hatte.
Aber dass eine Gesellschaft gar nicht anders kann, als sich zu verändern, das war ein modernes Prinzip, das mit dem Kapitalismus aufkam. Denn wirtschaftliche Tätigkeit funktionierte von nun an nur durch das Versprechen, dass man mehr gewinnt, als man eingesetzt hat: Geld wird ja immer in der Hoffnung investiert, dass mehr Geld rauskommt.
Fortan musste in immer weniger Zeit immer mehr produziert werden. Denn nun galt: Zeit ist Geld!
Drückte sich diese Beschleunigung anfangs nur in der Ökonomie aus?
Nein, das geschah auf allen Ebenen. Etwa in der Wissenschaft: Hatte man bis zum 18. Jahrhundert Bildung vornehmlich als Schatz angesehen, der von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, kam nun eine völlig neue Dynamik in Gang. Laufend wurden jetzt neue Fragen gestellt, ständig neue Projekte ins Leben gerufen, immer neue Antworten gefunden.
So fing etwa Charles Messier an, den Himmel systematisch nach auffälligen Nebelfleckchen zu durchforsten, nach Galaxien also, und die Astronomie nahm einen gewaltigen Aufschwung. Aber auch die moderne Agrochemie entstand. Mit Teleskopen weit ins All, mit Mikroskopen tiefer in die Materie hinein – das war die Logik.
Auch in der Kunst zeichnete sich das Prinzip ab. Die Malerei war jetzt nicht mehr mimetisch, Künstler ahmten nicht mehr einfach nur die Natur nach oder imitierten die alten Meister — sondern sie suchten das Originelle, das Innovative. Am deutlichsten kommt dies im Geniekult zum Ausdruck und in den Werken des Sturm und Drang.
Überall ging es zunehmend darum, das Vorgängige zu überbieten. Und immer tiefer verankerte sich die Überzeugung, dass sich eine Gesellschaft nur erhalten kann, wenn sie sich verändert, beschleunigt, wächst, innoviert. Steigerung wurde eine strukturelle Notwendigkeit. Das war im 18. Jahrhundert wirklich neu.
Aber mit jeder technischen Neuerung verschafften Menschen sich doch mehr Zeit, nicht weniger?
Natürlich, die ganze Moderne ist eine einzige Geschichte des Zeitsparens und der Beschleunigung: Mit dem Auto kommen wir rascher voran als zu Fuss, mit dem Flugzeug schneller als mit dem Auto. Waschmaschinen, Staubsauger, Mikrowellen sparen Zeit, E‑Mails erreichen ihren Adressaten in Sekundenschnelle. Fast jede Technik ist mit dem Versprechen verbunden, dass wir mit ihr Zeit gewinnen.
Paradoxerweise stellt sich dennoch kein Zeitreichtum ein, sondern Zeitknappheit. Denn die Aufgabenmenge nimmt so rasant zu, dass wir sie trotz des Zeitgewinns nicht abarbeiten können. Früher wechselten Menschen einmal in der Woche ihre Kleidung, heute machen wir das täglich. Statt zehn Briefe zu schreiben, lesen wir 30, 40 oder noch mehr E‑Mails. Und mit dem Auto legen wir natürlich viel weitere Strecken zurück als Menschen vormals zu Fuss. Die neuen Techniken versprechen aber nicht nur eine Zeitersparnis, sondern in der Regel auch eine Horizonterweiterung.
Was meinen Sie damit?
Mit vielen technischen Neuerungen vergrössern sich unsere Optionen. Viele Innovationen bringen uns mehr Welt in Reichweite. Besitze ich beispielsweise ein Auto, weitet sich mit einem Mal der Horizont, vermehren sich die Möglichkeiten: Ich kann am Abend noch schnell in die Stadt fahren, ein Konzert besuchen, in die Natur hinausgehen, einen Freund treffen. Genauso verhält es sich mit dem Smartphone: Habe ich es dabei, eröffnen sich plötzlich viele neue Optionen – nun kann ich überall und jederzeit online gehen, kann chatten, Nachrichten schauen, shoppen, spielen. Und genau danach sehnen wir uns: nach immer mehr Optionen.
Sind wir einer Sucht ausgeliefert?
Ja, man kann unser Verhalten mit dem eines Süchtigen beschreiben. Wir gieren nach mehr Möglichkeiten, mehr Handlungen, mehr Erlebnisepisoden – und dementsprechend brauchen wir auch mehr und mehr Zeit. Wir können gar nicht anders.
Weshalb?
Weil wir es für eine Bedingung des gelungenen Lebens halten, möglichst viel Welt in unsere Reichweite zu bringen. Hinzu kommt: Wir gehen von der irrigen Vorstellung aus, dass allein schon ein Mehr an Auswahlmöglichkeiten Glück auslöst. Dass wir immer mehr Freiheit erlangen.
Ein Trugschluss?
Ja. Er besteht darin, dass die Steigerung von Möglichkeiten an sich keinen Wert hat; die permanente Vermehrung von Optionen ist ja noch kein Zugewinn an Freiheit. Der tritt logischerweise erst dann ein, wenn ich meine Wahlmöglichkeiten auch realisiere.
Können Sie Beispiele nennen?
Etwa wenn ich von den Büchern, die ich kaufe, ein paar auch wirklich lese; wenn ich das Teleskop, das ich mir geleistet habe, auch wirklich benutze, oder von den Opernhäusern, die ich in Reichweite habe, auch eines besuche.
Die Illusion gründet darin, dass viele Menschen inzwischen ihr Glück allein daran bemessen, wie viele Optionen sie haben. Ihre ganze Libido hängt mittlerweile am Erschliessen von Optionen. Das aber ist ein kultureller Irrtum, denn das Leben wird erst dann gut, wo man eine Möglichkeit auch tatsächlich umsetzt.
In unserer Gesellschaft haben wir das Gefühl, frei zu sein. Keine*r sagt uns, wie wir leben müssen, ob und wen wir heiraten müssen, was wir glauben sollen. Und doch sagen die meisten Menschen bei fast allem, was sie tun: „Ich muss.“ Den ganzen Tag müssen wir. Wir sitzen fast alle in erbarmungslosen Hamsterrädern. Wir sind also gleichzeitig maximal frei und maximal unter Zwang. Und zugleich wollen wir uns so viele Optionen wie möglich offenhalten, wollen uns nie und nirgends festlegen.
Führt das zu Atemlosigkeit und Verunsicherung? Denn wer sich festlegt, könnte ja etwas noch Verheissungsvolleres verpassen.
Ja, und in dieser Unschlüssigkeit drückt sich eine weitere Angst aus: davor, stehen zu bleiben – und so zurückzufallen. Wer sich an etwas festhält, ist nicht flexibel. Unsere Beschleunigungsgesellschaft aber erfordert einen extrem hohen Grad an Flexibilität. Je dynamischer die Gesellschaft wird, je schneller sich Kontexte ändern, umso verhängnisvoller wird es, sich festzulegen.
Man kann heute nicht mehr sagen: Ich bin Schuster*in und werde für immer Schuster*in bleiben. Eine solche Strategie ist nicht zeitgemäss. Oder: Ich kaufe mir den neuesten Computer, und mit dem werde ich alt. Stehen bleiben heisst heute immer: zurückrutschen. Wir befinden uns quasi auf Rolltreppen abwärts. Wenn ich sage: So, jetzt habe ich, was ich brauche, befinde ich mich schon auf dem Weg nach unten. Es ist ein Gefühl, als stünde man auf rutschenden Abhängen.
Ist also Angst unser Motivator?
Im Kern ja. Viele meinen, Gier treibe uns an, das ist falsch: Es ist die Angst. Wir sind gar nicht getrieben von dem Verlangen, immer höher, immer schneller, immer weiter zu kommen, sondern von der Angst, nicht mehr mitzukommen, abzurutschen, zurückzufallen.
In der Beschleunigungslogik spiegelt sich auch die Angst vor dem Tod. Jede*r weiss, dass er*sie irgendwann sterben muss, dass seine*ihre Zeit begrenzt ist.
Ohne Gott und Glauben bezieht sich all unser Handeln und Sein einzig auf das Diesseits. Wenn es uns nun gelänge, immer schneller zu werden, immer mehr in immer kürzerer Zeit zu erleben, zu reisen, zu konsumieren, zu produzieren, dann könnten wir das Leben dehnen, dem Tod förmlich entrinnen. Dann könnten wir die ganze Welt vor dem Tod ausschöpfen, gleichsam ein ewiges Leben vor dem Tod haben. Wir alle sagen doch: Klar muss ich irgendwann sterben, aber bevor es so weit ist, will ich noch ganz viele Dinge tun.
War das nicht zu allen Zeiten so?
In gewisser Weise ja. Doch seit den 1990er-Jahren erleben wir eine massive Beschleunigungswelle, ausgelöst durch das Internet und die Digitalisierung zahlloser Prozesse – in der Kommunikation, Produktion, im Transport. Gleichzeitig sind die Informations- und vor allem Geldströme global geworden. Durch die Deregulierung und Digitalisierung der Finanzmärkte rasen gewaltige Kapitalmengen in Sekundenbruchteilen um die Welt.
Die massivste Veränderung, der am tiefsten greifende Wandel aber hat sich in den letzten Jahrzehnten in uns selbst vollzogen. Es ist zu einem radikalen Perspektivwechsel gekommen.
Wie meinen Sie das?
Über lange Zeit glaubten Menschen, durch Fortschritt und Veränderung werde die Welt nicht nur anders, sondern auch besser. Mit der Beschleunigung ging also eine Hoffnung einher: Durch Wachstum überwinden wir ökonomische Knappheit, Mangel, Armut, Unwissenheit. Der technische Fortschritt wird uns auch helfen, das Zeitproblem zu überwinden.
Diese Sicht hat sich stark gewandelt. Heute haben Menschen nicht mehr das Gefühl, Wachstum und Beschleunigung dienten der Verbesserung der Welt — sondern der Vermeidung der Krise. Das politische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Credo lautet heute nicht mehr: Wir wollen wachsen und beschleunigen, um die Welt besser zu machen. Sondern: Wir müssen alles Erdenkliche tun, um unsere Innovationskraft zu steigern, unsere Produktivität zu erhöhen, Wachstum zu sichern.
Andernfalls würden wir abgehängt werden im globalen Wettbewerb.
Genau, ohne Wachstum und Beschleunigung drohen ökonomische und politische Krisen. Aber selbst und gerade mit Wachstum und Beschleunigung drohen ökologische Krisen. Der Motivator, der Antrieb liegt also nicht mehr vor uns, sondern hinter uns: Wir laufen nicht auf eine verheissungsvolle Zukunft zu, sondern wir rennen vor einem düsteren Abgrund davon.
Das ist ein Wandel der kulturellen Perspektive um 180 Grad.
Diesen perspektivischen Bruch offenbaren etliche Umfragen in Japan, in den USA, in Europa. Mehr und mehr Eltern sagen: Wir investieren alles, was wir haben, nicht etwa, damit unsere Kinder eine bessere Zukunft haben – sondern damit ihre Zukunft nicht noch schlechter aussieht als die Gegenwart.
Führt dieser Verlust an Hoffnung unter anderem auch dazu, dass immer mehr Menschen an Burn-out und Depressionen erkranken?
Ja. Das ist genau meine These. Burn-out entsteht nicht dadurch, dass man viel zu tun hat. Arbeit macht ja per se weder krank noch unglücklich. Und auch früher schufteten Menschen immens viel. Denken Sie nur an die Trümmerfrauen. Die haben unfassbar hart gearbeitet, die waren auch erschöpft. Aber die litten nicht an der Art von Burn-out, die wir heute beobachten.
Das lag daran, dass es für die Menschen damals einen Zielhorizont gab: die Hoffnung, irgendwann wird der Trümmerberg abgebaut sein, irgendwann wird ein neues Haus dort stehen – und die Welt besser sein.
Die heutigen Zielhorizonte dagegen scheinen nicht erreichbar zu sein: Optimierung kennt keine Ziellinie. Man kann Quartalszahlen in Unternehmen, Quoten in den Medien, Publikationslisten in den Wissenschaften und auch den Body-Mass-Index immer weiter verbessern. Völlig gleichgültig, wie effizient, innovativ, gross wir heute sind – morgen müssen wir noch eine Schippe drauflegen, wenn wir unseren Platz halten wollen.
Wie sehr stresst es Arbeitnehmer*innen, dass Arbeitsprozesse in rascher Folge umorganisiert werden?
Es ist in der Regel kein Problem für einen Menschen, sich neuen Bedingungen anzupassen – aber nur, wenn er nach einer Eingewöhnungsphase mit einer längeren Zeit der Stabilität rechnen kann. Doch heute spürt man einen regelrechten Drang vieler Chef*innen nach ständiger Umorganisation, um mehr Effizienz zu erreichen. Und so ist den Angestellten klar: Die nächste Reform folgt in Kürze, ich kann mich gar nicht mehr eingewöhnen.
Diese Haltung lässt Menschen zynisch werden, der Arbeit, der Welt, dem Leben gegenüber. Der nächste Schritt ist dann: Burn-out. Das ist auch eine Folge davon, dass Menschen die Resonanzerfahrungen fehlen.
Was verstehen Sie darunter?
Resonanz erfahren wir, wenn uns etwas in der Tiefe berührt, wenn wir uns bewegt fühlen. Dann fühlen wir uns in einer bestimmten, positiven Weise in die Welt gestellt. Das kann auf unterschiedlichsten Ebenen geschehen. Manche Menschen erfahren Resonanz, wenn sie sich in die Natur begeben, ans Meer, in den Wald, in die Berge. Dort haben sie das Gefühl, mit Leib und Seele ganz anders in die Welt gestellt zu sein, mit ihrer Umgebung in Einklang zu stehen.
Oder weshalb gehen Menschen ins Konzert? Weil sie berührt werden wollen. Wer weint – beim Erklingen einer Symphonie oder wenn er einen Film anschaut –, der wird berührt, den erreicht die Welt. Auch Religiosität birgt ein Resonanzversprechen. Die Bibel ist ein Dokument des Flehens und Flüsterns, Rufens und Schreiens und Bittens und Betens nach Gott, sie birgt das Versprechen: Da hört dich einer, durch Gott erfährst du Resonanz.
Gibt es solche Resonanzerfahrungen auch in der Arbeitssphäre?
Gewiss, und dort sind sie besonders wichtig: Ein Lehrer kann das Gefühl haben, dass er seine Schüler erreicht, dass er etwas bewirkt. Und dass von den Schülern etwas zu ihm zurückkommt. Das ist der Hauptgrund, weshalb sich Menschen ehrenamtlich engagieren: Sie sagen, da kommt etwas zurück. Doch heutzutage beklagen immer mehr Menschen, dass sie etwas Vergleichbares auf der Arbeitsstelle nicht mehr erleben.
Und dieser Mangel an Resonanz führt zu Burn-out?
Menschen, die an Burn-out erkranken, sagen fast unisono: Ich habe mich abgearbeitet und mich bemüht, aber da kam nichts zurück. Ich hatte das Gefühl, ich arbeitete im leeren Raum. Wenn man über lange Zeit unter hohem psychischen Druck steht und übermässig viel leistet, hat man irgendwann keine Lust und keine Zeit mehr, sich auf Kollegen einzulassen. Man ist nur noch in der Lage, fast mechanisch mit den anderen zu interagieren, zu funktionieren.
Man gerät nicht mehr in Schwingung mit anderen Menschen.
Richtig. Ganz dramatisch ist das in solchen Berufen, bei denen es in besonderer Weise auf zwischenmenschliche Resonanz ankommt. Daher gibt es auch viele Burn-out-Fälle in den sozialen Berufen, bei Pflegekräften, Lehrern, Betreuern, Erziehern – alles Personen, die in ihren Berufen in besonderer Weise auf eine wechselseitige, auf eine antwortende Beziehung angewiesen sind. Auf Resonanz.
Auf Zeit, die sie mit ihrer Klientel verbringen.
Das ist der entscheidende Punkt. Der Aufbau solcher Beziehungen ist zeitintensiv. Und er wird durch die permanente Beschleunigung erschwert. Eine Krankenschwester, die ihre Arbeitszeit in Minuten eingeteilt bekommt, kann weder den Bedürfnissen der Patienten nach Resonanz noch ihren eigenen nachkommen.
Wenn man dieser Anforderung ausgesetzt ist, sie aber durch Überforderung und Zeitdruck immer weniger erfüllen kann, und wenn auch noch die Anerkennung fehlt, dann gerät man in eine Art Versteinerungsmodus. Dieses Missverhältnis macht Menschen auf Dauer krank und führt zu Burn-out.
Heisst das: Die Beschleunigung, die wir heutzutage erleben, geht insgesamt auf Kosten unserer Mitmenschlichkeit?
Ja, das steigende Tempo führt zu einer Entsolidarisierung. Je gestresster ich bin, desto weniger empathisch kann ich sein. Das bemerkt jeder in alltäglichen Situationen.
Mir geht es oft so, wenn ich dringend irgendwohin muss, der Zug Verspätung hat, mir im Gang eine Rentnergruppe den Weg blockiert. Dann ertappe ich mich bei dem beschämenden Gedanken, dass ich am liebsten eine Knarre hätte — um mir den Weg freischiessen zu können. Da zeigt sich, wie Stress, Zeitdruck, Beschleunigung die Fähigkeit zu sozialer Rücksichtnahme untergraben.
Auch hier sieht man Resonanzverlust: Empathie ist eine Form von zwischenmenschlicher Resonanzfähigkeit. Es gibt eine große US-Studie über den Rückgang an Mitgefühl: Die Grundbereitschaft, sich auf andere einzulassen, hat danach zwischen 1979 und 2009 um fast 40 Prozent nachgelassen.
Wie wirkt sich die Entsolidarisierung in Betrieben aus?
Zum Teil dramatisch. In manchen Unternehmen spürt man ein regelrechtes organisatorisches Kammerflimmern: Ständig wird umgestaltet, Prozesse werden laufend verändert, Abteilungen aufgelöst und neu gruppiert. Dieser stete Wandel führt zum Verlust von Resonanz – und das kann drastische Folgen haben.
Ein erschreckendes Beispiel dafür bietet die France Télécom, deren Führung vor einigen Jahren das Motto „Time to Move“ zum Prinzip erhoben hat: Nach spätestens 36 Monaten mussten Führungskräfte ihre Position wechseln, man befürchtete, es mindere die Effizienz, wenn leitende Mitarbeiter zu viele persönliche Beziehungen aufbauten und sich gewissermaßen heimisch fühlten, sie sollten flexibel bleiben.
Die Folge dieser ständigen Veränderungen waren aber enorm hohe Burn-out-Raten, Depressionen und eine Welle von Selbstmorden. Innerhalb von zwei Jahren brachten sich 40 Angestellte um.
Gehen Depressionen immer auf einen Mangel an Resonanzerfahrungen zurück?
Ganz sicher sind sie mit einem umfassenden Resonanzverlust verbunden, ich würde sogar so weit gehen zu behaupten: Eine schwere Depression ist der Zustand, in dem alle Resonanzachsen verstummen.
Die Beweise dafür sind wirklich überwältigend, Depressive schildern genau das: Die Welt um mich herum scheint stumm, tot, leer, kalt, sie schweigt; und auch in mir schweigt alles – ich selbst fühle mich leer, tot, stumpf.
Würden Sie also sagen, jeder Mensch muss mehr Resonanzerfahrungen machen?
Nein, eben nicht. Resonanz kann man nicht ohne Weiteres herstellen, sozusagen nach Plan, strategisch – sie hat immer etwas Unverfügbares und Flüchtiges an sich. Das Glück, das uns beim Anblick eines Sonnenuntergangs überwältigt, ist ein gutes Beispiel. Es liegt nicht in unserer Macht zu planen, wie ein Sonnenuntergang ausfällt, obendrein verändert sich dessen Schönheit laufend und vergeht.
Ebenso ist es bei Musik: Die beglückenden Stellen lassen sich nicht einfrieren. Und wenn ich nur meine Lieblingspassage in Endlosschleife höre, nutzt sich die tiefe Empfindung bald schon ab.
Was raten Sie gestressten Menschen, die sich erschöpft fühlen?
Diese Frage bringt mich immer wieder in Schwierigkeiten. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, hat schon der Philosoph Theodor Adorno gesagt – das Individuum ist nicht in der Lage, ein strukturelles gesellschaftliches Problem zu lösen.
Ausserdem: Beschleunigung ist ja nicht grundsätzlich schlecht, Entschleunigung nicht grundsätzlich gut.
Wir müssen uns klar machen: Langsamkeit ist kein Selbstzweck. Ich will durchaus keine langsame Achterbahn, keine langsame Internetverbindung, keine langsame Feuerwehr. Ich bin ganz sicher kein Entschleunigungsguru! Ich will nicht sagen: Leute, entspannt euch, hört schöne Musik, dann geht es euch gut.
Die grundlegende Frage ist: Wie gelingt ein gutes Leben? Ganz sicher nicht durch die blinde Vermehrung von Optionen. Aber natürlich will ich auch nicht sagen, man könne gar nichts tun, die Welt sei nun mal schlecht.
Ich denke, wir sollten eine Sensibilität dafür gewinnen, was uns wirklich wichtig ist. Den Blick dafür haben viele nicht mehr. Doch das Wissen um die Bedeutsamkeit ist die Basis für ein gelungenes Leben, für Stabilität – für Resonanz.
Wie können Menschen erspüren, was für sie bedeutsam ist?
Eine Möglichkeit besteht darin, sich zu fragen: Was war im vergangenen Jahr das Wichtigste für mich? Viele Menschen beenden ihre jeweils individuelle Antwort mit den Worten: „... das hat mich wirklich berührt, das hat mich bewegt.“ Solche Formulierungen sind ein Indikator für etwas Bedeutsames, für das, was wirklich wichtig im Leben ist. Das werden auch die Momente sein, an die wir uns am Ende unseres Lebens, kurz bevor wir sterben, erinnern. Die Sensibilität für das Bedeutsame zurückzugewinnen, das ist das Beste, was man tun kann.
Ein ganz deutliches Merkmal von echter Resonanz ist, dass sie sich der Steigerungslogik entzieht. Glück ist nicht steigerungsfähig, es ist auch gar nicht steigerungsbedürftig.
Wie entscheidend ist es, Zeit mit sich selbst zu verbringen?
Die Erfahrung, eine solche Ich-Zeit zu erleben, ist wichtig. Danach sehnen sich viele, und doch haben immer mehr Menschen fast Panik davor, allein zu sein. Sie ertragen es nicht, Zeit mit sich selbst zu verbringen, schalten sofort TV-Gerät oder Computer an, schreiben Nachrichten auf dem Smartphone oder lenken sich mit Spielen ab.
Woran liegt das?
Wir haben Angst davor, uns selbst ausgesetzt zu sein – davor, dass uns eine Leere entgegengähnt. Dass in uns niemand ist, mit dem man Zeit verbringen kann oder möchte. Unser Wunsch ist es zwar, in tiefere Resonanz mit uns selbst zu kommen: Doch wir befürchten, dass wir uns gar nicht mehr spüren, weil wir es nicht mehr gewohnt sind, weil wir uns von uns selbst entfremdet haben. Also schalten wir den Computer an.
Ich nehme mich da gar nicht aus, mir geht es oft am Abend so, dass ich noch mal schnell im Internet surfe – ohne dass dies irgendeinen sinnvollen Nutzen hat.
Selbst tagsüber füllen ja mehr und mehr Menschen jede noch so kleine Pause, indem sie sich ablenken, etwa auf ihr Smartphone schauen.
Darin drückt sich ein Defizit aus. Wer mehrere Dutzend Mal am Tag prüft, ob er eine Nachricht, eine E‑Mail, einen Kommentar erhalten hat, der muss sich offenbar sehr oft vergewissern, dass andere noch an ihn denken und ihm gewogen sind. Dass ihm also die Welt auch antwortet. Wenn wir nicht laufend neue Nachrichten erhalten, haben wir das Gefühl, etwas stimme nicht mit unserer Weltbeziehung, wir seien abgetrennt von der Welt.
So durchdringt die Wettbewerbslogik zunehmend auch unsere Beziehungen. Und ebendies versuchen wir beständig zu messen: durch die Anzahl von Freunden in sozialen Netzen, von Followern, von „Gefällt mir“-Klicks.
Heute pflegen wir viel mehr Kontakte als früher, konsumieren viel mehr Informationen, lernen viel mehr technische Neuerungen kennen. Wir sind also viel reicher an Erlebnissen, aber dennoch ärmer an Erfahrungen. Denn Erlebnisse werden nicht mehr in Erfahrungen transformiert.
Eine Erfahrung ist etwas, was zum Teil meiner eigenen Geschichte wird, zum Teil meiner Identität.
Wie beschleunigt wird unsere Gesellschaft in 50 Jahren sein?
Man muss sich hüten, Zukunftsszenarien zu entwerfen, die erfüllen sich ohnehin nie – vor allem die berühmten kulturpessimistischen, die apokalyptischen Visionen. Denken Sie daran, was viele Menschen noch Anfang der 1980er-Jahre für gewiss hielten: Dass im Jahr 2000 beinahe alle Wälder abgestorben sein würden, sämtliche Flüsse vergiftet, dass wir vielerorts nur noch mit Gasmasken rumlaufen könnten, es längst keinen Tropfen Erdöl mehr gäbe. Nichts davon ist eingetreten.
Glauben Sie denn, dass es mit der Beschleunigung des Lebens immer so weitergeht?
Wenn sich die gesellschaftlichen und insbesondere die ökonomischen Bedingungen nicht ändern, müssen wir danach streben, die Geschwindigkeit, auch die unserer Körper, noch zu erhöhen. Sei es mit der Verschmelzung von Organen, von Nerven und künstlichen Bauteilen, Computern. Oder auch mithilfe von Medikamenten. Es mag abenteuerlich klingen, aber wir sind nicht so weit davon entfernt. Der Konsum dämpfender Substanzen ist zurzeit eher rückläufig: Marihuana, Alkohol, LSD, Heroin. Dagegen sind alle Stoffe, die vorgeblich die Leistung erhöhen, im Vormarsch: Energydrinks, Amphetamine, Speed, Kokain.
Ich kenne Kollegen in den USA, die schreiben ihre Texte nur, nachdem sie Ritalin genommen haben. Es gibt in den USA ein Medikament, das heisst „Focusfactor“: Wer Konzentrationsschwierigkeiten hat, schmeisst sich eine Pille ein und kann weiterarbeiten.
Wie schützen Sie sich persönlich vor zu viel Stress?
Auch ich lebe sehr beschleunigt, da möchte ich mich gar nicht ausnehmen. Und doch lebe ich in gewisser Weise konservativ. Denn ich halte eisern an bestimmten Traditionen und Routinen fest, die mir heilig sind. So spiele ich etwa regelmässig Orgel in der Kirchengemeinde, montags ist immer Probe — völlig egal, was sich spontan ergeben könnte, das muss warten. Ich kümmere mich zudem um einen Tennisclub in meinem kleinen Schwarzwalddorf; das liegt zwar 600 Kilometer entfernt, aber die Verankerung ist mir sehr wichtig.
Ich habe, bildlich gesprochen, ein paar Pflöcke in mein Leben geschlagen. Manche geben mir seit Jahren Halt.
Welche?
Jeden Sommer verbringe ich drei Wochen in einer Sommerakademie, wo 90 hochbegabte Schüler zusammenkommen. Manche Kollegen sagen: Musst du dir auch noch das aufladen? Für mich ist es aber das Gegenteil von Stress, da entsteht eine Oase der Unerreichbarkeit, der Entschleunigung. Zwar herrscht dort reges Treiben, aber in der Zeit ist mir die Aussenwelt völlig egal: Meine Reichweite ist in diesen drei Wochen begrenzt auf einen Umkreis von ein paar Hundert Metern und auf eine Gruppe von gut 100 Menschen.
Schaffen Rituale Verlässlichkeit?
Sicher – gerade heute, wo sich feste Zeitfenster zunehmend auflösen, wo keine Sache mehr ihre eigene Zeit hat und sich unsere Lebenssphären zunehmend verschränken. Die Pflöcke geben Halt, die Traditionen sind nicht verhandelbar. Menschen brauchen ein paar Pflöcke im Leben! Der heilige Familienbereich, der „Tatort“ am Sonntag, die regelmässige Chorprobe am Dienstag.
Haben Sie noch einen Tipp für jene, die einmal das Gefühl haben wollen, endlich genug Zeit zu haben?
Das ist recht einfach. Anders als Geld kann man Zeit ja nicht anhäufen. Daher sollte man einen ganz anderen Weg als bei den Finanzen einschlagen. Zeitsparen ist nicht die Methode der Wahl. Wer sich reich an Zeit fühlen möchte, sollte hin und wieder einen Tag verschwenden, nichts planen, nichts Produktives tun.
Ein weiteres Beispiel: Schon seit 30 Jahren verbringe ich die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr in meinem Heimatdorf im Schwarzwald – und in dieser Zeit verlasse ich das Dorf nicht, komme, was wolle.
Also auch so eine Oase der Unerreichbarkeit.
Ja, besonders dann, wenn ich ganz grosses Glück habe: Wenn der Schnee schwer auf den Fichten liegt, kippen mitunter die Hochspannungsmasten um. Dann fällt der Strom aus. Und ich bin glücklich: Sobald der Akku meines Mobiltelefons leer ist, kann ich weder telefonieren noch ins Internet; ich kann das TV-Gerät nicht einschalten und auch keine CDs hören, der Flughafen ist weit entfernt. Ich falle gewissermassen aus der Zeit heraus.
Und habe überhaupt kein schlechtes Gewissen, einfach mal absolut nichts zu tun.
Dieses Interview ist zuvor im GEO Wissen erschienen.