In Zeiten zunehmender politischer Polarisierung und wachsendem Populismus stellt man sich als Journalist*in zwangsläufig die Frage: Wie kann über reale Ängste und Vorkommnisse berichtet und dennoch nicht gehetzt und generalisiert werden? Sexuelle Belästigung, Vergewaltigung oder Femizide durch Asylsuchende oder Migranten sind ein solches Thema, bei dem der Grat zwischen differenzierter Betrachtung und Relativierung einerseits und Rassismus andererseits ein schmaler ist.
Es ist dennoch für einen wachen Journalismus elementar, es zu wagen, denn die politische Instrumentalisierung sexueller Übergriffe durch Asylsuchende und Flüchtende von rechts und die Übernahme solcher Positionen durch die Presse dient weder den Frauen, die gemäss dieser Instrumentalisierung geschützt werden sollten, noch dem Gros der Gesellschaft, die durch gezielte politische und mediale Hetzkampagnen verunsichert wird. Und erst recht nicht der heterogenen Gruppe der asylsuchenden Männer, die durch solche Argumentationen nicht nur zu einer Distanzierung und Stellungnahme gezwungen werden, die von keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe erwartet wird, sondern auch unter einen Generalverdacht geraten.
Der falsche Frauenschützer von Herrliberg; einer von vielen
Bestes Beispiel für eine solche Instrumentalisierung sind die Ereignisse am diesjährigen Wiener Silvester. Eine junge Frau wird von einem Mann am Po angefasst, der vorher scheinbar schon mehrere umherstehende Frauen ebenfalls begrapscht haben soll. Die junge Frau kommt aus der Schweiz. Sie zögert nicht lange und quittiert den Übergriff des 20-jährigen ‚Grapschers‘ mit einem reflexartigen Faustschlag, der in einer gebrochenen Nase beim Täter endet. Die Geschichte schafft es ganz gross in die Zeitungen hierzulande, schliesslich ist der Grapscher, wie investigative Boulevard-Journalistinnen schon bald herausfinden, ein Afghane.
Der Fall schlägt immer höhere Wellen und erreicht schliesslich auch die Ufer von Herrliberg. SVP-Übervater Christoph Blocher brüstet sich im hauseigenen Blocher-TV mit seiner Grossmütigkeit und verspricht der Dame, allfällige Verfahrenskosten zu übernehmen, sollte es zu einer Anzeige kommen, denn es handelt sich beim Faustschlag um ein Offizialdelikt. Vergleichbare Fälle in der Vergangenheit legen jedoch einen Freispruch sehr nahe.
So oder so, die versprochene finanzielle Hilfe, das macht sich gut. Christoph Blocher, der Robin Hood des handgreiflichen Feminismus also? Nicht ganz. Wohl eher: Christoph Blocher, der Opportunist. Die SVP hat sich 2017 mit grosser Mehrheit gegen die Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt gestellt. Blochers Partei war auch die einzige, die gegen die Aufhebung der gesetzlichen Lücke betreffend die Vergewaltigung in der Ehe votiert hatte und deren Exponenten immer wieder Witze über sexualisierte Gewalt machen, Sexualstraftaten verharmlosen, sich die Frau ohne Stimm- und Abtreibungsrecht zurück an den Herd wünschen und mit vielen weiteren latenten bis sehr offenen Beispielen für Antifeminismus auffallen.
Frauenschutz geht anders. Diese Politik offenbart aber, wie viel der Schutz der Frauen vor sexueller, häuslicher und sonstiger Gewalt wirklich zählt, wenn sich daraus nicht politisches Kapital schlagen lässt: wenig.
Gemessen wird mit zwei verschiedenen Ellen, berichtet mit zwei Standards
Der Wiener Fall ist ein vergleichsweise mildes Beispiel, zumindest was den Grad der Straftat betrifft, denn sexuelle Straftaten oder Gewaltverbrechen mit sexueller Konnotation, verübt durch Asylsuchende und Flüchtende, sorgen immer wieder für Schlagzeilen. Man denke nur an den Kölner Silvester 2016 oder an die Ermordung der jungen Tramperin und aktiven Antifaschistin Sophia L. durch einen marokkanischen LKW-Fahrer vergangenen Sommer. Oder an die Nachrichten über Massenvergewaltigungen durch Asylsuchende, die es immer wieder aus anderen europäischen Ländern auf die Titelblätter hiesiger Zeitungen schaffen.
Diese Straftaten sind schrecklich, sind verurteilenswert und müssen konsequent im Rahmen eines funktionierenden Rechtsstaates geahndet und aufgeklärt werden. Aber sie dürfen nicht für politische Propaganda und Hass missbraucht oder für die Quote in Gratisblättern gemolken werden. Das bedeutet zum Beispiel: Bei ‚hiesigen‘ Tätern wird oftmals der Kontext thematisiert, eine schwere Kindheit etwa, Mobbingerfahrungen oder ein Hass auf Frauen. Ist der Täter jedoch ein Asylsuchender oder Migrant, dreht sich die Berichterstattung oftmals um eine einzige Variable: die Herkunft. Werden Übergriffe auf eine einzelne Variable reduziert, erleichtert dies die politische Vereinnahmung solcher Straftaten, trägt jedoch wenig zu deren Aufklärung und Vermeidung bei.
„Ich bin Mia – ich wurde ermordet“
Im vergangenen Sommer sorgte ein Video für Furore, worin mehrere junge Frauen immer wieder drei Namen wiederholen: Mia, Maria, Ebba. Die Frauen im Video gehören einer Bewegung an, die sich 120 Dezibel nennt. Sie sagen: „Wir sind die Töchter Europas!“
Mia, Maria und Ebba – das sind drei weibliche Opfer von sexueller und sexualisierter Gewalt beziehungsweise Tötungsdelikten, mutmasslich verübt durch migrantische Männer. Die Message des Videos: Was denen widerfahren ist, das bedroht uns alle – solange Gewalt weiterhin „nach Europa importiert wird“. Hinter dem Video: die Identitäre Bewegung Deutschland, eine rechtsextreme Gruppierung mit Ablegern in Österreich und der Schweiz.
120 Dezibel ist die Lautstärke eines handelsüblichen Taschenalarms, wie ihn gemäss den Initiatorinnen des Videos immer mehr Frauen aus Angst auf sich tragen würde. „Der wahre Aufschrei“ heisst das Projekt mit Untertitel, und der Name impliziert bereits die Stossrichtung: Importierte Gewalt ist das Problem – nicht Gewalt gegen Frauen per se. Was feministisch und ermächtigend daherkommt, ist in Tat und Wahrheit xenophobe, meist islamophobe und gezielte Propaganda. In welche Richtung die Gesinnung zielt, wird unter anderem auf der Facebookseite von 120dB ersichtlich, wo Angela Merkel in den unmoderierten Kommentaren mit dem Tod bedroht wird, Vergewaltigungsfantasien gegenüber Politikerinnen aus dem Inland und der EU geäussert werden und zu Selbstjustiz mit dem Gewehr aufgerufen wird. „Merkels Tote“ sind die ermordeten Frauen gemäss vielen Kommentator*innen.
Durch Hass zur Entmündigung
Problematisch ist hierbei nicht die Empörung über eine untätige Politik – problematisch ist die Richtung, welche sie nimmt. Die Opfer werden politisch instrumentalisiert – eine richtige Diskussion um Sexualdelikte, misogyne Handlungen und tatsächliche Fehler in der Justiz werden umgangen und ausgelassen. Indem Täter auf ihre Herkunft reduziert werden, gehen andere Variablen verloren, die es brauchen würde, um Fälle in einen Kontext zu setzten – und somit letztendlich zu vermeiden. Die Frage nach dem Warum, die Machtfrage, Sozialisationsmechanismen, Marginalisierung, toxische oder fragile Männlichkeit wird ausser Acht gelassen, genauso wie sozioökonomische oder demografische Variablen.
Diese Zugangsweise verfehlt die Chance auf konstruktiven Diskurs über diese Übergriffe und somit auch die Chance, Strategien zu erarbeiten, wie diese Gesellschaft zu einer für Frauen und Mädchen sichereren wird – ganz egal, wer dabei als potenzieller Täter gilt.
Stattdessen wird ein „Wir gegen die“-Diskurs befeuert. Ausländerfeindlichkeit und Rassismus scheinen die einzigen Antworten auf die Frage nach dem Frauenschutz zu sein, zu denen Rechts in der Lage ist. Aber ein Feminismus mit brauner Färbung ist eine verfehlte Emanzipationspolitik und eine Schutzkampagne mit fremdenfeindlichem Einschlag marginalisiert die von sexueller Gewalt und Belästigung betroffenen Frauen weiter, macht sie zu unmündigen Subjekten und Spielbällen einer ausgrenzenden Politik mit unabsehbaren Folgen. Solch perfiden Opportunismus auf dem Rücken der Opfer gilt es zu enttarnen.
Es ist nicht nur an den Frauenverbänden sondern auch an der Politik und der Polizeikommunikation, an den Journalist*innen, Medienhäusern und Kunstschaffenden, wie jenen aus dem Maxim Theater, wo gerade ein Stück zum Thema aufgeführt wird, ganz klar Stellung zu beziehen und die Diskussion um „vergewaltigende Flüchtlinge“ nicht weiter in eine Richtung zu treiben, wo sie nur jenen nützen, die für Frauenrechte ansonsten nicht viel übrig haben.
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