Schweizer Natur­for­schung: Von kolo­nialen Samm­lungen zur Biopiraterie

Zehn­tau­sende von Tieren, Pflanzen und Gesteinen aus kolo­nialen Kontexten lagern in den Samm­lungen von Schweizer Museen und Univer­si­täten. Ihre Geschichte offen­bart die enge Verbin­dung zwischen Natur­wis­sen­schaften und Kolo­nia­lismus, die sich bis heute in der Forschung niederschlägt. 
Schon in der frühen Neuzeit reisten Schweizer Wissenschaftler*innen in die Kolonien anderer europäischer Länder, um Vergleichsmaterial zu sammeln: das Versuchslabor des Schweizer Botanikers Paul Jaccard. (ETH Bildarchiv, Dia 249 AS-031. Fotograf*in: Unbekannt)

Schmet­ter­linge aus dem Amazonas, Farne aus Ostafrika, Orang-Utans aus Borneo oder Fossi­lien aus Argen­ti­nien: Zehn­tau­sende Tier­prä­pa­rate, getrock­nete Pflanzen oder Gesteins­proben aus ehema­ligen Kolo­nien werden heute in den natur­hi­sto­ri­schen Samm­lungen von Schweizer Hoch­schulen und Museen gelagert. 

Doch wie gelangten sie über­haupt dorthin? Und welches Licht wirft ihre Geschichte auf die Kolo­nia­lität der Natur­wis­sen­schaften – gerade in der Schweiz?

Schweizer Samm­lungen und kolo­niale Gewalt

1891 brach der Schweizer Zoologe Conrad Keller gemeinsam mit dem italie­ni­schen Fürsten Ruspoli nach Soma­li­land auf, um die Flora und Fauna des aus euro­päi­scher Perspek­tive noch unbe­kannten Fleckens in Ostafrika zu studieren. Durch­ge­führt wurde die Expe­di­tion von David Morrison, einem ehema­ligen briti­schen Mari­ne­sol­daten, der als Kolo­ni­al­be­amter in das noch junge briti­sche Protek­torat berufen worden war.

Conrad Keller hatte zuvor in Lausanne, Zürich und Jena Zoologie studiert und arbei­tete ab 1875 an der Univer­sität und der ETH in Zürich als Privat­do­zent. Bereits 1885 hatte er eine von der Geogra­phi­schen Gesell­schaft Zürich finan­zierte Forschungs­expe­di­tion nach Mada­gaskar und Ostafrika durch­ge­führt, um dort Pflanzen- und Tier­prä­pa­rate zu sammeln.

Soma­li­land kannte er vor seiner Abreise 1891 nur aus Berichten. Er war also auf die Arbeit und das Wissen der lokalen Somali ange­wiesen, um das ihm unbe­kannte Terrain zu bereisen und lokale Tiere und Pflanzen ausfindig zu machen. So beglei­tete ihn eine Expe­di­ti­ons­ka­ra­wane, die 39 Kamele, 28 Soldaten, einen Kara­wa­nen­führer namens Ahmed Ali, zwei Diener, einen Koch und 21 Kamel­treiber umfasste und vom Kolo­ni­al­be­amten Morrison ange­führt wurde.

Conrad Keller vor seiner Abreise nach Soma­li­land um 1880. ETH Bild­ar­chiv, Dia_282-1857.

In seinem Expe­di­ti­ons­ta­ge­buch beschreibt Keller, wie es laufend zu Konflikten mit der soma­li­schen Bevöl­ke­rung kam. Dabei waren die Euro­päer bereit, Gewalt anzu­wenden, um die Somali zur Koope­ra­tion zu zwingen: 

„Am Morgen verwei­gern sie [die Somali] aber­mals [die Koope­ra­tion]. Sie haben Pferde zum Angriff. Es wird mit den Waffen gedroht, die Mann­schaft rückt aus. Die Somali bieten Frieden u. lassen Wasser holen.“

Auch Keller selbst trug gemäss eigener Aussage immer ein Gewehr auf sich, um sich gegen poten­zi­elle Angriffe zu schützen. Seine Kara­wane habe einen Scheich als Geisel genommen, nachdem drei soma­li­sche Sultane ange­kün­digt hatten, das Expe­di­ti­ons­team anzugreifen.

Der Wider­stand, dem Keller auf seiner Forschungs­expe­di­tion in Soma­li­land begeg­nete, hing direkt mit der Kolo­ni­al­herr­schaft Gross­bri­tan­niens zusammen. 1884, also nur sieben Jahre vor der Forschungs­expe­di­tion, hatte Gross­bri­tan­nien zwar ein Abkommen mit lokalen Herr­schern abge­schlossen, das dem Empire die Schutz­herr­schaft über die Region garan­tierte. Zahl­reiche Sultane akzep­tierten das Abkommen jedoch nicht, und wieder­holt kam es zu gewalt­vollen Ausein­an­der­set­zungen zwischen der briti­schen Protek­to­rats­re­gie­rung und der lokalen Bevöl­ke­rung. Zwischen 1900 und 1920 führte Gross­bri­tan­nien daher mehrere brutale Mili­tär­ex­pe­di­tionen durch, um die Herr­schaft in Soma­li­land endgültig zu konsolidieren.

Dank der mili­tä­ri­schen und diplo­ma­ti­schen Unter­stüt­zung der briti­schen Protek­to­rats­re­gie­rung war die Expe­di­tion für Keller ein voller Erfolg: Dutzende Pflanzen- und Tier­prä­pa­rate konnte er in die Schweiz mitnehmen. Einen Teil seiner Pflan­zen­samm­lung übergab er dem Schweizer Bota­niker Hans Schinz, der 1892 zum Professor für Botanik an der Univer­sität Zürich und 1893 zum Direktor des bota­ni­schen Gartens in Zürich ernannt wurde. 

Nur wenige Jahre zuvor war Schinz selbst durch Deutsch-Südwest­afrika und Südafrika gereist. In den Samm­lungen Kellers iden­ti­fi­zierte er über 20 vermeint­lich neue Pflan­zen­arten, von denen er 14 – in Ehren ihres „Entdeckers“ – nach Keller benannte. Noch heute befinden sich die Präpa­rate unter diesen Namen in den Verei­nigten Herba­rien der Univer­sität und ETH Zürich.

Andro­pogon kelleri Hack. ex Schinz, Grasart benannt nach Conrad Keller aus Soma­li­land. Verei­nigte Herba­rien Zürich, Z‑000017897.

Wirk­lich „neu“ waren die Pflan­zen­arten natür­lich nicht. So waren die Somali zum Zeit­punkt der briti­schen Protek­to­rats­herr­schaft bereits mit der Flora und Fauna vertraut, die sie umgab, hatten eigene Namen dafür und kannten sich mit deren Anbau und Nutzen bestens aus.

Die Exper­tise der lokalen Träger und Sammler, die zum Erfolg der euro­päi­schen Expe­di­tion beitrugen, ist in den euro­päi­schen Herba­rien nicht vermerkt. 

Auch die Gewalt­ge­schichte der Präpa­rate haben Schweizer Botaniker*innen nicht in ihren Forschungs­samm­lungen fest­ge­halten: Erin­nert wird dort an den wissen­schaft­li­chen Wert, nicht aber an die Geschichte der Pflanzen.

Natur­wis­sen­schaft­liche Samm­lungen als Forschungslücke

Die Forschungs­expe­di­tion Conrad Kellers steht exem­pla­risch für die enge Verbin­dung zwischen der Entste­hung der modernen euro­päi­schen Natur­wis­sen­schaften und der euro­päi­schen Expan­sion. Insbe­son­dere in taxo­no­mi­schen Diszi­plinen wie der Zoologie, der Geologie oder der Botanik benö­tigten Univer­si­täten und Museen in der Schweiz Vergleichs­ma­te­rial aus aller Welt, um im inter­na­tio­nalen Wett­be­werb um die Bestim­mung “neuar­tiger” Pflanzen- und Tier­arten mitzu­halten. Anders als Gross­bri­tan­nien oder die Nieder­lande konnten sie dabei nicht auf eigene Kolo­ni­al­in­sti­tu­tionen zurück­greifen, denn die Schweiz herrschte formal nie über grös­sere Über­see­ter­ri­to­rien in Asien, Afrika oder den Amerikas.

Seit dem 17. Jahr­hun­dert reisten daher Menschen aus den Regionen der heutigen Schweiz als Kauf­leute, Missionar*innen, Söldner, Ärzte oder Wissenschaftler*innen in die Kolo­nien anderer euro­päi­scher Länder. Wie in der Expe­di­tion Conrad Kellers waren ihre Reisen oft von kolo­nialer Gewalt geprägt, und sie profi­tierten stark vom Wissen der indi­genen Bevöl­ke­rungen in den euro­päi­schen Kolo­nien. Dabei brachten sie nebst Mess­daten kisten­weise natur­wis­sen­schaft­liche und kultu­relle Objekte wie Tiere, Pflanzen, Werk­zeuge, Statuen oder Ethno­gra­phica, aber auch mensch­liche Skelette und Schädel in die Schweiz zurück.

Bis heute setzen sich im wissen­schaft­li­chen Archi­vieren, Sammeln und Erfor­schen der Natur kolo­niale Prak­tiken fort, die indi­genes Wissen unsichtbar machen und die wissen­schaft­liche Erschlies­sung der Natur einseitig im Westen verorten.

In den letzten Jahren setzten sich Kurator*innen zuneh­mend mit der kolo­nialen Prove­nienz ihrer Samm­lungen ausein­ander. 2021 schlossen sich beispiels­weise acht Schweizer Museen zur Benin-Initia­tive zusammen. Die Initia­tive klärt, wie viele der rund 100 Kunst­ob­jekte aus dem ehema­ligen Königtum Benin, die sich heute in der Schweiz befinden, im Zuge der gewalt­tä­tigen briti­schen Straf­ex­pe­di­tion von 1897 entwendet wurden.

Natur­wis­sen­schaft­liche Samm­lungen werden hingegen in der Diskus­sion um Prove­ni­enz­for­schung kaum beachtet, obwohl ihre kolo­nialen Bestände zu den umfang­reich­sten gehören. Dabei sollten sich auch die Natur­wis­sen­schaften drin­gend mit ihrer kolo­nialen Vergan­gen­heit und Gegen­wart auseinandersetzen. 

Bis heute setzen sich im wissen­schaft­li­chen Archi­vieren, Sammeln und Erfor­schen der Natur nämlich kolo­niale Prak­tiken fort, die indi­genes Wissen unsichtbar machen und die wissen­schaft­liche Erschlies­sung der Natur einseitig im Westen verorten.

Grös­sere Samm­lung – bessere Forschung

Rund 70 Prozent der Pflan­zen­prä­pa­rate sind laut einer kürz­lich in der Zeit­schrift Nature publi­zierten Studie in euro­päi­schen und nord­ame­ri­ka­ni­schen Herba­rien gela­gert. Dadurch beher­bergen Samm­lungen in den USA, in West- und Mittel­eu­ropa doppelt so viele Pflan­zen­arten, wie dort behei­matet sind. Gleich­zeitig verfügen tropi­sche Länder, also die Regionen mit der grössten Biodi­ver­sität, über die propor­tional klein­sten Forschungs­samm­lungen. Diese Asym­me­trie, so die Studienautor*innen, ist eine direkte Konse­quenz des Kolonialismus.

Der erschwerte Zugang zu Tier‑, Pflanzen- und Gesteins­prä­pa­raten benach­tei­ligt Wissenschaftler*innen aus ehema­ligen Kolo­nien massiv bei der Erfor­schung drin­gender Fragen der Gegenwart.

Für andere Diszi­plinen steht eine umfang­reiche Analyse zwar noch aus, es liegt aber nahe, dass erdwis­sen­schaft­liche, zoolo­gi­sche oder palä­on­to­lo­gi­sche Samm­lungen ähnlich asym­me­trisch verteilt sind. Während zum Beispiel die erdwis­sen­schaft­liche Samm­lung des natur­hi­sto­ri­schen Museums Basels über 4 Millionen Objekte umfasst, verfügt das geolo­gi­sche Museum in Bandung auf der Vulkan­insel Java ledig­lich über rund 400’000 Fossi­lien, Mine­ra­lien und Gesteine.

Der erschwerte Zugang zu Tier‑, Pflanzen- und Gesteins­prä­pa­raten benach­tei­ligt Wissenschaftler*innen aus ehema­ligen Kolo­nien massiv bei der Erfor­schung drin­gender Fragen der Gegen­wart. Denn inner­halb der näch­sten Jahr­zehnte könnten bis zu einer Million Arten aufgrund mensch­li­cher Eingriffe in die Ökosy­steme aussterben. Mit der Zerstö­rung der Regen­wälder geht das Arten­sterben in den Tropen beson­ders schnell voran. Natur­hi­sto­ri­sche Samm­lungen sind oft der einzige Einblick in die Vergan­gen­heit der zerstörten Flora und Fauna und zudem die wich­tigste Quelle, um Verän­de­rungen in der Biodi­ver­sität über einen längeren Zeit­raum zu erfor­schen. Auch in der Klima­for­schung spielen Samm­lungen eine entschei­dende Rolle, zum Beispiel um Verän­de­rungen in der Blüte­zeit von Pflanzen nachzuvollziehen.

Hinzu kommt, dass sich in euro­päi­schen und nord­ame­ri­ka­ni­schen Samm­lungen eine über­pro­por­tional hohe Anzahl soge­nannter Holo­typen befindet, also Fossi­lien, Tier- oder Pflan­zen­prä­pa­rate, anhand derer eine neue Art zum ersten Mal beschrieben wurde. Holo­typen sind oft einzig­artig und dienen bis heute als Refe­renzen in der taxo­no­mi­schen Forschung.

Auch unter den Pflan­zen­prä­pa­raten Conrad Kellers aus Soma­li­land befinden sich solche Refe­renz­ex­em­plare. Als Resultat kolo­nialer Samm­lungs­tä­tig­keiten sind die meisten Holo­typen asia­ti­scher, afri­ka­ni­scher oder südame­ri­ka­ni­scher Arten heute in west­li­chen Samm­lungen gela­gert. Das resul­tiert oft in der absurden Situa­tion, dass Forschende aus diesen Regionen nach Gross­bri­tan­nien, Deutsch­land, in die USA oder eben in die Schweiz reisen müssen, um die Flora und Fauna ihrer Herkunfts­länder zu studieren.

Biopi­ra­terie und die Fort­set­zung kolo­nialer Forschungspraktiken

Noch heute reisen euro­päi­sche Forschende in tropi­sche Regionen, um nach neuen, medi­zi­nisch oder indu­striell nutz­baren Pflanzen zu suchen. Dabei greifen sie oft auf die Exper­tise indi­gener Gruppen zurück, die über ein histo­risch gewach­senes Wissen über die Wirkung und den Anbau lokaler Heil- und Nutz­pflanzen verfügen. Von der Paten­tie­rung der Wirk­stoffe profi­tieren aller­dings oft nur west­liche Konzerne, nicht aber die Menschen in den Herkunfts­ge­sell­schaften. Das bezeichnet man auch als Biopi­ra­terie: Die kommer­zi­elle Verwer­tung natür­li­cher Ressourcen, ohne die lokale Bevöl­ke­rung zu entschädigen.

Um gegen Biopi­ra­terie vorzu­gehen, hat die UN-Biodi­ver­si­täts­kon­ven­tion 2010 das soge­nannte Nagoya-Proto­koll verab­schiedet, das 2014 von der EU und 50 weiteren Staaten – darunter die Schweiz –rati­fi­ziert wurde. Ziel des Proto­kolls ist eine gerechte Vertei­lung der Gewinne, die aus gene­ti­schen oder chemi­schen Ressourcen aus der Natur hervorgehen.

In der Biopi­ra­terie setzen sich kolo­niale Forschungs­prak­tiken fort, die das Wissen indi­gener Menschen struk­tu­rell unsichtbar machen.

Wer heute beispiels­weise einen aus Tropen­pflanzen gewon­nenen Duft­stoff kommer­ziell verwerten möchte, muss theo­re­tisch gewähr­lei­sten, dass ein Teil der Produkt- und Patent­ein­nahmen an indi­gene Gemein­schaften gehen. In pater­na­li­sti­scher Manier wollte man dadurch gleich­zeitig einen finan­zi­ellen Anreiz für den Erhalt der Biodi­ver­sität im globalen Süden schaffen, indem indi­genes Wissen in eine kapi­ta­li­sti­sche Verwer­tungs­logik einge­glie­dert wird.

Bei der Umset­zung des Proto­kolls hapert es aller­dings gewaltig. Als Para­de­bei­spiel für die unzu­rei­chenden Kontroll­me­cha­nismen führt Public Eye das Süssungs­mittel Stevia an. Seit Jahr­hun­derten wird Stevia von indi­genen Guaraní in Para­guay und Brasi­lien ange­baut und konsu­miert. Konzerne wie Ricola, die Migros oder das Basler Biotech-Unter­nehmen Evolva verkaufen oder verar­beiten Stevia kommer­ziell, ohne die Herkunfts­ge­sell­schaft dafür zu entschä­digen. 2016 versprach Evolva, mit der indi­genen Gruppe ins Gespräch zu treten. Im Dezember 2023 wurde das Unter­nehmen von einem kana­di­schen Konzern über­nommen – weder Kanada noch die USA haben das Nagoya-Proto­koll unterzeichnet.

Am weite­sten verbreitet ist Biopi­ra­terie im Bereich der digi­talen Sequenz-Infor­ma­tionen (DSI) von Erbgut. DSI werden in Online-Daten­banken frei zur Verfü­gung gestellt. Unter­nehmen und Forschende können dadurch ohne die Zustim­mung oder das Wissen indi­gener Gemein­schaften auf gene­ti­sche Eigen­schaften biolo­gi­scher Proben zugreifen und die Bestim­mungen des Nagoya-Proto­kolls umgehen. In der Biopi­ra­terie setzen sich also kolo­niale Forschungs­prak­tiken fort, die das Wissen indi­gener Menschen struk­tu­rell unsichtbar machen.

Digi­ta­li­sie­rung für eine gerech­tere Wissenschaft?

Was zudem wichtig ist: Das Nagoya-Proto­koll greift nur für gene­ti­sche Ressourcen, die nach 2014 gewonnen wurden. Ähnlich verhält es sich in der univer­si­tären Grund­la­gen­for­schung. Auf Forschungs­expe­di­tionen gesam­melte Pflanzen- und Tier­prä­pa­rate müssen heute zwar grund­sätz­lich im Herkunfts­land bleiben. Die Bestim­mungen betreffen aber nur Objekte, die seit 2014 gesam­melt worden sind – Resti­tu­tionen sind nach wie vor keine vorge­sehen. Alles, was vor Nagoya – auch unrecht­mässig oder unter Anwen­dung von kolo­nialer Gewalt – in euro­päi­sche Samm­lungen gelangte, kann dortbleiben.

Um einen etwas besseren Zugang zu natur­wis­sen­schaft­li­chen Samm­lungen zu gewähr­lei­sten, bemühen sich Schweizer Univer­si­täten heute darum, ihre Bestände online zugäng­lich zu machen. So haben die Verei­nigten Herba­rien der ETH und Univer­sität Zürich heute 592’773 ihrer rund 3.8 Millionen Gefäss­pflanzen, Moose, Algen und Pilze digi­ta­li­siert. Schwie­riger gestaltet es sich in der Insek­ten­for­schung: Anders als die zwei­di­men­sio­nalen Pflan­zen­be­lege lassen sich viele Insekten kaum in ausrei­chendem Detail visua­li­sieren, um anhand eines digi­talen Bildes forschen zu können. Auch in der Geologie stösst die Digi­ta­li­sie­rung an ihre Grenzen, wenn es etwa darum geht, Gesteins­proben oder Erze chemisch zu analysieren.

Um die Fort­set­zung kolo­nialer Samm­lungs- und Forschungs­prak­tiken zu über­winden, braucht es einen struk­tu­rellen Wandel in der Wissen­schaft selbst.

Und auch wenn es zur Resti­tu­tion von Samm­lungen käme, stünden Insti­tu­tionen in ehema­ligen Kolo­nien vor der Schwie­rig­keit, dass oft die Infra­struktur fehlt, um Herbar­be­lege, Insek­ten­prä­pa­rate oder Gesteins­proben zu lagern. Werden Objekte zurück­ge­geben, sind im Normal­fall nämlich keine finan­zi­ellen Mittel zur Aufbe­wah­rung vorgesehen. 

Das zeigt, dass Digi­ta­li­sie­rung und Resti­tu­tion allein nicht ausrei­chen. Um die Fort­set­zung kolo­nialer Samm­lungs- und Forschungs­prak­tiken zu über­winden, braucht es einen struk­tu­rellen Wandel in der Wissen­schaft selbst.

Dazu gehört die Umver­tei­lung von Forschungs­gel­dern genauso wie die Abschaf­fung von Visa-Schranken für Wissenschaftler*innen aus Asien, Afrika oder Südamerika. 

Es ist an der Zeit, indi­genen Expert*innen endlich auf Augen­höhe zu begegnen. Denn indi­gene Menschen sind von den Folgen der Klima­krise beson­ders betroffen, obwohl sie am wenig­sten dazu beitragen. Ihr Wissen über den Erhalt wert­voller Ökosy­steme ist heute unab­ding­barer denn je.

Monique Ligten­berg ist frei­schaf­fende Histo­ri­kerin und Grün­dungs­mit­glied des Stadt­rund­gang-Projekts zh-kolonial.ch. Sie kura­tiert zurzeit für ETH extract die Ausstel­lung „Kolo­niale Spuren — Samm­lungen im Kontext“, die am 30. August 2024 eröffnet wird.

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