Platte Pneus: Nicht nur die Aktivist*innen brechen das Gesetz

Immer öfters wird bei SUVs im Namen des Klima­schutzes die Luft aus den Pneus gelassen. Die Polizei rät den Betrof­fenen zu einer Anzeige. Doch wenn es um grosse Autos geht, sind die Lüftler*innen nicht die Einzigen, die sich nicht an das Gesetz halten. Auch die Autohändler*innen müssen millio­nen­starke Sank­tionen bezahlen. 
Wer hat sich zuerst nicht an die Regeln gehalten: Die SUVs oder die Tyre Extinguishers? (Illustration: Oger / ogercartoons.com)
Wer hat sich zuerst nicht an die Regeln gehalten: Die SUVs oder die Tyre Extinguishers? (Illustration: Oger / ogercartoons.com)

In Zürich hätten sie inner­halb von fünf Tagen bei 40 SUVs die Luft aus den Reifen gelassen, teilen die Tyre Extin­gu­is­hers auf ihrer Webseite mit. SUVs und Gelän­de­wagen seien eine Kata­strophe für unsere Gesund­heit, unsere öffent­liche Sicher­heit und unser Klima. „Da Regie­rungen und Politik versagt haben, uns vor dieser Gefahr zu schützen, müssen wir uns selbst schützen“, schreiben die Tyre Extinguishers.

Die Mitglieder der erst im März dieses Jahres entstan­denen Bewe­gung haben sich zum Ziel gesetzt, Klima­gas­emis­sionen zu verhin­dern, indem sie bei schweren Gelän­de­wagen die Luft aus den Pneus lassen. Die Pneus werden dabei nicht beschä­digt. Und damit die Besitzer*innen sich nicht mit einem platten Reifen in den Verkehr einreihen, lassen die Tyre Extin­gu­is­hers einen Info­brief auf der Front­scheibe zurück.

ACHTUNG – Ihr Sprit­fresser ist tödlich.

Wir haben bei einem oder mehreren Ihrer Reifen die Luft abgelassen.

Sie werden wütend sein. Aber nehmen Sie es nicht persön­lich. Es liegt nicht an Ihnen, sondern an Ihrem Auto.

Wir haben dies getan, weil das Herum­fahren in städ­ti­schen Gebieten mit einem riesigen Fahr­zeug enorme Folgen für andere hat.

Die Auto­kon­zerne versu­chen, uns davon zu über­zeugen, dass wir grosse Autos brau­chen. Aber SUVs und Gelän­de­wagen sind eine Kata­strophe für unser Klima. SUVs sind die zweit­grösste Ursache für den welt­weiten Anstieg der Kohlen­di­oxid­emis­sionen in den letzten zehn Jahren – mehr als die gesamte Luftfahrtindustrie.

Die Welt steht vor einem Klima­not­stand. Nach Angaben der UNO sterben bereits Millionen von Menschen an den Folgen des Klima­wan­dels – Dürre, Wirbel­stürme, Über­schwem­mungen, erzwun­gene Migra­tion, Hunger. Bislang sind die Auswir­kungen auf Sie wahr­schein­lich minimal gewesen. Wir brau­chen Sofort­mass­nahmen, um die Emis­sionen zu redu­zieren. Wir nehmen die Mass­nahmen selbst in die Hand, weil unsere Regie­rungen und Politiker*innen dies nicht tun.

Selbst wenn die Auswir­kungen auf Menschen, die weit von Ihnen entfernt sind, Sie nicht kümmern, gibt es auch Konse­quenzen für Ihre Nachbar*innen. SUVs verur­sa­chen mehr Luft­ver­schmut­zung als klei­nere Autos. Bei Zusam­men­stössen mit SUVs werden eher Menschen getötet als bei normalen Autos. Psycho­lo­gi­sche Studien zeigen, dass SUV-Fahrer*innen im Stras­sen­ver­kehr eher zu Risiken neigen. SUVs sind unnötig und reine Eitelkeit.

Deshalb haben wir diese Mass­nahme ergriffen. Sie werden keine Schwie­rig­keiten haben, sich ohne Ihren Sprit­fresser fort­zu­be­wegen, sei es zu Fuss, mit dem Fahrrad oder mit öffent­li­chen Verkehrsmitteln.

Die Bewe­gung, als deren Teil sich die Zürcher Gruppe versteht, kommt ursprüng­lich aus Gross­bri­tan­nien. Die Akti­ons­form hat sich mitt­ler­weile über den ganzen Globus verteilt. Wobei Zürich neben Bristol ein Hotspot der Tyre Extin­gu­is­hers zu sein scheint: Bereits in zwei Wellen wurde bei mehreren Dutzend SUVs die Luft abge­lassen. Anfang April fanden die ersten SUV-Fahrer*innen ihre Fahr­zeuge mit platten Reifen vor. Mitte Mai kam es zur zweiten Welle.

„Die Polizei erstellt in diesen Fällen Rapporte mit den Tatbe­ständen ‚Nöti­gung‘ und ‚Sach­be­schä­di­gung‘ “, antwortet die Stadt­po­lizei Zürich auf unsere Frage, was den Klimaaktivist*innen für diese Aktion zur Last gelegt werden kann. Nöti­gung, weil die SUV-Besitzer*innen daran gehin­dert werden, ihr Auto zu brau­chen, wie sie wollen. Sach­be­schä­di­gung, weil beim Wegfahren mit einem Platten die Reifen oder Felgen beschä­digt werden könnten. Deshalb rät die Stadt­po­lizei laut einem Artikel des Tages­an­zei­gers den Betrof­fenen zur Anzeige.

Recht­lich mag das stimmen. Doch die Klimaaktivist*innen sind nicht die Einzigen, die das Gesetz brechen: Nur ein Bruch­teil der in die Schweiz impor­tierten Neuwagen erfüllt den aktuell in der Schweiz geltenden CO2-Grenzwert.

Auch die SUVs halten gesetz­liche Grenz­werte nicht ein

Der Verkehr ist laut Bundesamt für Umwelt für rund ein Drittel der Schweizer Klima­gas­emis­sionen verant­wort­lich. Perso­nen­wagen verur­sa­chen 72 Prozent der Verkehrs­emis­sionen. Emis­sionen, die immense Sach­schäden, Einschrän­kungen und Kosten für alle Menschen mit sich bringen. Diese Emis­sionen sollen redu­ziert werden, und zwar mit einem CO2-Grenz­wert für den Import von Neuwagen.

Laut dem aktu­ellen CO2-Gesetz liegt dieser Grenz­wert für Perso­nen­wagen seit 2020 bei 95 Gramm CO2/km. Die Branche ist jedoch weit davon entfernt, diesen Wert einzu­halten. Laut dem aktu­ell­sten Neuwa­gen­be­richt lag der durch­schnitt­liche Emis­si­ons­wert der impor­tierten Neuwagen 2020 bei 123.6 Gramm CO2/km.

Damit liegt er zwar rund 10 Prozent unter­halb desselben Werts von 2019 (138.1 Gramm CO2/km). Was aber nach einer Reduk­tion aussieht, kommt in Tat und Wahr­heit nur dadurch zustande, dass die vielen neu zuge­las­senen Elek­tro­autos den Schnitt runter­ziehen. Ohne deren nume­ri­schen Einfluss hat der durch­schnitt­liche Emis­si­ons­wert gegen­über 2019 sogar erneut zuge­nommen und betrug 2020 141.4 Gramm CO2/km.

Nur gerade etwa 20 Prozent der impor­tierten Perso­nen­wagen hielten 2020 den Grenz­wert von 95 Gramm CO2/km ein. Der Haupt­grund: Die Autos werden immer schwerer. Das durch­schnitt­liche Leer­ge­wicht von Neuwagen ist seit 1990 von 1’200 Kilo­gramm auf 1’700 Kilo­gramm im Jahr 2020 ange­stiegen. Das Bundesamt für Energie kommt zum Schluss, dass die Ziele deut­lich verfehlt wurden.

Schön­rechnen erlaubt

Das hat auch Folgen für die Auto­branche: Impor­tieren die Autohändler*innen zu emis­si­ons­in­ten­sive Neuwagen, werden sie mit Sank­ti­ons­zah­lungen zur Kasse gebeten. Dabei zahlen sie jedoch nicht für jeden einzelnen Import­wagen, der den Grenz­wert über­schreitet, eine Busse. Ausschlag­ge­bend ist der Emis­si­ons­durch­schnitt der gesamt­haft impor­tierten Auto­flotte. Diesen Durch­schnitt dürfen sich die Autoimporteur*innen noch bis Ende dieses Jahres offi­ziell schön­rechnen – und zwar mit den soge­nannten Phasing-ins und Super­cre­dits.

Das Phasing-in erlaubt den Importeur*innen, dass sie nur einen Teil der impor­tierten Flotte bei der Berech­nung des Durch­schnitts berück­sich­tigen müssen. 2020 konnten die Autohändler*innen die 15 Prozent klima­schäd­lich­sten Autos aus der Rech­nung strei­chen. 2021 die schlimm­sten 10 Prozent. Auf das laufende Jahr hin wurde das Phasing-in abge­schafft.

Anders bei den Super­cre­dits: Damit können die Autohändler*innen auch noch im aktu­ellen Jahr ihren Flot­ten­schnitt beschö­nigen, indem sie beson­ders effi­zi­ente Fahr­zeuge mehr­fach zählen dürfen.

Einfüh­rungs­er­leich­te­rungen für Personenwagen2020202120222023
Phasing-in [Anteil sank­ti­ons­re­le­vanter Fahrzeuge]85%90%100%100%
Super­cre­dits [Gewich­tung für Fahr­zeuge mit weniger als 50 Gramm CO2/km]2‑fach1.67-fach1.33-fach1‑fach
Quelle: CO2-Verord­nung (Art. 27)

Sank­ti­ons­zah­lungen werden in Kauf genommen

Aber auch mit diesen Beschö­ni­gungen durch Phasing-ins und Super­cre­dits schaffen es nicht alle Autoimporteur*innen, den gesetz­lich fest­ge­legten Grenz­wert einzu­halten. 132 Millionen Straf­geld mussten die Autoimporteur*innen 2020 bezahlen. Dieses Geld fliesst in den Natio­nal­strassen- und Agglo­me­ra­ti­ons­ver­kehrs­fonds (NAF) und wird dementspre­chend für Betrieb, Unter­halt und Ausbau von Strassen eingesetzt.

Die Autoimporteur*innen können sich zur Berech­nung des Flot­ten­schnitts zu soge­nannten Emis­si­ons­ge­mein­schaften zusam­men­schliessen. Die mit Abstand höch­sten Sank­tionen musste die Emis­si­ons­ge­mein­schaft „VW Gruppe und Porsche“ bezahlen: satte 111 Millionen CHF. Zu dieser Emis­si­ons­ge­mein­schaft gehört auch die AMAG Import AG, eines der grössten Auto­mo­bil­un­ter­nehmen der Schweiz*.

Auf die Frage, weshalb man bei der AMAG nach wie vor auf emis­si­ons­starke Autos setzt, schreibt uns die Auto­händ­lerin Folgendes: „In einer freien Markt­wirt­schaft entscheidet der Kunde, die Kundin, welches Produkt er/sie kaufen will.“ Es handle sich bei allen verkauften Fahr­zeugen um zuge­las­sene Produkte, die alle gesetz­li­chen Vorgaben in Sachen Sicher­heit und Emis­sionen erfüllen würden. Das mag sein. Im Durch­schnitt sprengte die von der AMAG impor­tierte Flotte den gesetz­li­chen Grenz­wert jedoch klar.

Was hat diese ganze Rech­nerei nun mit den Klimaaktivist*innen und den platten SUV-Reifen zu tun? Eine ganze Menge: Denn hätten sich die Autoimporteur*innen an den gesetz­li­chen Grenz­wert für CO2-Emis­sionen gehalten, hätten die Tyre Extin­gu­is­hers Mühe, auf den Zürcher Strassen genü­gend SUVs für ihre Aktionen zu finden.

Gesetze sind dafür da, die Gesell­schaft zu schützen. Nicht nur vor Nöti­gung oder Sach­be­schä­di­gung, sondern auch vor der Klima­krise mit ihren Hitze­wellen und Fluten. Sank­tionen sollten dafür sorgen, dass Gesetze einge­halten werden. Wenn die Autohändler*innen aber lieber Buss­gelder in Millio­nen­höhe hinlegen, anstatt sich an das Gesetz zu halten, dann erfüllt ein Gesetz seine Funk­tion offen­sicht­lich nicht.

Nicht nur die Klimaaktivist*innen halten sich nicht ans Gesetz, sondern auch die Autoimporteur*innen. Während Erstere damit das Klima retten wollen, geht es Letz­teren jedoch nur darum, ihren eigenen Profit zu maximieren.

*Update (23.6.22): Nun sind die Daten für die Auto­im­porte im Jahr 2021 öffent­lich. Auch für das Jahr 2021 kommt das Bundesamt für Energie zum Schluss, dass die Ziel­werte deut­lich verfehlt wurden. Der Anteil an neu zuge­las­senen Allrad-Fahr­zeugen hat zwar gegen­über der Erhe­bung von 2020 leicht abge­nommen. Weiterhin machen die Allrad-Fahr­zeuge aber knapp 50% aller neu zuge­las­senen Fahr­zeuge aus. Die Sank­ti­ons­zah­lungen sind auf 28 Millionen zurück gegangen. Mit 21 Millionen fällt weiterhin der grösste Teil der Sank­tionen bei der Emis­si­ons­ge­mein­schaft «VW Gruppe und Porsche» an, zu welcher die AMAG gehört.


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