Am letzten Tag des vergangenen Jahres erschien in der Tageszeitung Taz ein Essay von mir, in dem ich mich gegen ein Böllerverbot aussprach. Ich argumentierte, dass Böllern an Silvester eine Form des symbolischen Konsums – nicht nur, aber vor allem – der unteren Klasse sei und dass ein Verbot vor allem zum Falschen führen würde: Dazu, dass Jugendliche in Kiezen kriminalisiert werden, in denen nur die Armut noch grösser als die Wut der Abgehängten ist. Silvester, das ist einer der wenigen Augenblicke, in denen sich Prekarisierte ihrer Stärke bewusst werden.
Und genau so kam es auf den Strassen. Es knallten jedoch nicht nur dort, sondern es brannten in Folge meines Kommentars bei einigen die Sicherungen durch. Was denn mit den Tieren sei? Mit den Verletzungen? Gehe es nicht viel eher um Männer und nicht um Arme? Symbolischer Konsum, haha! Was soll das sein? Die Umweltverschmutzung, schon mal daran gedacht? Gibt es dazu Statistiken, dass es vor allem Arme seien? Evidenz? Auch Reiche böllern?! Ein Böllerverbot, Hallo, das gelte doch an allen 364 Tagen im Jahr auch! Schon mal an Traumatisierte gedacht?
„David gegen Goliath“ ist hier Programm. Olivier David
gegen die Goliaths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facettenreichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Prekarität und Gegenkultur zu reflektieren, zu besprechen, einzuordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schreibens mit Klassenstandpunkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint ebenfalls als Newsletter.
Verstärkt wurden die durchweg gut gemeinten Argumente für ein Böllerverbot von rassistischer Politik, die sich – wie immer, wenn es einer Debatte an Sprengstoff (haha) fehlt – an vermuteten „Täternationalitäten“, an Herkunft, an angenommenen Migrationsproblemen abarbeitete, um so politisch zu punkten. Da wurden von der CDU, ganz in der Tradition der AfD, die Vornamen der Tatverdächtigen abgefragt. Die AfD, von der CDU rechts überholt, wusste sich nur mit noch rassistischeren Parolen von einem Problem mit „Zuwanderung aus archaischen Kulturen“ zu helfen. Ganz normale Debatten in einem ganz normalen Land.
Doch auch innerhalb der Linken war die Gewalt an Silvester ein Thema. Einer der Kommentare nach der Silvesternacht, veröffentlicht auf einem anarchistischen Blog, fand neben deutlichen Worten für die kulturelle Entfremdung zwischen linken Milieus und den Menschen, die in Berlin und anderswo Böller auf Einsatzkräfte warfen, auch weitere Motive des Rückzugs der Linken: „Dann die Nacht der Nächte, die Lust am Exzess, der all den Linken und selbst ernannten Anarchisten fremd, unheimlich geworden ist, weil sie nur noch ihre Neurosen pflegen, indem sie versuchen, alles zu kontrollieren, ihr Denken, ihre Sprache, ihre Gefühle. Sich selbst ihr eigener Bulle geworden sind.“
Dieser Text hier versucht ausdrücklich nicht, Klassen- und sogenannte Identitätspolitik gegeneinander auszuspielen.
Nun ist es so, dass ich an dem Kommentar Vieles nicht teile, vor allem nicht die Eindeutigkeit, mit der das politische Denken, Sprechen und Fühlen zurückgewiesen wird. Und doch kann ich dem Kern des Gedankens folgen: Dass das Private so zum Politischen hochgejubelt wird, dass soziale Kämpfe in deutschsprachigen Ländern kaum noch in die Offensive gehen.
Das hat zwei Gründe. Der eine ist eine legitime Repolitisierung des privaten Raumes und des Raumes der zwischenmenschlichen Beziehungen, die von verdeckten Herrschafts- und Geschlechterverhältnissen durchdrungen sind. Dieser Text hier versucht ausdrücklich nicht, Klassen- und sogenannte Identitätspolitik gegeneinander auszuspielen.
Der zweite Grund liegt in einem neuen politischen Zeitalter begründet, das sich durchgesetzt hat, der Hyperpolitik. Wir erleben eine Zeit der politisch aufgeladenen Debatten, in der sich viele Menschen wieder als politische Subjekte verstehen. Das ist erst mal etwas Gutes, denn es zeigt, dass sich Menschen für Politik interessieren – und für das Problematisieren von Ungerechtigkeitsverhältnissen. Anton Jäger, der den Begriff geprägt hat, zeigt jedoch die Kehrseite dieser Politisierung auf:
„Die ‚Hyper-Politik‘ zeichnet sich jedoch auch durch ihren spezifischen Fokus auf zwischenmenschliche und persönliche Gepflogenheiten aus. Das drückt sich vor allem in Moralismus aus und in der Unfähigkeit, die Dimensionen kollektiver Kämpfe zu durchdenken.“
Wenn der eigene Alltag, die Psyche und das eigene Handeln so mit Bedeutung aufgeladen wird, dann muss im Aussen nichts mehr passieren. Genial – für die Herrschenden.
Wir haben auf der einen Seite also eine Aufladung des Privaten, in der sich immer kleinteiligere Debatten als politische Akte verstehen, einhergehend mit einem Moralismus, der sich in Teilen umkehrt, und das, was er vorgibt zu sein – nämlich inklusiv – unterwandert.
Zwei Beispiele: Die Diskussion der Klimabewegung „Ende Gelände“ um Worte wie „Profit-Gier“, die in Twitter-Kommentaren als antisemitisch kritisiert wurden, oder das Wort „Bastard“ in der Parole „All Cops are Bastards“, das die Bewegung als „rassistisch und sexistisch“ benennt.
Auf der anderen Seite gibt es das Phänomen einer Psychologisierung und Pathologisierung des Alltags. Wenn Leute etwa sagen: „Jede*r sollte Therapie machen“, dann wird politische Arbeit vor allem als Arbeit am eigenen Selbst verstanden. Wenn der eigene Alltag, die Psyche und das eigene Handeln so mit Bedeutung aufgeladen wird, dann muss im Aussen nichts mehr passieren. Genial – für die Herrschenden.
Nun ist es nicht so, dass der Kapitalismus und die herrschenden Zustände keine Auswirkung auf die Psyche haben. Ich habe selbst ein Buch darüber geschrieben, wie das Aufwachsen in Armut psychische Störungen provoziert.
Es ist wichtig, dass Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen im Privaten bekämpft werden. Doch es besteht die Gefahr, in diesem Zug einen Ablasshandel zu machen. Wenn ich im WG-Plenum die ungleich verteilte Erledigung des Abwaschs problematisiere, kann ich danach die Füsse hochlegen, denn ich habe ja Politik gemacht. Das ist ein überzeichnetes Beispiel, aber vielleicht wird dadurch klar, was gemeint ist.
Vor allem im Blick auf Klasse und Menschen, die in Armut leben, stellt sich die Frage, wem bei dieser Art von Kämpfen geholfen ist, in dem sich oftmals gut ausgebildete Menschen aus privilegierten Teilen der Gesellschaft um sich selbst drehen. Die Selbstbeschäftigung linker Bubbles ist ein reales Phänomen, das für Armutsbetroffene, für alleinerziehende Mütter, für migrantische Lohnarbeiter*innen und Erwerbslose überhaupt keinen Nutzen hat.
In einem lesenswerten Text fragt die Erwerbslosen-Aktivistin Anne Seek im ND: „Wo war die Solidarisierung der linken Szene in Berlin, als die Initiative ‚#Ichbinarmutsbetroffen‘ im letzten Jahr eine Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt durchführte, mit eindrucksvollen Redebeiträgen von Betroffenen? Es kamen gerade mal 200 Menschen.“
Die Selbstbeschäftigung linker Bubbles ist ein reales Phänomen, das für Armutsbetroffene, für alleinerziehende Mütter, für migrantische Lohnarbeiter*innen und Erwerbslose überhaupt keinen Nutzen hat.
Armut als Thema ist nicht sonderlich sexy für viele Aktivist*innen. Arme Menschen teilen vor allem die Idee, nicht mehr arm zu sein, darüber hinaus haben sie viele verschiedene Vorstellungen davon, wie die Welt organisiert sein sollte. Nicht alle Ideen laufen auf eine Revolution heraus. Für politische Menschen, die einer Ideologie folgen, birgt dieser Umstand das Risiko, Menschen zu helfen, die ihrer politischen Vision potenziell ablehnend gegenüberstehen.
Und da sind wir wieder beim Moralismus und der Frage, welche Bedingungen Arme erfüllen müssen, damit Armut bekämpft wird. In meiner Vorstellung einer idealen Welt müssen Menschen keine Bedingungen erfüllen, damit man sich für sie einsetzt. Sie müssen nicht bestimmte Bücher gelesen haben, nicht den universitären Habitus teilen. Sie können Arschlöcher sein, sie können rassistische Sprache verwenden – was ich nicht gutheisse und was kritisiert gehört – und trotzdem haben sie ein Recht darauf, nicht in Armut zu leben.
Es geht in diesem Text nicht um das gegeneinander Ausspielen von legitimen Formen und Orten, an denen Politik stattfindet (Wohnung vs. Strasse, Sprachkritik vs. Klassenkampf). Sondern es geht darum, politische und soziale Kämpfe zum Erfolg zu führen und dafür braucht es eben nicht nur das Internet, das WG-Plenum oder die Unigruppe, sondern auch die Strasse. Es braucht nicht nur das Hinterfragen von sozialen Beziehungen, sondern auch die gewerkschaftliche Organisierung. Es braucht Lohnkampf. Es braucht Solidarisierung mit Erwerbslosen. Es braucht die Unterstützung und Verstetigung sozialer Proteste.
Warum also nicht gleich anfangen und am Ersten Mai gegen die Politik der Reichen auf die Strasse gehen. Es gilt, den eigenen inneren Goliath zu bekämpfen. Es gilt – in Solidarität mit allen Kämpfenden, allen Verachteten und Unterdrückten – dem Bullen in sich eine Absage zu erteilen.
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