Die sozial Schwäch­sten sind vor, während und nach Corona dieselben

Wer beim RAV ange­meldet ist, muss im Monat durch­schnitt­lich zehn Bewer­bungen verschicken. Dass die Corona-Krise dies gerade für Armuts­be­trof­fene massiv erschwert, scheint der Bund vergessen zu haben. Eine einheit­liche Rege­lung hierzu fehlt auch bei den Kantonen. Nun versucht das Kafi Klick die Aufmerk­sam­keit auf die prekäre Situa­tion zu lenken. 
Das Kafi Klick hat aktuell geschlossen – doch die Arbeit läuft im Hintergrund weiter. (Foto: Kafi Klick)

„Meine RAV-Bera­terin will, dass ich sechs Bewer­bungs­mails pro Monat verschicke. Aber mein Lebens­lauf ist nicht aktua­li­siert und ich habe keinen Computer. Auf dem Handy kann ich das nicht machen. Ich habe Angst, dass ich nach dem Lock­down von der Arbeits­lo­sen­kasse sank­tio­niert werde, weil ich zu wenige Bewer­bungen verschickt habe.“

So schil­dert der arbeits­lose Jorge* aus Zürich seine aktu­elle Lage – und der 58-Jährige ist nicht der Einzige.

Ladina Marthaler vom Zürcher Inter­net­kaffee Kafi Klick kann dies bestä­tigen: „Weil wir am 17. März schliessen mussten, haben wir eine Corona-Hotline einge­richtet, wo uns Armuts­be­trof­fene tele­fo­nisch errei­chen können, falls sie etwas brau­chen. In den ersten zwei Wochen hat sich gezeigt, dass sie total verzwei­felt sind, weil viele von ihnen keine Bewer­bungen mehr verschicken können.“

Das Zürcher Inter­net­kaffee bietet kosten­lose Compu­ter­ar­beits­plätze an und fungiert daneben auch als Treff­punkt für Armuts­be­trof­fene. „Norma­ler­weise kommen pro Tag etwa 90 Leute bei uns vorbei, viele davon sind beim RAV ange­meldet. Wir machen viel Unter­stüt­zungs­ar­beit: beim Bewer­bungen- oder Lebens­lauf­schreiben, beim Ausfüllen von Online­for­mu­laren oder bei der Wohnungs­suche.“ Nun seien aber viele Armuts­be­trof­fene auf sich selbst gestellt. Beson­ders schwierig gestalte sich das bei der Stel­len­suche: Viele hätten ohne das Kafi Klick oder ähnliche Hilfs­an­ge­bote gar keinen Zugang zu Computer und Internet, was heut­zu­tage aber zentral ist, um sich über­haupt bewerben zu können.

Von einheit­li­cher Rege­lung keine Spur

Wer bei einem Regio­nalen Arbeits­ver­mitt­lungs­zen­trum (RAV) ange­meldet ist, erhält ein „Taggeld“ von einer Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung. Dafür muss die Person jedoch die „Rechte und Pflichten“ des RAV einhalten, in dessen Zentrum die Stel­len­suche steht. Das Zürcher Amt für Wirt­schaft und Arbeit (AWA) schreibt auf seiner Webseite: „Als versi­cherte Person müssen Sie im Sinne der Scha­dens­min­de­rung alles Zumut­bare unter­nehmen, um Arbeits­lo­sig­keit zu vermeiden oder zu verkürzen.“ Konkret werden pro Monat durch­schnitt­lich zehn bis zwölf Bewer­bungen erwartet.

Aktuell sind wegen des Coro­na­virus alle RAV bis auf weiteres geschlossen; Bera­tungen erfolgen nur noch tele­fo­nisch. Trotzdem muss die Stel­len­suche fort­ge­setzt werden. Auf Nach­frage von das Lamm, ob eine Anpas­sung an die aktu­elle Situa­tion vorge­nommen wurde, antwortet die Medi­en­stelle des AWA wie folgt: „Die RAV im Kanton Zürich gehen auf die spezi­fi­sche Situa­tion der Stel­len­su­chenden und ihres Berufs­felds ein und defi­nieren die ange­mes­sene Zahl von Arbeits­be­mü­hungen im Dialog mit diesen. Die Anzahl erfor­der­li­cher Arbeits­be­mü­hungen ist abhängig von dem für die Stel­len­su­chenden passenden Arbeits­an­gebot auf dem Arbeits­markt. Aktuell haben wir die Anzahl erfor­der­li­cher Arbeits­be­mü­hungen in der Regel reduziert.“

Eine einheit­liche Rege­lung im Kanton Zürich fehlt also. Auch auf Bundes­ebene sind Armuts­be­trof­fene in Zusam­men­hang mit der Corona-Krise erst ein Mal genannt worden. In einer Medi­en­mit­tei­lung vom 25. März schreibt der Bundesrat: „Im Bereich der Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung (ALV) wird auf das Einrei­chen des Nach­weises von Arbeits­be­mü­hungen verzichtet. Die versi­cherte Person muss den Nach­weis der Arbeits­be­mü­hungen späte­stens einen Monat nach Ablauf der COVID-19-Verord­nung 2 einreichen.“

„Das ist total miss­ver­ständ­lich“, sagt Marthaler, die sich seit 2016 im Kafi Klick enga­giert. „Viele Armuts­be­trof­fene haben das so verstanden, dass sie sich während der Corona-Krise gar nicht bewerben müssen. Wir haben dann sicher­heits­halber beim SECO nach­ge­fragt, weil das so wahn­sinnig schwierig formu­liert ist. Nicht einmal wir, die gut Deutsch können, haben das auf Anhieb richtig verstanden.“

Das Miss­ver­ständnis könne grosse Probleme mit sich bringen: „Wenn man die Arbeits­be­mü­hungen im Nach­hinein nicht vorweisen kann, gibt es Sank­tionen. Und das wird leider bei den meisten Leuten der Fall sein“, erklärt Marthaler. Mit Sank­tionen sind Kürzungen des Taggeldes gemeint. Bei zu wenig verschickten Bewer­bungen sei eine Kürzung von zwei Wochen üblich. „Das ist eine wahn­sinnig grosse finan­zi­elle Bürde für Menschen, die sowieso schon am Existenz­mi­nimum oder sogar drunter leben müssen.“

Genauso wie Jorge* ist auch die 52-jährige Marta* beim RAV ange­meldet; und sorgt sich um ihre aktu­elle Situa­tion: „Mir drohen Sank­tionen, wenn ich zu wenige Bewer­bungen nach­weisen kann. Das kann ich mir nicht leisten!“ Also fahre sie mit Kopien ihres Lebens­laufs zu verschie­denen Tempo­rär­büros – obwohl die meisten geschlossen hätten oder sie gar nicht rein­lassen würden. Sie probiere es einfach immer weiter. „Es ist vergeu­dete Zeit, und ich habe wegen dem Virus Angst, so viel mit dem öffent­li­chen Verkehr herum­zu­fahren. Aber ich brauche bis Ende Monat minde­stens acht Stempel auf meinem Blatt.“

„Es inter­es­siert prak­tisch niemanden“

Weil die prekäre Lage armuts­be­trof­fener Arbeits­su­chender bis heute verkannt wird, hat sich das Kafi Klick mit anderen Orga­ni­sa­tionen zusam­men­ge­schlossen und eine Peti­tion namens „Keine Bewer­bungs­pflicht während Corona-Krise“ gestartet. Die Peti­tion fordert eine einheit­liche Rege­lung für die ganze Schweiz, und zwar dass die Bewer­bungs­pflicht während der Corona-Krise aufge­hoben wird. Marthaler findet: „Es muss klar sein, was gilt – und zwar für alle. Zudem möchten wir mit der Peti­tion auf die Situa­tion von Personen, die schon vor Corona zu den sozial Schwäch­sten gehörten, aufmerksam machen. Sie haben es jetzt umso schwerer.“

Die Peti­tion mit knapp 1’200 Unter­schriften, adres­siert an Wirt­schafts­mi­ni­ster Guy Parmelin, wird am kommenden Sonntag einge­reicht. „Es ist schon ein Anliegen, für das sich in der Gesell­schaft prak­tisch niemand inter­es­siert.“ Als Vergleich: Die Peti­tion „Corona-Sofort­hilfe für alle Selbst­stän­digen“ erhielt über 70’000 Unter­schriften. Marthaler erklärt sich das so: Wer das Bild der Arbeit­sam­keit gut verkaufe, erhalte viel eher Unter­stüt­zung, als jemand, der schon vor Corona arbeitslos war. „Es ist ein Spiegel dafür, was für eine Auffas­sung nach wie vor herrscht: dass Armut bzw. Arbeits­lo­sig­keit selbst­ver­schuldet ist.“

Dabei sind es die Armuts­be­trof­fenen selbst, die am meisten unter der Situa­tion leiden – insbe­son­dere, wenn ihnen das Taggeld gekürzt wird. „Wenn jemand aufgrund der aktu­ellen Situa­tion in zu starke finan­zi­elle Not kommt, helfen wir beim Gesu­che­schreiben für direkte finan­zi­elle Unter­stüt­zung.“ Solche Gesuche hat das Kafi Klick zum Beispiel schon an die Caritas geschickt, die wiederum Geld von der Glücks­kette erhält, erzählt Marthaler. „Bis jetzt jedoch erfolglos.“

Die Stif­tung Glücks­kette hat seit Ausbruch der Corona-Krise fleissig Spenden gesam­melt und arbeitet nebst der Caritas Schweiz in erster Linie mit dem Schwei­ze­ri­schen Roten Kreuz zusammen. Darüber hinaus erhalten 36 weitere Orga­ni­sa­tionen von der Glücks­kette finan­zi­elle Unter­stüt­zung, um ihre Hilfs­an­ge­bote für Menschen in Not auszu­bauen. Auf Anfrage von das Lamm erklärt Geschäfts­stel­len­mit­glied Priska Spörri, dass die Glücks­kette unter anderem Personen unter­stütze, die schon vor Corona von Armut betroffen waren und sich jetzt in einer noch schwie­ri­geren Lage befinden. Eine spezi­fi­sche Gruppe ist davon jedoch ausge­nommen: „Menschen, die auf dem RAV ange­meldet sind, profi­tieren von einer Versi­che­rungs­lei­stung und werden wohl bei keiner Orga­ni­sa­tion, mit der wir zusam­men­ar­beiten, Hilfe im Rahmen eines dieser Programme erhalten können.“

Die Glücks­kette mit ihrer Spen­den­samm­lung von rund 35 Millionen Franken lässt also armuts­be­trof­fene Personen links liegen – weil es ihnen angeb­lich zu gut geht. Gemäss Marthaler sieht die Realität anders aus: „Falls die Personen keine direkte finan­zi­elle Unter­stüt­zung erhalten, kommen sie meistens nicht drum herum, sich beim Sozi­alamt zu melden.“ Das sei aber immer die letzte Option. „Die meisten wollen da auf keinen Fall hin. Gerade Migrant*innen haben oftmals Angst, dass ihnen die Aufent­halts­be­wil­li­gung irgend­wann wegge­nommen wird, weil sie zu lange auf dem Sozi­alamt gewesen sind. Zudem übt das Sozi­alamt einen immensen Druck aus, damit die Leute nicht bleiben.“

„Ich habe die Adresse von einem parkierten Auto abgeschrieben“

Die Lage für armuts­be­trof­fene Arbeits­su­chende ist nicht nur in Zürich prekär. Die in Basel basierte Inter­pro­fes­sio­nelle Gewerk­schaft der Arbei­te­rInnen (IGA) hat die Peti­tion „Keine Bewer­bungs­pflicht während Corona-Krise“ mitlan­ciert. Zudem hat die IGA zusammen mit Klein­basel Soli­da­risch ein „Solifon“ einge­richtet, um auch in der aktu­ellen Situa­tion weiterhin erreichbar zu sein. Cathé­rine Merz ist eine der Berater*innen und erzählt, dass sie seit Mitte März rund 40 Fälle über­nommen haben. „Das können Selbst­stän­dige, Kunst­schaf­fende oder Personen in prekären Arbeits­si­tua­tionen sein, die irgend­welche arbeits­recht­li­chen Fragen haben.“

Auch arbeits­lose Personen, die beim RAV ange­meldet sind, melden sich für eine Bera­tung: „Ein junger Mann erzählte mir, dass er im April statt acht bis zwölf nur vier Bewer­bungen verschicken muss. Eine andere Dame hingegen meinte, dass ihr RAV-Berater sie ange­rufen und sehr unter Druck gesetzt habe: Sie solle sich überall bewerben, auch bei Tempo­rär­büros und Reini­gungs­firmen – und das, obwohl sie aus dem Detail­handel kommt.“ So eine Willkür passiere, weil eine offi­zi­elle Zahl dazu fehle, wie viele Arbeits­be­mü­hungen momentan nötig sind. „Ich finde es stos­send, dass die Arbeits­losen so unter Druck kommen und sich während der Corona-Krise bewerben müssen. Am besten würde der Bund die Bewer­bungs­pflicht aufheben, so wie wir es in der Peti­tion fordern“, meint Merz.

Das würde auch Nora* zu Gute kommen. Sie wohnt in Basel und hat seit dem Lock­down weder Zugang zum Internet noch zu einem Drucker. Dafür ist sie bis anhin in die Univer­si­täts­bi­blio­thek gegangen, doch diese ist seit dem 17. März bis auf weiteres geschlossen. Alle anderen Hilfs­an­ge­bote wie Inter­net­kaf­fees oder Dienste des Kantons sind eben­falls zu. Ein Handy hat die 61-Jährige zwar, aber es ist ein altes Modell ohne Internetzugang.

„Ich habe meine RAV-Bera­terin ange­rufen und gefragt, was ich machen soll. Sie meinte, statt drei bis vier Bewer­bungen pro Woche müsste ich nur noch ein bis zwei machen.“ Eine Hilfe sei das jedoch nur begrenzt, denn ohne Internet kann Nora* nicht mal auf Stel­len­por­tale zugreifen. Um ihre Bewer­bungen zusam­men­zu­be­kommen, muss sie also kreativ werden: „Einmal ging ich an einem parkierten Auto vorbei, auf dem die Adresse einer Firma aufge­druckt war. Dann habe ich das abge­schrieben und mich dort beworben.“ Die Bewer­bungen muss sie zwangs­läufig von Hand schreiben und dann mit der Post verschicken. „Es gäbe ja noch das Telefon, aber sich tele­fo­nisch zu bewerben bringt eigent­lich nichts, weil die meisten gar nicht anwe­send sind.“ Ange­spro­chen auf die Mass­nahmen des Bundes erwi­dert sie nur: „Die, die am laute­sten brüllen, kriegen am ehesten Unterstützung.“

Das RAV verkennt die Realität

In Basel wurde genauso wie in Zürich keine allge­meine Anpas­sung an die aktu­elle Situa­tion in Form einer Reduk­tion der erfor­der­li­chen Arbeits­be­mü­hungen vorge­nommen. Nicole Hostettler ist Leiterin des Amtes für Wirt­schaft und Arbeit in Basel und sagt dazu: „Im Normal­fall wird die indi­vi­du­elle Situa­tion einer Person ange­schaut und nicht einfach eine pauschale Anzahl von erfor­der­li­chen Bewer­bungen vorge­geben; das ist nach wie vor so.“

Zudem beteuert Hostettler, dass ein soge­nannter Job-Desk-Terminal im RAV an der Hoch­strasse in der Nähe des Basler Haupt­bahn­hofs auch während der Corona-Krise zugäng­lich sei. Dort können Armuts­be­trof­fene tages­ak­tu­elle offene Stellen durch­su­chen und bei Bedarf ausdrucken. Das Terminal für Bewer­bungs­schreiben oder Lebens­läufe zu nutzen ist jedoch nicht möglich. Hostettler rela­ti­viert: „Die meisten Leute können sich selbst orga­ni­sieren. Es gibt ja auch Hilfs­an­ge­bote, wie das Inter­net­café Planet13.“ Das Basler Inter­net­kaffee hat aufgrund der Corona-Krise geschlossen – das daraus resul­tie­rende Problem scheint Hostettler nicht zu sehen. Ange­spro­chen auf Noras Situa­tion meint Hostettler nur: „Die indi­vi­du­elle Situa­tion kann zusammen mit der zuge­teilten RAV-Bera­terin ange­schaut werden.“ Wie es scheint, fühlt sich niemand direkt für die Betrof­fenen verantwortlich.

Im Moment gras­siert die Willkür. Je nach Wohnort wird eine armuts­be­trof­fene Person einem RAV zuge­teilt und hat in der aktu­ellen Situa­tion mehr oder weniger Glück: Entweder wurden Anpas­sungen gemacht und die erfor­der­li­chen Arbeits­be­mü­hungen redu­ziert; oder eben nicht. Dabei gäbe es mehrere Faktoren, die für eine Aufhe­bung der Bewer­bungs­pflicht während der Corona-Krise spre­chen würden.

Ohne die Hilfs­an­ge­bote ist nicht garan­tiert, dass alle Armuts­be­trof­fene Zugang zu einem Computer oder Internet haben. Wenn von eben solchen Personen trotzdem Arbeits­be­mü­hungen verlangt werden, müssen sie zu extremen Mitteln greifen: Eine Möglich­keit ist, wie Nora* die Bewer­bungen hand­schrift­lich zu verfassen und per Post zu versenden – voraus­ge­setzt, dass sie ohne Internet an Adressen von Firmen kommen. Eine andere Möglich­keit ist, wie Marta* bei den Tempo­rär­büros vorbei­zu­fahren und sich persön­lich vorzu­stellen. Dabei handeln sie aber gegen die Empfeh­lung des Bundes­rates, zu Hause zu bleiben, und setzen sich einem erhöhten Ansteckungs­ri­siko aus.

Und wenn eine armuts­be­trof­fene Person doch Inter­net­zu­gang hat bzw. orga­ni­sieren kann, um sich durch die Stel­len­por­tale zu klicken, stösst sie nur auf gähnende Leere: Die meisten Inse­rate sind mitt­ler­weile 30 Tage alt. Wieso sollten Firmen auch neue Mitar­bei­tende anstellen während einer Krise, in der landes­weit 37 Prozent der Arbeit­neh­menden auf Kurz­ar­beit gesetzt werden mussten?

Genau mit diesem Problem hat auch der arbeits­lose Zürcher Felix* zu kämpfen: „Viele Firmen, die ich anschreibe, sagen mir, dass sie im Moment keine neuen Leute anstellen. Das RAV will nicht, dass man sich zu oft bei der glei­chen Firma bewirbt, aber ich werde im Moment gezwungen, alle meine zusam­men­ge­suchten Adressen zu verschwenden. Das ist viel sinn­lose Arbeit für nichts!“

Die poli­ti­sche Lobby fehlt

Nicht nur die Kantone können für diese Situa­tion verant­wort­lich gemacht werden, sondern auch der Bund. Doch wieso der Bund keine einheit­liche Rege­lung bezüg­lich der erfor­der­li­chen Arbeits­be­mü­hungen in Zeiten von Corona erlassen hat, möchte oder kann die Medi­en­stelle des Staats­se­kre­ta­riats für Wirt­schaft (SECO) nicht erklären. Auf Anfrage von das Lamm schreibt die Medi­en­spre­cherin Nadine Mathys nur: „Es liegt in der Kompe­tenz des Bundes­rates und nicht des SECO, eine Verord­nung zu erlassen. […] Das SECO gibt während der Pandemie den Durch­füh­rungs­stellen der Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung (Kanto­nale Amts­stelle, RAV und Arbeits­lo­sen­kassen) aufgrund der Beschlüsse des Bundes­rates die Rahmen­be­din­gungen für ihre Voll­zugs­tä­tig­keit vor.“

Für die etwas konkre­tere Erklä­rung bedient sich das SECO desselben Wort­schatzes wie die kanto­nalen Ämter für Wirt­schaft und Arbeit: Abhängig von der betrof­fenen Branche sei die Suche nach einer zumut­baren Arbeits­stelle äusserst erschwert, und diesem Umstand solle ein hoher Stel­len­wert beigemessen werden. Und trotzdem: „Das primäre Ziel der raschen und dauer­haften Wieder­ein­glie­de­rung der versi­cherten Personen in den Arbeits­markt soll aller­dings weiterhin im Rahmen des Mögli­chen ange­strebt werden.“

Auffal­lend ist, dass von Seiten der Verwal­tung immer wieder dieselben Worte fallen: Gene­rell seien die Armuts­be­trof­fenen selbst verant­wort­lich, und man müsse die Situa­tion indi­vi­duell anschauen. Eine indi­vi­du­elle Betrach­tung der Situa­tion ist begrüs­sens­wert, wenn es darum geht, beson­ders bedürf­tige Personen gemäss ihrer Möglich­keiten zu unter­stützen. Wenn jedoch eine ganze Rand­gruppe unter denselben Umständen leidet, würde sich eine allge­mein­gül­tige Lösung anbieten – insbe­son­dere, um Willkür, Miss­ver­ständ­nisse und Ungleich­heit möglichst zu vermeiden.

Gemacht wurde das denn auch für KMU, Selbst­stän­dige in etli­chen Bran­chen und endlich auch Kinder­ta­ges­stätten. Wieso wurden genau Armuts­be­trof­fene aussen vor gelassen – oder gar vergessen?

Die Antwort ist simpel: Weil Armuts­be­trof­fene keine poli­ti­sche Lobby haben, die einen Einfluss auf die Mass­nah­men­füh­rung zur Eindäm­mung des Coro­na­virus ausüben könnte. Geld in KMU zu stecken macht wirt­schafts­tech­nisch Sinn. Selbst­stän­dige zu unter­stützen (Stich­wort Kauf­kraft) auch. Doch Armuts­be­trof­fenen ein Taggeld zu geben, damit sie keine Bewer­bungen verschicken? Unrentabel.

Das Ironi­sche daran: Genau die Stellen, die gemäss eigenen Aussagen einen grossen Wert darauf legen, dass beim RAV gemel­dete Personen möglichst schnell den Weg zurück ins Arbeits­leben finden, erschweren den Personen diesen Schritt. Durch miss­ver­ständ­li­ches Beam­tin­nen­deutsch, reali­täts­ferne Vorgaben und fehlendes Einfüh­lungs­ver­mögen werden Armuts­be­trof­fene gar in die entge­gen­ge­setzte Rich­tung gedrängt und stehen mit diesem Problem gröss­ten­teils allein da.

Immerhin geben nicht­staat­liche Orga­ni­sa­tionen wie das Kafi Klick nicht auf. „Wir veran­stalten am 20. Juni einen Akti­onstag, um aufzu­zeigen, wie Armuts­be­trof­fene und prekär Ange­stellte in dieser Krise erst recht unter die Räder gekommen sind. Wir wollen öffent­li­chen Druck ausüben“, sagt Marthaler.

*Namen von der Redak­tion geändert.


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