7:00 Uhr, Mail von Lena: Sorry Frau Zukker, ich habe den Eisprung und komme heute nicht in die Schule. Was antwortet man da? Liebe Lena, ich menstruiere gerade und habe überhaupt keine Lust zu unterrichten! Oder: Liebe Lena, lieber Eisprung als schwanger, gell. Oder: Liebe Lena, das ist kein Grund dem Unterricht fern zu bleiben. Wie willst du so eine Lehrstelle finden, hä? Nein. Man schreibt: Liebe Lena, vielen Dank für deine Mail. Ich werde Jasmin die Arbeitsblätter für dich geben. Liebe Grüsse, Nora.
Unterrichten lenkt vom Wesentlichen ab
Einige KollegInnen, die schreiben, sagen gerne: Nein, also unterrichten könnt ich nicht. Das lenkt mich vom Wesentlichen ab, da falle ich aus der Konzentration, die ich fürs Schreiben brauche. Und wenn es mit den Förderbeiträgen weiterhin gut klappt, brauche ich sowieso keinen anderen Job. Das finde ich ziemlich gefährlich. Nicht zuletzt für die seelische Gesundheit dieser Menschen. So wird dann das Einkaufen zur Tagesaufgabe, die Rechnungen werden erst mit der zweiten Mahnung bezahlt und die Kopfschmerzen, die verdammten Kopfschmerzen vom Nachdenken, hören einfach nicht auf. Komisch, nicht?
Aber da ich eh nicht als „richtige“ Autorin durchgehe, weil mein Debüt noch immer nicht erschienen ist, muss ich es denen ja nicht nachmachen. Und sowieso: Weil mir einiges an mir liegt, will ich gerne gesund bleiben. AutorInnen, die in Interviews sagen, dass die besten Geschichten auf der Strasse liegen (aber selber nicht vor die Tür gehen), dürfen gerne einmal zu mir in die Schule kommen. Jeden Mittwoch. Es ist wohl was vom Allerbesten in meinem Alltag als freischaffende Autorin. Das Schreiben hat auch etwas Sinnstiftendes, zweifellos, aber junge Menschen ein Stück auf ihrem Weg zu begleiten, gibt mir das Gefühl wirklich etwas beizutragen.
Sie sind schlau, die jungen Menschen zwischen 16 und 20 Jahren. Denen kann ich nichts vormachen. Da werd ich morgens um acht Uhr im Klassenzimmer auch mal mit „Ui, Frau Zukker, sie sehen mega schlecht aus. Sind Sie krank?“ begrüsst. Oder: „Haben Sie einen Mann? Sie sind ja fast 32ig und da müssen Sie sicher auch langsam schauen, dass Sie nicht alleine bleiben. Also ist lieb gemeint, gell.“ Wenn diese Dinge geklärt sind, werden Kommaregeln gelernt, Bewerbungsschreiben geschrieben und Vorstellungsgespräche geübt. Allgemeinbildung ist mein Fach.
Vor und nach dem Unterricht
Was vor und nach dem Unterricht verhandelt wird, ist allerdings meine wirkliche Arbeit. Mut machen, zuversichtlich und ruhig bleiben, auch wenn das Leben bei den jungen Menschen richtig zuschlägt.
Zum Beispiel bei Anna. Sie ist seit 3 ½ Jahren mit ihrem Freund zusammen. Also seit sie 13 ist. Und jetzt will er nachdenken, weil er sich seiner Gefühle nicht mehr sicher sei. Seit sechs Wochen denke er jetzt schon nach und Anna hängt in der Luft. Und gestern schrieb er dann: Hey, du darfst mir ab jetzt wieder schreiben. Aber Anna will sich auf die Schule konzentrieren, sie liebt ihn, sie findet das, was sie zusammen haben im Moment ganz gut. Dann schaut sie mich mit grossen blauen Augen an und fragt, was sie machen soll.
Anna ist zwar erst 16 und ich könnte ihr sagen, dass sie in fünf Jahren denken wird, hach, was war das nur. Aber ich will sie ernst nehmen. Also erzähle ich ihr, dass es auch erwachsene Männer gibt, die nachdenken müssen und einen in den Schwebezustand schupsen. Dass auch erwachsene Männer sich ihrer Gefühle nicht sicher sind, und dass auch ich nicht mehr machen kann, als mich auf meine Dinge zu konzentrieren. Und ja keinen Druck aufbauen, weil sonst gehen sie, die Männer. Anna überlegt und fragt mich, ab wann man sich selber nicht mehr treu ist, ab wann man eine Entscheidung einfordern muss? Ich weiss es nicht und bleibe ihr eine Antwort schuldig. Anna bedankt sich und sagt, es sei tröstlich zu wissen, dass es nicht einfacher werde.
Dies gilt übrigens auch fürs Unterrichten, wie ich im Integrationsbetrieb mit Jugendlichen im Einzelsetting gelernt habe. Wer dort landet, weiss: Es ist fünf vor zwölf. 50 Prozent schaffen es, die anderen gehen dahin zurück, wo sie schnelles Geld verdienen.
Zum Beispiel Ben. 18, Südkurven-Fan, Kiosk überfallen und eine alte Frau niedergeschlagen. Einmal fragte er mich, ob sich Frauen zum 18. Geburtstag über ein Goldkettchen mit Engelanhänger freuen. Ich antwortete, das sei kindlich, schenk ihr lieber Unterwäsche und koch für sie. Danach hatte ich ihn auf meiner Seite und wir konnten an seinem Abschlussprojekt arbeiten. Er hatte dafür etwas utopische Ideen. Ein Film sollte es werden, der im Abaton gezeigt wird. Einen Wutausbruch später sah er dann allerdings ein, dass ein Videoprojekt mit dem Handy der bessere Einstieg ist. Aber das war ihm dann zu lame. Und überhaupt, was soll er denn in diesem Betrieb, er wolle doch gar nicht Elektriker werden. Er möchte schnell viel Geld verdienen.
Natürlich habe ich ihm gesagt, wie wichtig eine Erstausbildung ist, aber ich konnte ihm den Wunsch nach Geld, Mädchen und Party nicht aberkennen. Nur der Zeitpunkt sei jetzt halt eher blöd. Ben nahm sich zusammen, versprach mir vieles und machte grosse Fortschritte. Bis sich die Freundin trennte. Sein bester Freund hatte sie ihm ausgespannt. Ben wusste sich nicht zu helfen, war traurig, fand Traurigkeit aber unmännlich. Er war auf Krawall gebürstet, zettelte eine Schlägerei an und wurde von der Schule geschmissen.
Ein halbes Jahr später stieg er in die gleiche S‑Bahn wie ich und setzte sich gechillt zu mir ins Abteil. Kurz vor meiner Station zog er eine Plastiktüte mit Pillen aus seiner Hosentasche und schaute mich durchdringend an. „Ich mach dir einen Freundschaftspreis, ja?“ Wirklich überrascht war ich nicht, als er aus der anderen Hosentasche Hunderternoten zog und mir damit Luft zu fächerte. Ich stieg aus und liess ihn weiterfahren.
Wo Ben heute ist, weiss ich nicht. Ab und zu überleg ich mir schon, wie lange das mit dem schnellen Geld und den Mädchen bei Ben gut gehen wird. Das muss man als Lehrerin eben auch aushalten, weil es geht ja nicht um Rettung. Eines ist sicher; Ben wird nie ein Goldkettchen mit Engelanhänger verschenken.
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