So schnell wie möglich weg

Die Sank­tionen machen sich im russi­schen Alltag bemerkbar, die poli­ti­sche Repres­sion nimmt zu. Seit dem Angriffs­krieg gegen die Ukraine verlassen immer mehr Russ*innen das eigene Land. Ekate­rina und Elias erzählen ihre Geschichte. 
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 führte nicht nur zu Fluchtbewegungen aus der Ukraine, sondern auch zu einer starken Emigration aus Russland. (Illustration: Stefanie Lechthaler @steffischtrub)

Am 24. Februar 2022, als Präsi­dent Putin eine „Spezi­al­ope­ra­tion“ in der Ukraine ankün­digt, öffnet Ekate­rina Lawrent­jewa, die eigent­lich anders heisst, einen geheimen Tele­gram-Chat. Mittels sich selbst löschender Nach­richten warnt sie: “Ruf mich nicht an, Anrufe in Tele­gram sind nicht geschützt.” Dann schreibt sie: „Ich brauche Hilfe. Wie kann ich aus Russ­land fliehen?“

Ekate­rina will Russ­land verlassen, aber nicht wegen poli­ti­scher Verfol­gung: Ihr Job als Lehrerin an einer öffent­li­chen Grund­schule, ihr junger Sohn und ihre gesund­heit­li­chen Probleme haben es ihr nie erlaubt, sich offen gegen Putins Herr­schaft aufzu­lehnen. Zu sehr fürchtet sie um ihren Arbeits­platz in der kleinen Provinz­stadt und um das Sorge­recht für ihren Sohn. Ihr Ehemann, ein Bürger von Belarus, wurde in seiner Heimat bereits zu zehn Jahren Haft verur­teilt, weil er im Jahr 2020 an den Prote­sten in Minsk teil­ge­nommen hatte.

Keine Zukunft

Nach der Ankün­di­gung des zweiten Sank­ti­ons­pa­kets gegen Russ­land am 26. Februar 2022 schreibt mir Ekate­rina: „Wir müssen uns auf eine Wieder­ho­lung dessen vorbe­reiten, was nach den Tsche­tsche­ni­en­kriegen geschah: Bandit*innen auf den Strassen, wie in den 90er-Jahren. Eine schwere Wirt­schafts­krise und den Eisernen Vorhang.“ In der Schule, in der Ekate­rina seit zehn Jahren unter­richtet, wurden die Lehrer*innen nach der letzten russi­schen Inva­sion in der Ukraine ange­wiesen, „patrio­ti­schen Unter­richt“ für die Kinder abzu­halten. Ekate­rina will keine solche Zukunft für ihr Kind.

Ihr Sohn leidet an Schup­pen­flechte, sie selbst hat Diabetes. Anfang März 2022 leiht sie sich Geld von Freund*innen, um die Medi­ka­mente für ihre chro­ni­schen Erkran­kungen auf Vorrat zu kaufen. Sie schreibt: „Ich habe 15 Apotheken und 8 andere Läden abge­klap­pert. Ich habe alle Medi­ka­mente gekauft, die ich für mich und meinen Sohn finden konnte.“

Aber schon bald werden bestimmte Medi­ka­mente in russi­schen Kran­ken­häu­sern und Apotheken knapp – wegen der Panik, aber auch wegen der sank­ti­ons­be­dingten logi­sti­schen Liefer­un­ter­bre­chungen. Nach einer Weile muss sich Ekate­rina nach einem Ersatz für ihr Medi­ka­ment umsehen. Humalog, ein Ersatz für mensch­li­ches Insulin, das sie seit Jahren einnimmt, findet sie nicht mehr. „Alter­na­tive Medi­ka­mente für meinen Sohn werde ich aber kaum finden“, schreibt sie und schluss­fol­gert: „Wir müssen irgend­wohin, so schnell wie möglich.“

Nicht will­kommen

Doch selbst die billig­sten Flug­tickets, um Russ­land zu verlassen, und die günstig­sten Miet­woh­nungen in mögli­chen Ziel­län­dern erweisen sich für Ekate­rina als zu teuer – beson­ders jetzt, wenn der Rubel­kurs instabil ist. Ein Flug­ticket von Moskau in die arme­ni­sche Haupt­stadt Jerewan kostet rund 700 Dollar. Sie muss also erst sparen, für mehrere Monate.

In den folgenden Monaten disku­tieren wir, wohin Ekate­rina auswan­dern könnte. Sie war noch nie ausser­halb Russ­lands. Ein Tourist*innenvisum wird ihr und ihrem Sohn bereits im März verwei­gert – von Grie­chen­land, das diese Visa norma­ler­weise problemlos an Russ*innen ausge­stellt hat. Es wurde zwar offi­ziell nicht so ange­kün­digt, sagt Ekate­rina, aber in der Praxis verwei­gern viele Länder Russ*innen die Visa.

Ekate­rina will erneut einen Visums­an­trag stellen, aber inzwi­schen hat sich die Lage in den meisten euro­päi­schen Ländern verschlech­tert. Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Zelensky sagt in einem Inter­view mit der Washington Post, dass Europa keine Russ*innen mehr einreisen lassen sollte. Und dieje­nigen, die bereits in Europa ange­kommen seien, sollten ausge­wiesen werden. Er fordert Lett­land, Litauen, Estland und die Tsche­chi­sche Repu­blik auf, die Ausstel­lung von Kurz­zeit­visa für russi­sche Staatsbürger*innen auszu­setzen. In der Folge setzen die Länder die Ertei­lung dieser Visa an Russ*innen fast voll­ständig aus, Finn­land verlang­samt kurze Zeit später die Visaerteilung.

Und poli­ti­sches Asyl bean­tragen? Hierzu braucht man etliche Beweise, die eine Verfol­gung durch den Staat, die Teil­nahme an Prote­sten oder etwa die Zusam­men­ar­beit mit verfolgten Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen bestä­tigen. Oder Doku­mente, die Schä­di­gungen infolge einer Verwei­ge­rung der medi­zi­ni­schen Versor­gung von Patient*innen mit HIV und AIDS beweisen.

Obwohl Ekate­rina das Regime vehe­ment ablehnt und um die eigene medi­zi­ni­sche Versor­gung und die ihres Sohnes bangt: Sie ist eindeutig zu wenig bedroht und zu wenig krank, um über­haupt nur schon zu versu­chen, in einem euro­päi­schen Land Schutz zu bean­spru­chen. Und das ironi­scher­weise, weil sie sich in ihrer Heimat vor Repres­sionen schützen wollte.

Ekate­rina und ihr Sohn besitzen neben der russi­schen auch die bela­rus­si­sche Staats­bür­ger­schaft, und eine zweite Staats­an­ge­hö­rig­keit stellt in vielen Fällen weitere Einrei­se­mög­lich­keiten in Aussicht. Doch Ihnen hilft diese Tatsache nicht, Russ­land zu verlassen. Denn nach dem mehr­mo­na­tigen Krieg verschlech­tert sich die Situa­tion bei der Ausstel­lung von Visa nicht nur für Russ*innen, sondern auch für bela­rus­si­sche Bürger*innen.

„Die Belaruss*innen, die 2020 verzwei­felt gegen das Lukaschenka-Regime gekämpft haben, wurden genauso uner­wünscht wie die Russen*innen“, erklärt Ekate­rina. „Ich habe meinen Mann im Kampf gegen das Lukaschenka-Regime verloren, jetzt muss ich als allein­er­zie­hende Mutter vor Putins Regime fliehen.“ Ekate­rina fasst ihre Gefühle über das Weggehen zusammen: „Ich fühle mich wie eine Persona non grata.“

Neube­ginn

Als sie nach vier Monaten genug Geld gespart hat, kauft sich Ekate­rina schliess­lich zwei einfache Flug­tickets nach Arme­nien und mietet ein Zimmer am Rande der Stadt Jerewan. Wie vielen Russ*innen gelingt ihr die Flucht in eines der Nach­bar­länder – denn in Arme­nien, Geor­gien oder Kasach­stan sind die büro­kra­ti­schen Anfor­de­rungen für die Einreise deut­lich geringer als in den meisten euro­päi­schen Ländern. Mehr als 400’000 Menschen haben Russ­land in der ersten Hälfte des Jahres 2022 verlassen – doppelt so viele wie im Vorjahr. Es ist das erste Mal in der jüngeren Geschichte Russ­lands, dass das Land eine höhere Aus- als Einwan­de­rung verzeichnet.

Obwohl Ekate­rina mit ihrem Sohn in einem kleinen Zimmer in einer Wohnung mit vielen anderen Emigrant*innen aus Russ­land leben und nur gerade genug Geld für Lebens­mittel und Medi­ka­mente haben, ist sie sehr froh, es nach Jerewan geschafft zu haben: „In Arme­nien spre­chen mehr als 70 Prozent der Bevöl­ke­rung Russisch, die russi­sche Sprache ist Pflicht­fach in den arme­ni­schen Schulen. So wird es für mich und meinen Sohn einfa­cher sein, Kontakte zu knüpfen.“

Heute sucht Ekate­rina in Arme­nien einen Job. Sie unter­richtet bereits Englisch und Deutsch als Privat­leh­rerin, aber sobald die Erspar­nisse aufge­braucht sind, wird dieses Gehalt für ihr Leben in Jerewan nicht mehr ausrei­chen. Während ihrer Suche wird Ekate­rina immer wieder mit Ange­boten konfron­tiert, in der Sexin­du­strie zu arbeiten. „Zuerst war ich furchtbar belei­digt. Aber ich verstehe, dass viele Frauen in den Bereich der Sexdienst­lei­stungen einsteigen“, sagt sie und meint: „Es ist gut, dass ich Fremd­spra­chen beherr­sche und einen Job in meinem Beruf finden kann.“

Ekate­rina gibt zu, dass das Leben in Arme­nien manchmal sehr schwierig und einsam für sie ist. Dennoch sagt sie: „Ich werde mein Bestes tun, um weder nach Russ­land noch nach Belarus zurück­kehren zu müssen. Solange die dortigen Regimes nicht gestürzt sind, haben weder ich noch mein Sohn eine Zukunft.“

Poli­tisch aktiv

Anfang März 2022 schreibt Elias Drobin­eine, der seinen rich­tigen Namen nicht in der Presse lesen will, eine Reihe von Posts gegen die aggres­sive Aussen­po­litik Russ­lands. Sie verbreiten sich schnell in den sozialen Medien. Gleich­zeitig wird in Russ­land eine Reihe neuer Gesetze verab­schiedet, die alles, was er postet, unter Strafe stellt. Es ist nun illegal, Russ­lands gross ange­legten Krieg in der Ukraine über­haupt als „Krieg“ zu bezeichnen.

Allein im Jahr 2021 hatte die Staats­an­walt­schaft vier Straf­ver­fahren gegen den LGBTQ+-Aktivisten aus Moskau einge­leitet – alle wegen Akti­vismus, da er sich an den provo­ka­tiven Aktionen der berühmten Gruppe Pussy Riot betei­ligte. Aller­dings wurden bereits zuvor Verfahren gegen ihn eröffnet. Die Chancen, dass Elias einen Frei­spruch erhält, sinken allmäh­lich wegen der erneuten Verschär­fung der Repres­sion und der Einfüh­rung der Militärzensur.

„Ich habe schon lange darüber nach­ge­dacht, Russ­land zu verlassen“, sagt Elias heute. Doch die finan­zi­elle Situa­tion, fami­liäre Probleme und der Wunsch, etwas in seinem Land zu verän­dern, hätten ihn davon abge­halten. Der Krieg Russ­lands gegen die Ukraine und die zuneh­menden Repres­sionen stellen ihn nun vor die Wahl: entweder ausreisen oder in abseh­barer Zeit verhaftet werden.

Die Verschär­fung der Gesetze, die Angriffe auf Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen oder die Kontrolle der Tele­fone von Passant*innen durch die Polizei in der U‑Bahn – all dies deutet darauf hin, dass Elias jeder­zeit verhaftet werden könnte. Vor seiner Abreise stellt er fest, dass er verfolgt wird. „Seit Kurzem steht ein Poli­zei­auto ständig vor meinem Haus. Ich versuche, das Haus erst zu verlassen, wenn das Auto weg ist“, schreibt er auf Telegram.

Eiserne Faust

Im März 2022 war einer von Elias‘ Fällen aus dem Jahr 2018 noch beim Euro­päi­schen Gerichtshof für Menschen­rechte hängig. Mit dem Ausschluss Russ­lands aus dem Euro­parat am 16. März hat sich die Situa­tion für ihn wie für viele andere Aktivist*innen in Russ­land noch­mals verschlech­tert. Er hat nun keine legalen Möglich­keiten mehr, Druck auf die Behörden auszu­üben, indem er an ein inter­na­tio­nales Gericht appelliert.

Zur glei­chen Zeit, sagt Elias, gab es das erste Gerücht, dass die mili­tä­ri­sche Mobi­li­sie­rung ausge­weitet würde. Elias war bis anhin vom Mili­tär­dienst ausge­nommen, weil er ein trans Mann ist. Aber diese Ausnahme ist nicht in Stein gemeis­selt: Wenn die Reserven aufge­braucht sind, werden alle mobi­li­siert – auch trans Menschen. „Erst wusste ich nicht, was ich tun sollte“, sagt Elias. „Dann haben meine Frau und ich uns hinge­setzt, nach­ge­dacht und beschlossen, zu gehen.“

Doch die Zeit bis zur Abreise dauert. Sie müssen zunächst die notwen­digen Doku­mente beschaffen – nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Haus­ratten, die sie nicht zurück­lassen wollen. Zu dieser Zeit erhalte ich eine Nach­richt: „Heute Morgen hörte ich im Halb­schlaf unsere Türklingel. Ich dachte, dass ich träume. Später sagte mein Nachbar, dass es kein Traum war – vor der Türe haben Poli­zi­sten gewartet.“

Ich schlage Elias vor, sich an Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen in Europa zu wenden. Daraufhin antwortet er: „Das werden wir später brau­chen. Vor dem Flug­hafen werden wir so oder so alle Nach­richten löschen, damit es keine Probleme mit den russi­schen Grenzbeamt*innen gibt.“ Schliess­lich gelingt ihnen die Ausreise nach Geor­gien, ohne dass sie von den russi­schen Grenz­be­hörden verhört werden.

Zum ersten Mal im Leben sicher

Fast unmit­telbar nach seiner Ankunft in Geor­gien beginnt Elias, Fotos von der Pride in Tiflis auf Insta­gram zu posten. Im Vorfeld wurde die Durch­füh­rung des LGBTQ+-Marsches wegen etli­cher homo­phober Reak­tionen und der Gefahr mögli­cher Angriffe von geor­gi­schen Rechts­ra­di­kalen zwar infrage gestellt, aber Elias berichtet: „Ich kann es kaum glauben. Hier werde ich von der Polizei beschützt, in Russ­land musste ich mich vor der Polizei schützen. Ich fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben sicher.“

Dennoch erweist sich das Leben in Geor­gien für Elias’ Familie als schwierig. Aufgrund des Zustroms von Emigrant*innen aus Russ­land nach Geor­gien ist alles teurer geworden – die geor­gi­sche Regie­rung schätzt, dass seit Beginn der russi­schen Inva­sion in der Ukraine im Februar 2022 mehr als 30’000 russi­sche Staats­an­ge­hö­rige nach Geor­gien gekommen sind. Obwohl Elias ein Zusatz­ein­kommen aus der Unter­miete seiner Wohnung in Moskau hat und seine Frau als Free­lan­cerin weiter­ar­beitet, sei ihr Kühl­schrank oft leer.

Zumin­dest vermisst Elias Russ­land nicht: „Ich habe keinen Grund, zurück­zu­gehen.“ Obwohl in Geor­gien Graf­fiti mit der Aufschrift „Russen geht nach Hause“ an den Wänden zu sehen sind und es Fälle von Russo­phobie gibt, sind weder Elias noch seine Frau persön­lich damit konfron­tiert worden. Trotzdem planen sie, Geor­gien zu verlassen – nicht nach Europa, sondern in die USA. Sie wollen die US-Grenze von Mexiko aus über­queren und poli­ti­sches Asyl bean­tragen. „Poli­ti­sche Emigrant*innen aus Russ­land werden dort mit mehr Herz­lich­keit behan­delt als in Europa“, meint Elias.

Am 21. September 2022 kündigte Wladimir Putin eine Teil­mo­bi­li­sie­rung der mili­tä­ri­schen Reserven zur Verstär­kung seiner Truppen in der Ukraine an. Viele Russ*innen versuchten daraufhin One-Way-Flug­tickets zu kaufen, um das Land zu verlassen. Die Preise für Flüge in der Economy Class sind in manchen Fällen auf mehr als 9’000 Dollar angestiegen.

Liza Shishko ist russisch-ukrai­ni­sche Jour­na­li­stin und Blog­gerin. Sie lebt seit vier Jahren in Nord­sy­rien, von wo aus sie für unab­hän­gige russi­sche, ukrai­ni­sche, sowie italie­ni­sche Medien schreibt.

Dieser Artikel wurde von Maria-Theres Schuler vom Engli­schen ins Deut­sche übersetzt.


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