Ohne Schweizer Pass kann Sozi­al­hil­fe­bezug gefähr­lich werden

Armuts­be­trof­fene Migrant:innen laufen Gefahr, aufgrund von Sozi­al­hil­fe­bezug ausge­schafft zu werden. Dieser Extrem­fall tritt selten ein, doch das Migra­ti­onsamt setzt Betrof­fene vorher oft jahre­lang unter Druck. Grund dafür ist die fehlende Zusam­men­ar­beit der Behörden – und die syste­ma­ti­sche Diskri­mi­nie­rung von Migrant:innen.
Illustration: Jacek Piotrowski (@jaski_art).

Nishan Kumari* sitzt auf einem Klapp­stuhl auf dem Park­platz vor dem Inter­net­café Kafi Klick, einge­wickelt in eine dunkel­blaue Wind­jacke, eine medi­zi­ni­sche Maske im Gesicht und einen Brief vom Migra­ti­onsamt in der Hand. Kumari wohnt seit über 30 Jahren in der Schweiz und hat haupt­säch­lich in der Gastro­nomie gearbeitet.

Nach einigen Jahren erhielt er die Aufent­halts­be­wil­li­gung, die seitdem jedes Jahr verlän­gert wurde – bis jetzt. Kumari bezieht seit einiger Zeit Sozi­al­hilfe und wurde deswegen Anfang 2020 vom Migra­ti­onsamt Zürich kontak­tiert. „Ich habe so viele Briefe bekommen“, erzählt Kumari und sperrt die Augen auf. Die Briefe weisen ihn alle darauf hin, dass er eine neue Stelle finden müsse; anson­sten riskiere er seine Aufenthaltsbewilligung.

So wie Kumari ergehe es zurzeit vielen Menschen, erzählt Ladina Marthaler, Co-Leiterin des Zürcher Inter­net­cafés. Im Kafi Klick finden Armuts­be­trof­fene kosten­lose Compu­ter­ar­beits­plätze und Unter­stüt­zung – im Früh­jahr 2020 vor allem für ihre Arbeits­suche während der Pandemie (das Lamm berich­tete).

In den vergan­genen sechs Monaten seien vermehrt armuts­be­trof­fene Migrant:innen mit Briefen vom Migra­ti­onsamt ins Kafi Klick gekommen, sagt Marthaler. „Wer keinen Schweizer Pass hat und ‚zu lange‘ Sozi­al­hilfe bezieht, wird vom Migra­ti­onsamt ange­schrieben und wahn­sinnig unter Druck gesetzt.“

Doch was hat das Migra­ti­onsamt mit Sozi­al­hil­fe­bezug zu tun?

Rück­stu­fungen und Ausschaffungen

In der Schweiz leben rund 2.2 Millionen Menschen ohne Schweizer Pass. Die meisten haben eine Aufent­halts- oder Nieder­las­sungs­be­wil­li­gung, was ihnen gewisse Rechte und Pflichten gibt. Sie arbeiten, zahlen Steuern und können sich beim RAV oder dem Sozi­alamt melden, wenn sie arbeitslos werden. Die meisten wehren sich jedoch vehe­ment dagegen, sich beim Sozi­alamt zu melden. Denn sobald der Sozi­al­hil­fe­bezug einen gewissen Betrag über­schreitet, klopft das Migra­ti­onsamt bei ihnen an.

Gemäss Artikel 62 und 63 des Ausländer- und Inte­gra­ti­ons­ge­setzes (AIG) ist Sozi­al­hil­fe­bezug ein Grund, um die Aufent­halts- oder Nieder­las­sungs­be­wil­li­gung zu wider­rufen. „Viele leben darum lieber unter dem Existenz­mi­nimum, statt den Entzug der Bewil­li­gung zu riskieren“, sagt Ladina Marthaler. Gemäss der Caritas Schweiz verzichten sogar 30 bis 50 Prozent der Bedürf­tigen auf ihren Sozi­al­hil­fe­an­spruch aus Angst vor Repressionen.

Menschen, die in die Schweiz migrieren, können verschie­dene Bewil­li­gungen erhalten. Hier erläu­tert werden die zwei häufig­sten davon.

Die Aufent­halts­be­wil­li­gung, auch B‑Ausweis genannt, ist in Art. 33 AIG gere­gelt. Sie wird für einen bestimmten Aufent­halts­zweck erteilt und kann mit weiteren Bedin­gungen verbunden werden. Sie ist für EU/EFTA-Staats­an­ge­hö­rige auf fünf Jahre, für Dritt­staats­an­ge­hö­rige auf ein Jahr befri­stet. Sie kann verlän­gert werden, sofern keine Wider­rufs­gründe vorliegen.

Die Nieder­las­sungs­be­wil­li­gung, oder C‑Ausweis, ist in Art. 34 AIG gere­gelt. Sie wird unbe­fri­stet und ohne Bedin­gungen erteilt. Migrant:innen können sie erhalten, wenn sie sich minde­stens zehn Jahre in der Schweiz aufge­halten haben, in den letzten fünf Jahren im Besitz einer Aufent­halts­be­wil­li­gung waren, inte­griert sind und keine Wider­rufs­gründe vorliegen.

Die Wider­rufs­gründe sind in Art. 62 AIG aufge­li­stet. Dazu gehört: falsche Angaben machen, zu länger­fri­stiger Frei­heits­strafe verur­teilt werden, ein erheb­li­cher Verstoss gegen die öffent­liche Sicher­heit, eine mit der Bewil­li­gung verbun­denen Bedin­gung oder eine Inte­gra­ti­ons­ver­ein­ba­rung nicht einhalten, Sozi­al­hil­fe­bezug und rechts­miss­bräuch­liche Erschlei­chung des Schweizer Bürger:innenrechts.

Für eine bestimmte Gruppe galt Sozi­al­hil­fe­bezug bis anhin nicht als Wider­rufs­grund: Personen mit einer Nieder­las­sungs­be­wil­li­gung, die seit minde­stens 15 Jahren in der Schweiz leben. Ledig­lich eine länger­fri­stige Frei­heits­strafe oder ein schwer­wie­gender Verstoss gegen die öffent­liche Sicher­heit konnte sie ihre Bewil­li­gung kosten.

Am 1. Januar 2019 trat das verschärfte AIG in Kraft. Die folgen­schwerste Ände­rung: Dieser Sonder­status fiel weg und statt­dessen wurde die Möglich­keit einer Rück­stu­fung einge­führt. Konkret kann die Nieder­las­sungs­be­wil­li­gung wider­rufen und durch eine Aufent­halts­be­wil­li­gung ersetzt werden, wenn die Inte­gra­ti­ons­kri­te­rien nach Artikel 58a AIG nicht erfüllt sind.

Die vier Inte­gra­ti­ons­kri­te­rien beinhalten: die Beach­tung der öffent­li­chen Sicher­heit und Ordnung, die Respek­tie­rung der Werte der Bundes­ver­fas­sung, die Sprach­kom­pe­tenzen und die Teil­nahme am Wirt­schafts­leben oder am Erwerb von Bildung. Bei Sozi­al­hil­fe­bezug ist die Teil­nahme am Wirt­schafts­leben nicht erfüllt.

„Mit der Verschär­fung des AIG wurde Armut auf die gleiche Stufe gestellt wie eine schwer­wie­gende Straftat.“

Ladina Marthaler, Kafi Klick

Eine Person mit einer Nieder­las­sungs­be­wil­li­gung, die seit zwanzig Jahren in der Schweiz lebt und arbeitet, nun aber Sozi­al­hilfe bezieht, kann also auf eine Aufent­halts­be­wil­li­gung zurück­ge­stuft werden. Diese Mass­nahme wird vom Migra­ti­onsamt rege genutzt: Seit Inkraft­treten des neuen AIG sind über 400 Menschen zurück­ge­stuft worden – rund ein Dutzend pro Monat. „Mit der Verschär­fung des AIG wurde Armut auf die gleiche Stufe gestellt wie eine schwer­wie­gende Straftat“, sagt Ladina Marthaler dazu. Und betont: „Das ist nicht verhältnismässig.“

Rele­vant ist: Wer auf eine Aufent­halts­be­wil­li­gung zurück­ge­stuft wurde, kann danach auch ausge­schafft werden. Doch die Ausschaf­fung ist nur die Spitze des Mass­nah­men­berges; schon der Weg dorthin ist mit Hürden und Repres­sionen gespickt. Während es für Personen mit einer Nieder­las­sungs­be­wil­li­gung eine Verschär­fung gab, hing das Aufent­halts­recht von Migrant:innen mit B‑Ausweis schon immer am seidenen Faden.

So auch Nishan Kumaris Aufent­halts­be­wil­li­gung: Während er eine existenz­si­chernde Stelle hatte, musste er sich um die Bewil­li­gung keine Sorgen machen. Doch seit er Sozi­al­hilfe bezieht, läuft die Sanduhr, Korn um Korn, Franken um Franken. Schliess­lich kontak­tierte ihn das Migrationsamt.

Selbst­ver­schul­dete Sozialhilfeabhängigkeit

In Zürich ist das Sozi­alamt verpflichtet, Personen ab einem Sozi­al­hil­fe­bezug von 25’000 Franken (bei einer Aufent­halts­be­wil­li­gung) bezie­hungs­weise 60’000 Franken (bei einer Nieder­las­sungs­be­wil­li­gung) beim Migra­ti­onsamt zu melden. Diese Beträge sind tief ange­setzt: Die Schwei­ze­ri­sche Konfe­renz für Sozi­al­hilfe (SKOS) rechnet bei einem Einper­so­nen­haus­halt mit einem Grund­be­darf von 997 Franken** im Monat – hier noch nicht inklu­diert sind Miet- und Kran­ken­kas­sen­ko­sten. So sind die 25’000 Franken innert ein bis zwei Jahren aufgebraucht.

Bedeu­tend ist, dass der Sozi­al­hil­fe­bezug sich summiert, auch wenn die Person nur hie und da ein paar Monate Sozi­al­hilfe bezogen hat und dazwi­schen jahre­lang ohne Sozi­al­hilfe auskam. Zudem müssen gewisse Armuts­be­trof­fene Sozi­al­hilfe beziehen, obwohl sie einer Lohn­ar­beit nach­gehen – weil die Teil­zeit­stellen im Nied­rig­lohn­sektor den Grund­be­darf nicht immer decken.

Das Zürcher Migra­ti­onsamt geht gemäss ihrer „Mass­nah­men­praxis“ folgen­der­massen vor: Nach der Meldung des Sozi­al­amtes klärt es „die Inte­gra­tion sowie die Gründe für die Sozi­al­hil­fe­ab­hän­gig­keit (inklu­sive Verschulden)“ der betrof­fenen Person ab. Gilt der Sozi­al­hil­fe­bezug als „zumin­dest teil­weise vorwerfbar“, sendet das Migra­ti­onsamt in einem ersten Schritt einen Brief mit Inte­gra­ti­ons­emp­feh­lungen an die betrof­fene Person.

Wann ist denn der Sozi­al­hil­fe­bezug vorwerfbar?

„Fast immer“, antwortet Erika Schil­ling von der Bera­tungs­stelle für Migra­tions- und Inte­gra­ti­ons­recht des Schwei­ze­ri­schen Arbei­ter­hilfs­werks Zürich (MIRSAH). Etwa die Hälfte der Migrant:innen, die sich bei der MIRSAH melden, haben Fragen zu den Folgen des Sozi­al­hil­fe­be­zugs. Schil­ling kennt die verschie­denen Erklä­rungen des Migra­ti­ons­amtes, weshalb der Sozi­al­hil­fe­bezug „vorwerfbar“ sei: „Die Person hätte mehr Bewer­bungen verschicken, früher Deutsch lernen und sich allge­mein mehr bemühen sollen“, fasst sie zusammen. Das Migra­ti­onsamt finde immer irgend­einen Grund, so Schilling.

Als einzige Ausnahme nennt das Migra­ti­onsamt die Corona-Pandemie: Wer ausschliess­lich aufgrund der Pandemie Sozi­al­hilfe beziehen musste, trage keine Schuld und würde auch gar nicht erst vom Migra­ti­onsamt kontaktiert.

Für alle anderen jedoch gilt: Nach dem ersten Brief prüft das Migra­ti­onsamt das Aufent­halts­recht der betrof­fenen Person „übli­cher­weise ein Jahr später“ erneut. Ist der Wider­rufs­grund – Sozi­al­ab­hän­gig­keit – immer noch gegeben, eine Ausschaf­fung aber nicht verhält­nis­mässig, wird die betrof­fene Person verwarnt.

Theo­re­tisch arbeits­fähig, faktisch nicht

Genau das geschah Kumari: Im Sommer 2021 erhielt er per Post eine Verwar­nung. Der Brief, der das Lamm vorliegt, ist neun Seiten lang, gespickt mit Jurist:innenfloskeln und Behör­den­deutsch. „Ich habe zwei Wochen lang kaum geschlafen“, erzählt Kumari und fasst sich mit der Hand an die Stirn. Der Inhalt des Briefs sei für ihn sehr schwierig zu verstehen, der Kern aber klar: Er muss möglichst schnell von der Sozi­al­hilfe wegkommen, anson­sten droht ihm die Nicht­ver­län­ge­rung der Aufent­halts­be­wil­li­gung, die Anfang 2021 abge­laufen ist.

„Ich verschicke jeden Monat über zehn Bewer­bungen, aber ich bekomme einfach keine neue Stelle“, erzählt Kumari und schüt­telt den Kopf. Er ist über 55 Jahre alt und hat gesund­heit­liche Probleme. Zudem hat die Gastro­nomie-Branche unter der Pandemie gelitten, was die Stel­len­suche umso mehr erschwert.

Rele­vant ist, ob das Migra­ti­onsamt Kumaris Sozi­al­ab­hän­gig­keit als selbst­ver­schuldet einstuft. Im Brief wird erklärt, dass dies dann der Fall sei, „wenn nicht konkrete Gründe einer Erwerbs­auf­nahme […] entge­gen­stehen“. Genauere Infor­ma­tionen dazu, wer genau diese Beur­tei­lung vornimmt und was als „konkreter Grund“ gelten würde, liefert der Brief nicht. Auch Tobias Chri­sten, Medi­en­spre­cher des Zürcher Migra­ti­ons­amtes, beant­wortet die Frage selbst nach mehr­ma­ligem Nach­haken nicht.

Die Termi­no­logie „selbst­ver­schuldet“ kennt das Sozi­alamt derweil gar nicht: Es prüft ledig­lich, ob die Sozialhilfebezüger:innen ihrer „Scha­dens­min­de­rungs­pflicht“ nach­kommen, indem sie alles ihnen Mögliche und Zumut­bare unter­nehmen, um ihre Notlage zu beheben.

Mehrere Seiten des Briefes resü­mieren Kumaris Arbeits­stellen der letzten Jahre, seine gesund­heit­li­chen Probleme, die Berichte seiner Ärzt:innen und die Einschät­zung des Sozi­al­amtes, dass er seiner Scha­den­min­de­rungs­pflicht genü­gend nach­komme, weil er im Rahmen seiner Möglich­keiten nach einer existenz­si­chernden Arbeits­stelle suche.

Das Fazit des Migra­ti­ons­amtes lautet dennoch: „Der Sozi­al­hil­fe­bezug […] ist selbst­ver­schuldet und damit vorwerfbar.“ Kumari habe zu wenige Bewer­bungen verschickt, er bemühe sich nicht hinrei­chend um eine neue Stelle, seine gesund­heit­li­chen Probleme seien nicht einschnei­dend genug. Die Einschät­zungen des Sozi­al­amtes und der Ärzt:innen ändern an diesem Fazit nichts.

Erika Schil­ling von der MIRSAH weiss, wieso: „Das Migra­ti­onsamt aner­kennt eine gesund­heit­lich bedingte Arbeits­lo­sig­keit nur, wenn die Person bei der Inva­li­den­ver­si­che­rung (IV) ange­meldet ist und eine Inva­li­den­rente erhält.“ Schil­ling erwähnt als Beispiel einen Bauar­beiter mit einem Rücken­schaden: „Gemäss der IV gilt der Bauar­beiter nicht als invalid, da er theo­re­tisch noch einer leichten Büro­ar­beit nach­gehen könnte.“

Faktisch werde der Bauar­beiter jedoch aufgrund fehlender Kennt­nisse und Erfah­rung kaum einen Bürojob bekommen, so Schil­ling weiter. Das Sozi­alamt beur­teilt, was für den Bauar­beiter real möglich ist, je nach Erfah­rungen und Lage auf dem Arbeits­markt. Dementspre­chend würden sie die Anzahl erfor­derter Bewer­bungen redu­zieren und ihm sagen, er mache genug.

„Das Problem ist: Sowohl für die IV als auch für das Sozi­alamt ist der Entscheid logisch. Doch weil sich das Migra­ti­onsamt nur auf die IV abstützt, kommen viele armuts­be­trof­fene Migrant:innen in eine aussichts­lose Lage“, sagt Schil­ling. Gemäss dem AIG sollte einer Krank­heit ange­messen Rech­nung getragen werden (Art. 58a Abs. 2), doch laut Schil­ling wendet das Migra­ti­onsamt den Artikel kaum an.

Zudem gebe es zwischen Sozial- und Migra­ti­onsamt viel zu wenig Kommu­ni­ka­tion, erklärt Schil­ling. Das Migra­ti­onsamt höre nicht auf die jewei­ligen Sozialberater:innen, „die ja wohl abschätzen können, ob jemand wirk­lich nicht arbeiten kann oder simu­liert“, so Schil­ling weiter.

„Ich erlebe es so, dass alle sehr gerne einer Arbeit nach­gehen würden.“

Erika Schil­ling, MIRSAH

Für Ausländer:innen gilt ein stren­gerer Mass­stab als für Schweizer:innen, da sie es neben dem Sozi­alamt auch dem Migra­ti­onsamt recht machen müssen – und diese Diskri­mi­nie­rung wird vom Bundes­ge­richt geschützt. In einem Urteil von 2019 schreibt es: „Der Entzug der Bewil­li­gung kann auch dann verhält­nis­mässig sein, wenn die Betrof­fenen ihrer Scha­den­min­de­rungs­pflicht […] nach­ge­kommen sind. Im Rahmen des auslän­der­recht­li­chen Verfah­rens gilt ein stren­gerer Mass­stab.“ Ähnliche Urteile gibt es auch aus den Jahren 2018 und 2020.

Dementspre­chend ist es nicht verwun­der­lich, dass sozi­al­hil­fe­be­zie­hende Migrant:innen gegen­sätz­liche Infor­ma­tionen erhalten: Das Sozi­alamt sagt, sie verhalten sich richtig, das Migra­ti­onsamt sagt, sie machen zu wenig, und setzt sie entspre­chend unter Druck. Nötig wäre das nicht, sagt Schil­ling. „Ich erlebe es so, dass alle sehr gerne einer Arbeit nach­gehen würden.“ Es seien die Umstände, die das nicht erlaubten. Der konstante Druck schade nur der psychi­schen Gesund­heit dieser Menschen, so Schil­ling. „Sie sind extrem verzweifelt.“

Gemäss Mass­nah­men­praxis des Migra­ti­ons­amtes erfolgt ein Jahr nach der Verwar­nung der Widerruf bzw. die Nicht­ver­län­ge­rung der Bewil­li­gung – sofern das als verhält­nis­mässig einge­stuft wird.

Doch was gilt als verhältnismässig?

Verhält­nis­mässig oder nicht

Das Zürcher Migra­ti­onsamt listet auf seiner Webseite die Krite­rien auf, anhand derer die Verhält­nis­mäs­sig­keit geprüft wird:

  • Verschulden/Gründe für Sozialhilfeabhängigkeit
  • Fami­liäre Verhält­nisse und Nach­teile für die Familie im Falle einer Ausschaffung
  • Drohende Nach­teile im Heimatland
  • Bezie­hung zum Heimatland
  • Verhalten in straf­recht­li­cher Hinsicht
  • Betrei­bungen
  • Gesell­schaft­liche und beruf­liche Integration

Wie diese genau abge­wogen und im Einzel­fall ausge­legt werden, und von wem, bleibt unklar. Tobias Chri­sten, Medi­en­spre­cher des Zürcher Migra­ti­ons­amtes, kann oder möchte auch diese Frage nicht näher beantworten.

Kumari bleibt noch rund ein halbes Jahr, um eine existenz­si­chernde Arbeits­stelle zu finden und sich so von der Sozi­al­hilfe zu lösen. Anson­sten riskiert er, seine Aufent­halts­be­wil­li­gung ganz zu verlieren und ausge­schafft zu werden – nach über dreissig Jahren in der Schweiz. Darauf vertrauen, dass die Prüfung der Verhält­nis­mäs­sig­keit zu seinen Gunsten ausfällt, kann er nicht.

Fakti­sche Ausschaf­fungen geschehen laut Erika Schil­ling eher selten. Bevor es so weit kommt, finden viele armuts­be­trof­fene Migrant:innen eine andere Lösung – auch, weil sie den Druck nicht mehr aushalten. Schil­ling nennt zwei Beispiele: „Entweder sie kehren frei­willig in ihr Heimat­land zurück oder holen sich finan­zi­elle Unter­stüt­zung bei ihren erwach­senen Kindern, um in der Schweiz bleiben zu können.“

Doch nicht alle haben diese Möglichkeit.

Die parla­men­ta­ri­sche Initia­tive „Armut ist kein Verbre­chen“ der SP möchte deshalb die Verschär­fung des AIG korri­gieren: Migrant:innen sollen nach zehn Jahren in der Schweiz ohne Risiko Sozi­al­hilfe beziehen können, unab­hängig von der Art ihrer Bewil­li­gung. Die Grenze von zehn Jahren zog SP-Natio­nal­rätin und Initi­antin Samira Marti aufgrund eines Bundes­ge­richts­ent­scheides, in dem argu­men­tiert wurde, dass nach zehn Jahren Aufent­halt in der Schweiz „eine gute Inte­gra­tion voraus­ge­setzt werden kann“.

Das Kafi Klick unter­stützt die Initia­tive, doch sie gehe zu wenig weit, sagt Ladina Marthaler. „Niemand sollte aufgrund von Sozi­al­hil­fe­bezug ausge­schafft werden können.“

Die Corona-Pandemie hat die Situa­tion für viele Arbeit­neh­mende verschlim­mert. Doch in Bezug auf armuts­be­trof­fene Migrant:innen hat sie ledig­lich ein Problem an die Ober­fläche gebracht, das vorher schon da war: Menschen ohne Schweizer Pass werden syste­ma­tisch diskri­mi­niert, statt dass sie risi­ko­frei vom ausge­prägten Schweizer Sozi­al­ap­parat profi­tieren können.

*Name von der Redak­tion geändert.

**Aktua­li­sie­rung 04.11.21: In einer früheren Version dieses Arti­kels stand, dass die SKOS einen Sozi­al­hil­fe­bezug von 997 CHF im Monat empfiehlt. Dies stimmt so nicht, da hier die Miet- und Kran­ken­kas­sen­ko­sten nicht inklu­diert sind.


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