Das Lamm: Du schreibst in deinem Statement zum letztjährigen Cypher, das auf lyrics.ch veröffentlicht wurde, dass in den letzten Monaten im Hinblick aufs Thema Feminismus einiges mit dir passiert ist. Wie kam es dazu?
Tommy Vercetti: Vor einigen Monaten haben Rapper*innen des Hatepop-Kollektivs mich und andere Rapper sehr direkt in einem Track gedisst. Sie nannten uns alt und heuchlerisch links. Das muss man sportlich nehmen.
Als ich mir den Track aber erneut angehört habe, ist mir aufgefallen, wie enttäuscht sie klangen. So als hätte ich sie verraten. Ich habe mich schriftlich ein bisschen mit ihnen darüber ausgetauscht und daraufhin mit weiteren Personen lange Gespräche über politische Positionen und Sprachgebrauch geführt.
Was kam dabei heraus?
Ich habe bestätigt gekriegt, dass Leute von mir enttäuscht sind. Das hat gesessen.
Für eine bestimmte Generation in Bern waren Dezmond Dez, Eldorado FM und ich ein wichtiger politischer Orientierungspunkt. Es gab eine Zeit, da hörten uns die Jungen in Bern zu wie Pfarrern bei der Predigt. Man hat sich anscheinend in Gruppen getroffen und zusammen unsere Texte oder Facebook-Posts analysiert.
Wir hatten also einen grossen Einfluss. Deshalb musste ich mich zunehmend fragen, inwiefern ich dem heute noch gerecht werde – oder eben nicht. Ich habe gewisse Formulierungen in meinen Texten überdacht und mich stärker auf bestimmte feministische Argumente eingelassen.
Die Enttäuschung der Anderen war also ein entscheidendes Erlebnis für dich.
Ja. Damit hängt vielleicht auch zusammen, dass ich an einem bestimmten Punkt meiner Karriere und meines Lebens angekommen bin. Gewisse Dinge, von denen ich geträumt habe, als ich jünger war, werden nun definitiv nicht mehr passieren. Ich werde kein Revolutionsführer, kein grosser und wichtiger Philosoph oder Schriftsteller, ich werde nicht mal ein grosser Rapper – ich meine, ich verdiene nicht genug damit, um davon zu leben. Stattdessen habe ich mir vorgenommen, dass ich in meiner Haltung verlässlich bleiben will. Nun habe ich aber eingesehen, dass ich das in dieser Hinsicht versäumt habe.
Der Bounce Cypher ist einer der grössten Live-Rap-Events der Schweiz. Einmal im Jahr treffen sich über 80 Rapper*innen zum verbalen Schlagabtausch im Studio von SRF Bounce. Dort tragen die Teilnehmer*innen bisher unveröffentlichte Texte vor. Schon mehrmals stand der Event aufgrund diskriminierender Sprache in der Kritik, so auch in diesem Jahr.
Wieso denkst du, ist das passiert?
Weil ich der Überzeugung war, dass andere Dinge wichtiger sind. In den letzten Jahren habe ich mich – nicht nur musikalisch – eingehend mit Ökonomie beschäftigt. Im Vergleich dazu kam mir der Verzicht auf bestimmte Wörter wie ein scheinheiliger Nebenschauplatz vor. Doch das ist falsch und einem Tunnelblick geschuldet.
Heute verzichtest du darauf?
Ja, weil es mich nichts kostet und es Anderen wichtig ist. Wieso sollte ich darauf beharren? Mich stört allerdings der moralische Gestus gewisser Feminismen. Wenn es plötzlich darum geht, dass jemand ein guter oder schlechter Mensch ist, weil er „Bitch“ sagt oder nicht. Und dass solche Forderungen aktuell auch dazu dienen, andere Fragen auszublenden.
Ein Sexist ist nach dieser Logik dann nicht mehr der Arbeitgeber, der ein Unternehmen führt, in dem massenweise Frauen zu üblen Bedingungen angestellt sind, sondern derjenige, der nicht die richtige Sprache benutzt. Das ermöglicht vielen Menschen, sich einen hübschen feministischen Anstrich zu verpassen, ohne sich den tatsächlichen Gleichstellungsfragen stellen zu müssen.
Ist das der Grund, weshalb du bis anhin an diesem Begriff festgehalten hast?
Als ich jung war, so in den 2000er-Jahren, las man noch nichts von Kapitalismuskritik in den grossen Medien. Wenn du dich damals mit Marx beschäftigt hast, gehörtest du schon zu den Geisteskranken. Der Kapitalismus war als gut und einzig funktionierendes Wirtschaftsmodell gesetzt. Dadurch hatte ich ein starkes Misstrauen allem Zeitgeist gegenüber entwickelt, vielleicht in einem fast paranoiden Ausmass.
Das hat auch dazu geführt, dass ich den ganzen Diskussionen rund um Identitätspolitik und Sprachgebrauch in den letzten Jahren sehr misstrauisch gegenüberstand. Auch aufgrund der riesigen Präsenz und Resonanz, die dieses Thema erfahren hat. Ich dachte mir: Wenn diese Themen so einfach den Weg in den Blick oder die „Arena“ finden, dann muss da etwas faul sein und dem System nützen, sonst würde es nicht so breitgetreten werden.
Auch heute finde ich den Feminismus problematisch, der die soziale Herkunft nicht mitdenkt und von Klassenkampf nichts wissen will.
Nebst den vielen Gesprächen, was hat dich in letzter Zeit sonst noch beeinflusst?
Ich habe zum Beispiel Männer und Männlichkeit von bell hooks gelesen. Das Buch macht ausführlich klar, dass das Patriarchat auch den Männern massiv schadet. Auch das Buch von Franziska Schutzbach Die Erschöpfung der Frauen fand ich fantastisch, weil es eine sehr verständliche Zusammenfassung der Probleme im Patriarchat bietet.
Beim Lesen dachte ich oft: Fuck, ja klar. Aber als Mann kommt man nicht auf diese Ideen, weil man diese Erfahrungen nicht macht. Zwar war ich diesen Themen nie abgeneigt und habe mich sehr links und aufgeklärt gefühlt. Trotzdem gibt es massenhaft Dinge, die man nicht auf dem Schirm hat. Vielleicht hat sogar genau das dazu beigetragen, dass ich in einem ignoranten Zustand verharrt bin. Ich dachte, ich wüsste doch bereits alles.
Du warst nicht der einzige Rapper, der auch dieses Jahr am Cypher wieder aufgrund diskriminierender Textpassagen in der Kritik stand. Wieso kommt es jedes Jahr erneut dazu?
Einerseits glaube ich, dass sich trotz wiederholter Vorfälle schon vieles in der Rapszene verändert hat. Vielleicht einfach nicht in dem Tempo, das sich einige wünschen würden.
Andererseits gibt es verschiedene Positionen zum Thema Sprachgebrauch: Die einen, zu denen auch ich mich zählen würde, die ein gewisses Bewusstsein dafür haben, es aber für eine Gratwanderung halten. Dann gibt es diejenigen, die sich der Sache auch mehr oder minder bewusst sind, aber sagen würden, dass Rap halt so ist. Sie wollen sich nichts vorschreiben lassen und empfinden Kritik als Zensur. Ich bin mir sicher, dass einige Abwehrreaktionen aus Trotz und nicht aus Ignoranz kamen.
Und dann gibt es eine dritte Gruppe von relativ jungen Rappern, die neu in der Szene sind und eine „Scheiss auf alles“-Attitüde haben, die ihnen sehr wichtig ist.
Interessant, man hätte ja auch erwarten können, dass die neue Generation vor allem sehr ‚woken‘ und politisch korrekten Rap macht.
Das hat auch mit der sozialen Herkunft zu tun. Es geht ihnen darum „Fickt euch alle“ in die Welt hinauszuschreien, was sich unter anderem auch als Kritik an die Gesellschaft richtet.
Also als eine Art Frustkatalysator?
Ich glaube, es geht um eine völlig berechtigte Wut über die eigenen Lebensumstände, die man spürt. Dafür ist Rap schon seit jeher ein Ventil. Und der Sexismus, der darin enthalten ist – ohne ihn rechtfertigen zu wollen – ist eine Art Kollateralschaden. Man lässt einfach alles raus und schiesst dabei verbal zum Beispiel auch gegen Frauen oder behinderte Menschen.
Hat das auch mit homosozialem Verhalten zu tun, also dass Männer vor allem andere Männer beeindrucken wollen?
Ich denke auf jeden Fall. Man muss aber auch erwähnen, dass es auch weibliche Rapper*innen und Rapfans gibt, die diese Art von Rap feiern – auch mit sexistischen Texten.
Kritisiert ihr eure Texte gegenseitig in eurem männlichen Rap-Freundeskreis?
Bis jetzt kaum. Ich denke, das ist in der Rap-Bubble auch besonders schwierig, andere Szenen sind vielleicht offener und sensibler.
Selbst in intimen Freundschaften?
Ja, auch dort. Das gehört zu den Nachteilen, die Männer im Patriarchat erleben.
Dass sie nicht gelernt haben, über ihre Gefühle zu reden?
Ja. Ich glaube, dass Frauen dadurch auch mehr erlaubt ist, bei sich zu sein und zum Beispiel ehrliche Freundschaften zu haben.
In Männerfreundschaften bleibt es schwierig, intime Themen anzusprechen oder sich verletzlich zu zeigen. Man fühlt dabei ein soziales Unwohlsein, eine Art Grenze, die diese Themen schwierig oder gar unmöglich anzusprechen macht.
Treten diese benannten Rapper denn auch nach oben und feuern gegen ihre Schulleiter*innen oder Chef*innen?
Das ist schwierig, weil die Ressourcen für diese Analysen oft fehlen: Wer im Kapitalismus lebt, hat meistens wenig Zeit, über ihn nachzudenken. Auch andere Machtstrukturen wie das Patriarchat verstecken sich gut. So wird leider tatsächlich wenig nach oben getreten.
Viele junge Rapper spüren eine Ausweglosigkeit in ihrem Leben. Ihnen geht es darum, zu zeigen, dass sie trotz allem darin zurechtkommen. Ich glaube, dass in diesen Kontexten die toxische Männlichkeit nicht nur dazugehört, sondern zynisch zelebriert wird.
Zynisch?
Im amerikanischen Gangsterrap zum Beispiel sehen wir eine grosse Zelebrierung von Gewalt und Geld et cetera. Würde man da Sexismus vorwerfen, wäre die Haltung wohl: Ja, logisch – mein Rap soll ja auch nicht korrekt sein, sondern wehtun.
Also eine Art Unfähigkeit, den eigenen Schmerz auszudrücken, ohne Anderen welchen zuzufügen?
Ich denke tatsächlich, dass viel Wut von Männern daher rührt, dass wir unsere Gefühle nicht sehr gut reflektieren können. Weil wir es nicht gelernt haben. Und viele Männer sind wütend.
Die Antwort auf die Frage, weshalb diese diskriminierenden Inhalte also immer noch geschrieben und aufgeführt werden, ist: Weil man es will. Die Brutalität der Sprache soll die Brutalität der Umstände widerspiegeln – was ja auch seine Berechtigung hat: Warum soll ich mich einer Welt gegenüber verletzlich zeigen, die mich ständig bedroht? Verletzlich sein kann man nur, wo man auf Schutz und Wärme hoffen darf.
Die Brutalität der Lebensumstände im Kapitalismus?
Ja. Der Kulturwissenschaftler Mark Fisher hat die Kunstepoche des Gangsterraps und anderer Kunstformen als „kapitalistischen Realismus“ bezeichnet. Das scheint mir sehr treffend. Der Ursprung dieses Raps liegt in einer Generation, die die politischen Kämpfe bereits abgeschrieben hat.
Wir können den berühmten Rapper Tupac als Beispiel nehmen: Seine Mutter, seine Tante und ihre Freund*innen waren Black Panthers, eine Gruppe Schwarzer Aktivist*innen, die sich in den 1960er-Jahren gründete und sich gegen Polizeigewalt organisierten. Seine Tante, Assata Shakur, landete auf Kuba im Exil, seine Mutter wurde Crack-abhängig, viele andere Panther wurden umgebracht oder lebenslang inhaftiert. Das Bewusstsein, nach oben zu treten, war also durchaus da – wurde aber im Fall von Tupac wortwörtlich totgeschlagen.
Kann man das auf Rapper*innen in der Schweiz übertragen?
Es geht nicht darum, das direkt zu übertragen. Aber solcher Rap hat ein hohes Identifikationspotential, weil man diese Perspektivlosigkeit kennt. Natürlich kann man sagen, dass sich die meisten hier nicht gegenseitig erschiessen oder mit harten Drogen dealen. Aber sie gehören zu einer Generation, in der es politisch nicht mehr viel zu erreichen gibt. Die Zukunftsperspektiven werden immer kleiner. Und auch „die Schweiz“ ist ja nicht überall „die Schweiz“.
Als vermeintlichen Ausweg aus der Perspektivlosigkeit wählen einige Rapper*innen dann die Selbstüberhöhung?
Den Alpha-Mann zu markieren – sei es auch nur in diesem kleinen Rahmen – ist eine der definierenden kulturellen Strategien im Rap. Man erlebt sich selbst normalerweise als Opfer dieser Gesellschaft, aber hier in diesem Kontext kann man der Macker sein. Der Gewinner unter den Verlierern quasi. Es ist also eine individuelle Selbstermächtigung. Natürlich ist das sehr problematisch.
Wieso?
Weil es toxisch ist. Es ist eine resignative, zynische Schlaufe. Aber ich finde es bis zu einem gewissen Grad auch verständlich. Auch in der Schweiz gehören die meisten Rapper maximal der unteren Mittelschicht an.
Es geht auch um das Gefühl, dass die Leute, die mitverantwortlich dafür sind, dass uns das Leben verarscht hat, uns nun auch noch dieses kleine Ding verunmöglichen wollen, das wir hier aufgebaut haben.
Sind diejenigen, die diese Textstellen kritisieren und diejenigen, die zum Beispiel die Arbeitskraft anderer ausbeuten, nicht zwei verschiedene Menschengruppen?
Das stimmt theoretisch, empirisch aber nicht unbedingt. Ich mache ein klischeehaftes Beispiel zur Veranschaulichung: Es ist sehr wohl vorstellbar, dass es um eine üppig erbende Akademikerin geht, die an den Texten dieser Rapper rumkritisiert.
Die kritisierten Texte richten sich aber eher abfällig gegen die Freundin oder Mutter eines anderen Rappers anstatt gegen eine reiche Akademikerin.
Das sollte auch keine Rechtfertigung sein. Aber wenn wir uns fragen, wieso sexistische Texte nicht weiter reflektiert werden, ist die Antwort vielleicht: Weil diejenigen, die diese Texte schreiben, sie als Rache an der Gesellschaft empfinden. Diese Texte können also per se nicht politisch korrekt sein, das widerspricht quasi ihrem Daseinsgrund.
Gilt diese Rache nicht den Falschen?
Ja, natürlich. Aber man muss auch sehen, wie hart viele dieser unterprivilegierten Jungs für diese Stimme gekämpft haben. Und wenn sie es dann mal zu einer Plattform geschafft haben, kommt von irgendwoher Gegenwind, den sie nicht in erster Linie als weiblich wahrnehmen, sondern als privilegiert und hierarchisch über ihnen stehend.
Ich glaube auch, dass da der Rap den Neoliberalismus bereits komplett verinnerlicht hat. So wird nicht mehr nach ökonomischen Kriterien unterschieden, stattdessen stürzt man sich auf die nächst Schwächeren – eine Art Raubtiermentalität. Diese Tendenz kann man allerdings in jedem gesellschaftlichen Bereich beobachten.
Was siehst du für die Zukunft des Raps?
Ich glaube an einen gesellschaftlichen Fortschritt, auch im Rap. Er ist für mich offensichtlich, auch wenn er nicht immer überall gleichzeitig und linear verläuft. Und ich will jetzt nicht mit der Floskel kommen, dass wir erst eine Revolution brauchen, bis sich etwas ändern kann. Aber ich glaube doch, dass das kapitalistische System eine wütende Generation nach der anderen heranwachsen lässt, die nicht weiss, wo sie mit ihrem Frust hinsoll und dann vielleicht gegen die Falschen tritt.
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