„Ich halte das nicht mehr aus, mein Kopf geht hier kaputt“, sagt Selin*. Sie wisse einfach nicht mehr weiter – und mache sich Sorgen um ihre Gesundheit. Sie erhebt die gleichen, schweren Vorwürfe gegen ihren Arbeitgeber Candrian wie drei weitere ehemalige Mitarbeiter*innen, mit denen das Lamm gesprochen hat: Sie seien unter Einsatz nicht erlaubter Praktiken zu ständiger Verfügbarkeit gezwungen worden. Und Selin sagt, dass die Angestellten derart eingeschüchtert seien, dass sie sich nicht trauen würden, sich zu wehren. Ein Mitarbeiter, der sich beschwert hat, sei deswegen entlassen worden.
Selin arbeitet im Take-Away-Restaurant „Buffet Express“, wo vor allem Sandwiches, Süssgebäck und Bratwürste verkauft werden – in der Querhalle des Hauptbahnhofs in Zürich. Am Freitag und am Samstag rund um die Uhr, an den übrigen Wochentagen von 05:00 Uhr morgens bis Mitternacht. Betrieben wird Buffet Express von der Candrian Catering AG, einem der grössten Gastrounternehmen der Schweiz mit rund 1000 Mitarbeiter*innen, 45 Betrieben und einem Jahresumsatz von über 100 Millionen Franken. Zum Portfolio der Firma, die von der Familie Candrian kontrolliert wird, gehören etwa die Brasserie Lipp, das Clouds im Prime Tower oder die Goethe-Bar beim Sechseläutenplatz, sowie eine Vielzahl Restaurants im Hauptbahnhof Zürich. Der Erfolg von Candrian ist eng mit den SBB und dem HB verknüpft. „Die Zusammenarbeit ist im Lauf der Jahre historisch gewachsen und hat sich stets weiterentwickelt“, sagt SBB-Mediensprecher Oli Dischoe gegenüber das Lamm. Die Familie Candrian wurde damit reich.
Nicht so Selin. Trotz Unzufriedenheit könne sie es sich nicht leisten, die Arbeit bei Candrian zu kündigen. „Ich habe keinen Mann, der 5000 Franken oder mehr verdient“, sagt sie. Sie ist im Stundenlohn angestellt: 19.65 Franken erhält sie brutto pro Stunde. Mindestarbeitszeit wird ihr nicht garantiert. Sie ist darauf angewiesen, genügend oft eingesetzt zu werden, sonst werde es knapp. Diese Abhängigkeit sei ausgenutzt worden, sagt sie. Wenn man im Buffet Express nicht spontan einspringen könne und nicht immer verfügbar sei, sogar wenn man wegen Krankheit fehle, würden spontan Arbeitsschichten aus dem Arbeitsplan gestrichen – zur Bestrafung. So werde sie dazu gezwungen, jederzeit verfügbar zu sein.
Diesen Vorwurf äussert auch Aziz*, der während zweier Jahre im Buffet Express gearbeitet hat. Auch er war im Stundenlohn ohne garantierte Mindestarbeitszeit eingestellt. Und auch er sagt: „Wenn man einmal krank war oder nicht spontan einspringen konnte, wurden Schichten gestrichen.“ Einmal sei er für drei Tage krankgeschrieben gewesen. Sein Chef habe ihm mit Arbeitszeitverkürzung gedroht und ihn aufgefordert, trotzdem zur Arbeit zu erscheinen. Unter Druck habe er nachgegeben. In einem Stundenblatt, das dem Lamm vorliegt, ist ersichtlich, dass Aziz zwar für drei Tage krankgemeldet war – aber schon nach zwei Tagen wieder zur Arbeit erschien.
[info-box post_id=„7925“]Denselben Sachverhalt schildern zwei weitere ehemalige Mitarbeiter. Mikael* hat nur während weniger Monate im Buffet Express gearbeitet und sagt: „So etwas Schlimmes habe ich an einem Arbeitsplatz noch nie erlebt.“ Ahmed* war für mehr als zehn Jahre bei Candrian angestellt, bis er zuletzt nach einem Unfall während mehrerer Monate arbeitsunfähig war – und nach genau sechs Monaten Arbeitsabwesenheit (dem gesetzlich vorgegebenen Minimum) entlassen wurde. Er sagt zur Schichtverteilung: „Als ich einmal darum gebeten habe, an einem Dienstag nicht arbeiten zu müssen, wurde mir zwar der Dienstag freigegeben, aber es wurden mir gegen meinen Willen auch der Mittwoch, der Donnerstag und der Freitag als Ruhetage zugewiesen. Und als ich darum gebeten habe, an einem Sonntag nicht arbeiten zu müssen, wurde mir absichtlich die Frühschicht an diesem Sonntag zugeteilt.“
Die Mitarbeiter*innen hätten sich wegen solcher Vorfälle gar nicht mehr getraut, ihre Bedürfnisse anzubringen, sagt Aziz. Schon die Äusserung eines Wunsches hätte zu bedrohlicher Arbeitszeitverkürzung führen können. An Kritik habe man erst recht nicht denken können. Selin wollte die anderen Mitarbeiter*innen zu einer Konfrontation des Chefs motivieren. „Aber alle hatten zu viel Angst, um sich zu wehren.“
Die Vorwürfe zu beweisen, ist schwierig. „Die Drohung, Schichten zu streichen, hat der Chef natürlich nicht ausgeschrieben, sondern nur ausgesprochen“, sagt Aziz. Screenshots und Bilder von Arbeitsplänen belegen aber mindestens sehr kurzfristige Änderungen des Arbeitsplans.
Solche kurzfristigen Anpassungen des Arbeitsplans sind nur in Ausnahmefällen erlaubt, sagt Mauro Moretto, der Branchenverantwortliche für das Gastgewerbe bei der Gewerkschaft Unia. „Der Arbeitsplan ist gemäss Arbeitsgesetz zwei Wochen im Voraus auszustellen und darf nur in Ausnahmefällen und in Absprache kurzfristig geändert werden.“ Und als Repressionsmassnahme dürfe der Arbeitsplan natürlich erst recht nicht angewandt werden.
Candrian bestreitet die Vorwürfe
Candrian bestreitet die Vorwürfe deutlich: in einer mehrseitigen und detaillierten Stellungnahme, die das Lamm nicht direkt zitiert, weil Candrian darum gebeten hat, von direkten Zitaten abzusehen. Die Firma hält aber fest, dass sie sich an die geltenden Gesetze sowie an den Gesamtarbeitsvertrag für das Gastgewerbe L‑GAV halte. Dazu gehöre auch die rechtzeitige Bekanntgabe der gültigen Dienstpläne. Die Einhaltung der Gesetze werde in regelmässigen Kontrollen des kantonalen Arbeitsinspektorats überprüft. Hinzu kämen die jährlichen Kontrollen der Kontrollstelle des L‑GAV. Bis anhin seien keine Rechts- oder Gesetzesverletzungen festgestellt worden, die sich mit den erhobenen Vorwürfen decken würden.
Tatsächlich erheben Selin und Ahmed keine Vorwürfe gegen die höhere Führungsebene der Firma Candrian. Das Problem seien vor allem der direkte Vorgesetzte, also der Leiter des Buffet Express, und dessen Vorgesetzter gewesen, sagen sie. Ahmed bemängelt höchstens fehlende Kontrolle: „Diese Firma ist wie eine Familie ohne Eltern.“ Den CEO Reto Candrian loben gar alle vier Personen als umgänglich und freundlich.
Wer weiss wieviel?
Trotzdem: Die Einhaltung von humanen Arbeitsbedingungen liegt nicht nur in der Verantwortung der direkten Vorgesetzten, sondern auch in der Verantwortung aller beteiligten Kader. Und die vier Personen, mit denen das Lamm gesprochen hat, halten an ihren Vorwürfen fest. Wenn diese Vorwürfe stimmen und auch auf höheren Führungsebenen bekannt waren, wurde die widerrechtliche Prekarisierung zugunsten der Gewinnmaximierung bewusst in Kauf genommen.
Das ist die Position, die Aziz vertritt. Sowohl der Leiter der Human Resources als auch der Leiter aller Schnellverpflegungsrestaurants hätten von seinen Vorwürfen gewusst. Er habe sich mehrmals zu wehren versucht. Dem Lamm liegen E‑Mails vor, die belegen, dass Aziz die beiden jeweils einzeln zu Gesprächen getroffen hat. In einem Mail an den Restaurantleiter schreibt er von „Problemen mit [Name des direkten Vorgesetzten]“. Die E‑Mail an die HR-Abteilung belegt sogar deutlich, dass der Vorwurf der Arbeitszeitverkürzung dort bekannt war. Und sie zeugt von Verzweiflung. Aziz schreibt:
[...]jetzt alle meine arbeit kolega mussen auf passen nicht mit mir telefonisch sprechen, wenn [Name des direkten Vorgesetzten] erfahren welche mit mir telefonisch kontakt hat bekomt probleme mit plan unterdrücken muss mit weniger arbeit stunden abrechnen.
Das ist ziemlich explizit. Geändert habe sich trotzdem nichts, sagt Aziz. Stattdessen wurde er ungefähr drei Wochen nach dem Versenden dieser E‑Mail entlassen. Die Gründe dafür wurden gemäss Kündigungsschreiben „im persönlichen Gespräch erläutert“. Aziz sagt, man habe ihn entlassen, weil er sich gewehrt habe.
Ist die Candrian Catering AG haltbar?
Das Bild, das die vier Personen von der Candrian Catering AG zeichnen, ist düster. Und vieles deutet daraufhin, dass die geäusserten Vorwürfe nicht nur stimmen, sondern die vorgeworfenen Praktiken bewusst in Kauf genommen wurden. Die Erfolgsgeschichte der Firma wird trotzdem weitergehen. Mit dem Bauschänzli in Zürich ist ihr erneut ein Coup gelungen. Kaum ein Restaurant in Zürich ist besser gelegen, Candrian hat sich bei der Neuausschreibung durchgesetzt.
Verantwortet hat die Ausschreibung die Liegenschaftsverwaltung der Stadt Zürich. Deren Kommunikationsverantwortlicher sagt gegenüber das Lamm, man habe bei der Ausschreibung des Bauschänzlis auch den „Ruf als Arbeitgeberin“ berücksichtigt. Das spielt der Candrian Catering AG in die Hände. Ihr Ruf als Arbeitgeberin lässt nichts zu wünschen übrig. Wohl auch dank der engen Zusammenarbeit mit den SBB – und neu auch mit der Stadt Zürich.
*Namen der Redaktion bekannt, aber zum Schutz der betreffenden Personen geändert.
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