Die vermeintlich neutrale Perspektive des einfachen Chronisten interessiere ihn nicht, teilt Christian Labhart gegenüber das Lamm mit. Das merkt man dem neuen Film des Schweizer Regisseurs an. „Suspekt“ heisst das Werk, und es besteht im Wesentlichen aus einem langen Interview mit dem linken Zürcher Anwalt Bernard Rambert, gespickt mit Archivaufnahmen zu seinen wichtigen Fällen.
Rambert, der heute 77 Jahre alt ist, wurde über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt als Rechtsvertreter linker und linksradikaler Aktivist*innen und ist selbst aktiv für die linke Sache. Er war Mitbegründer des Zürcher Anwaltskollektivs und des Komitees gegen Isolationshaft, aus dem später der Revolutionäre Aufbau Zürich hervorging.
Die „nicht neutrale Erzählperspektive durchzuziehen“ ist für Labhart, wie er schreibt, „insofern ein legitimer Entscheid, als er die ungleichen Machtverhältnisse widerspiegelt, gegen die Bernard Rambert sein Leben lang gekämpft hat.“
Ein Überblick über die linke Schweiz
Entsprechend begegnet der Film Bernard Rambert und seiner Politik wohlwollend, zuweilen aber auch etwas unkritisch. Hinzu kommt mit Julia Klebs eine Interviewerin, der man als Herausgeberin des linken Widerspruch-Magazins ebenfalls eine gewisse politische Sympathie für Rambert zuschreiben darf. Das Ergebnis ist ein interessanter, oft berührender Überblick über die linke Schweiz am Beispiel der Biographie eines ihrer wichtigen Exponenten.
Brian Keller ist der Beweis, dass es linke Anwälte im Schweizer Justizsystem braucht.
Zu Beginn wie auch in den meisten folgenden Szenen sitzt Rambert in einem Atelier und beantwortet die von Klebs gestellten Fragen mit würdevoller Gelassenheit. Er spricht ruhig in die Kamera und setzt seine Gesten, ganz Anwalt, mit der Präzision eines Menschen, der es gewohnt ist, komplizierte Sachverhalte vor kritischem Publikum zu verteidigen.
Die beiden Gesprächspartner*innen gehen chronologisch durch sein Leben und streifen alle wichtigen Stationen linker Opposition in der Schweiz, darunter auch einen Fall, den man in diesem Kontext vielleicht gar nicht erwartet hätte: den Fall von Brian Keller. Auch ihn hat Rambert vertreten.

Dieser Einstieg ist gelungen, denn schon die kurze Szene mit Brian Keller – auch wenn sie leider kaum konkrete Informationen liefert – macht klar, was uns das alles heute noch sagen soll. Keller ist der Beweis, dass es linke Anwälte im Schweizer Justizsystem braucht. Sie waren es, die auch einem aus der bürgerlichen Gesellschaft Ausgestossenen zugehört haben, um grosses Unrecht zu beenden.
Das Private ist politisch
Wesentlich ausführlicher als den Fall von Brian K. beschreibt Rambert einen weiteren prägenden Moment seiner Biographie. Sein Vater war Verwaltungsrat der Elektrowatt AG und Mitverantwortlicher auf der Staudamm-Baustelle Mattmark. Dort ereignete sich 1965 einer der schwersten Arbeiterunfälle in der Geschichte der Schweiz. Bei einem Gletscherabbruch wurden 88 Menschen, darunter viele sogenannte Gastarbeiter aus Italien, verschüttet und starben.
Labhart öffnet damit einen emotionalen Zugang zu radikal linker Politik, die sich sonst mit ihrer Theorielastigkeit gerne selbst im Weg steht.
Schon damals war klar, dass die Arbeiterbaracken niemals so dicht unter dem Gletscher hätten errichtet werden dürfen. Trotzdem wurden die Verantwortlichen, darunter auch Bernard Ramberts Vater, mit dem Argument freigesprochen, es hätte sich um eine Naturkatastrophe gehandelt: Klassenjustiz eben. Rambert fällt es offensichtlich schwer, über Verantwortung und Schuld seines eigenen Vaters zu sprechen. Der geübte Rhetoriker gerät tatsächlich für einen Moment ins Stocken, eine starke Szene.
Wie hier, wechselt der Film immer wieder gekonnt zwischen Politik und persönlichem Schicksal. Er macht aus Rambert einen nahbaren Protagonisten und öffnet damit einen emotionalen Zugang zu radikal linker Politik, die sich sonst mit ihrer Theorielastigkeit gerne selbst im Weg steht.
Wie es war, dem Freispruch des Vaters beizuwohnen, fragt Klebs. „Das hat mich persönlich für ihn gefreut“, sagt Rambert im Bewusstsein, dass den Arbeitern damit jede Chance auf Gerechtigkeit genommen wurde. „Das sind halt so die Widersprüche im Leben“, fährt er fort. Und es sind, möchte man anfügen, biographische Widersprüche, aus denen spannende Filme gemacht werden. Labhart kommt seinem Protagonisten hier sehr nahe. Und das ist gut so.
Das Private bleibt problematisch
Problematisch ist diese politische und emotionale Nähe zwischen dem Filmemacher und seinem Protagonisten, wenn es um Fälle geht, die allzu sehr der Politik ihrer Zeit verhaftet bleiben. Dann wird aus der Nähe schnell eine etwas naive Kritiklosigkeit, die auch Klebs mit ihren Fragen nicht wettmachen kann oder will. Besonders deutlich beim Thema Linksterrorismus.
Auf die Frage, was die Gründe revolutionärer Gewalt im Europa der 60er und 70er-Jahre waren, spielt Rambert umständlich auf die Theorie von den NATO-Stay-Behind-Organisationen an. Das sollen von der NATO inoffiziell unterstützte Gruppen gewesen sein, die bei einem Einmarsch des Warschauer Pakts den Partisanenkampf für die westliche Ordnung zu leiten hatten. Bis dahin – so die Theorie – hätten sie zum Beispiel mit False-Flag-Operationen gegen Links gekämpft.
Rambert wiederholt die verbreitete These, diese Gruppen seien für Anschläge verantwortlich gewesen, die dann der militanten Linken in die Schuhe geschoben wurden. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Verschwörungstheorie handelt oder nicht, wirkt eine solche Behauptung aus dem Mund eines Linksradikalen wie einfache Schuldabwehr.
Der Film tut so, als wäre in den letzten Jahrzehnten keine Aufarbeitung geschehen.
Hier versucht einer die Verantwortung für viel Gewalt mit oft kruden Zielen auf eine dunkle Schattenarmee abzuwälzen, um sich nicht mit den Verfehlungen der eigenen Leute auseinandersetzen zu müssen. Etwa mit der antisemitischen Stossrichtung vieler Gewaltaktionen in Deutschland – es sei an den Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin erinnert –, oder den so sinnlosen wie verheerenden Versuchen der RAF, ihren Macho-Guru Andreas Baader freizubomben.
Kritische Nachfragen von Klebs oder dokumentarisches Material, das helfen könnte, einzuordnen und zu hinterfragen, fehlen weitgehend. Der Film tut so, als wäre in den letzten Jahrzehnten keine Aufarbeitung geschehen.
Über Politik und politisierte Justiz
Zum Glück bleiben derlei nostalgische Verfehlungen in „Suspekt“ die Ausnahme. Meistens zeigt sich Rambert reflektiert und selbstkritisch. Zum Beispiel, wenn der Film mit Marco Camenisch einen von Ramberts bekanntesten Klienten aufgreift. An seinem Fall arbeitet das Team die interessanten Aspekte der Funktion eines systemkritischen Anwalts heraus und untersucht die Fallstricke und Problemstellungen eines politisch geführten Verfahrens.

Camenisch, heute auch schon über siebzig, war Zeit seines Lebens Anarchist. Er sass als militanter Kernkraftgegener für mehre Anschläge auf Strommasten im Gefängnis, brach 1981 aus der Haftanstalt Regensburg aus, tauchte unter, kam wieder in Haft. In Zusammenhang mit seiner Flucht wurde ein italienischer Zollbeamter erschossen. Rambert verteidigte Camenisch im Strafverfahren gegen den Vorwurf, selbst den Abzug betätigt zu haben.
In Hinblick auf dieses Verfahren fragt Julia Klebs, ob ein Anwalt lügen darf. Eine interessante Frage, wenn man bedenkt, dass Rambert sich in seiner Anwaltstätigkeit immer auch als Aktivist versteht, der nicht nur für den Freispruch des Mandanten, sondern auch für seine eigene politische Wahrheit kämpft.
„Ob ein Verfahren politisch wird, entscheidet nicht der Anwalt, sondern die Strasse.“
Bernard Rambert
Wer würde da überhaupt lügen? Der Aktivist? Der Anwalt? Und verliert die Politik ihre Glaubwürdigkeit, wenn der Anwalt im Namen seines Mandanten die Unwahrheit sagt? „Das ist nicht lügen“, antwortet Rambert mit Blick auf die vielen kleinen Tricksereien und Auslassungen, derer sich ein Anwalt vor Gericht bedienen muss. „Es ist das Spiel der Justiz, das man bis zu einem gewissen Grad mitspielen muss.“ Rambert versucht gar nicht erst, sich das Dilemma schön zu reden.
Überhaupt liege das eigentliche Problem politisch motivierter Justizarbeit ganz woanders. Denn ob ein Verfahren politisch werde, entscheide nicht der Anwalt, sondern die Strasse. „Wenn ich allein mit meiner Mandantin vor Gericht stehe, sind wir zwei ein Nichts. Wenn aber draussen eine grosse Bewegung ist, dann findet eine politische Auseinandersetzung statt.“ Solche spannenden Überlegungen zu Justiz, Politik und politisierter Rechtssprechung beschäftigen auch nach dem Ende des Films weiter.
Das gleiche gilt für den Einblick in den Schweizer Fichenstaat. Rambert wurde vierzehn Jahre lang von staatlichen Stellen überwacht, seine Post wurde geöffnet, der Eingang zu seinem Büro gefilmt. Natürlich geht diese bis ins Private reichende Bespitzelung nicht spurlos an einem Menschen vorüber. Entsprechend lässt der Film seinem Protagonisten viel Raum für die eigenen Gefühle und Befindlichkeiten. Manchmal, sagt Rambert, wäre er gerne Lastwagenfahrer geworden. Unterwegs auf den Strassen Europas, schweigen, einsam sein. Man würde es ihm von Herzen gönnen.
Eine solche emotionale Nähe in einer Interview-Dokumentation herzustellen ist eine grosse künstlerische Leistung. Sie bleibt aber auch ein Problem. Denn der Film kommt seinem Protagonisten oft so nahe, dass er die politischen und biographischen Details, die für ein Verständnis der angeschnittenen Fälle wichtig wären, aus dem Auge verliert.
Radikale Aufrichtigkeit gegen Populismus
Trotzdem ist „Suspekt“ mehr als ein historischer Abriss der Schweizerischen Protestgeschichte mit sympathisch nahbarem Personal. Das macht sich am Ende bemerkbar, wenn Julia Klebs kritischer wird und doch noch die linksradikale Gretchenfrage stellt: Wie halten Sie’s mit der Gewalt?

Ramberts Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Ich verabscheue Gewalt. Es gibt keine gute und schlechte Gewalt. Dem Opfer ist es egal, woher die Gewalt kommt.“ Nur um sich selbst gleich wieder in Frage zu stellen. Wahrscheinlich, fährt er fort, lässt sich die Eigentumsfrage in einer kapitalistischen Gesellschaft eben nicht ohne Gewalt klären.
Was das Publikum da miterlebt, ist radikale Politik im Dialog mit sich selbst. Anders gesagt: Selbstkritik, die nicht in altersmilde Liberalität mündet, sondern Fragen aufwirft und zu den Widersprüchen steht. So kann Radikalität auftreten, ohne sich mit Populismus und Lügen unangreifbar zu machen, wie es auch der Linken nicht fremd ist.
„Suspekt“ zeigt, dass es anders geht. Was es dazu braucht? Linke Radikalität – und Personen, die bereit sind, ihre Überzeugungen mit würdevoller Souveränität zu vertreten, ohne zu lügen, ohne zu beschönigen. Rambert macht’s – mit wenigen Ausnahmen – vor.
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