Was haben wir getan, bevor wir Begriffe wie „Mental Load”, „Toxic Masculinity” oder „Gaslighting” hatten? Wahrscheinlich haben wir viel gefühlt, geschluckt und drum herum geredet, ohne passende Worte zu finden.
Zumindest ging das mir so, denn jedes Mal, wenn ich einen Ausdruck für etwas finde, das ich vorher nicht auf den Punkt bringen konnte, fühlt es sich an, als löste sich ein Knoten: Erleichterung pur.
Neulich co-organisierte ich mit meinen Studis einen Event, an dem sie ihre Abschlussprojekte vorstellten. Wir beschlossen, dass alle Gäste während der Veranstaltung eine bestimmte Rolle einnehmen sollten. Besuchende konnten den Projekten etwa mit dem Motto begegnen: „We listen and we don’t judge“ – die Person sollte also zuhören, ohne zu werten. Es gab auch den „Certified Yapper“ – eine Person, die gerne zu allem etwas sagt.
Benennung macht das Unsichtbare sichtbar und das Unaussprechliche sagbar.
Während des Events kam ein Bekannter von mir und manövrierte sich unfreiwillig in die Rolle des „Certified Yappers”: Er redete und redete. Nicht unangenehm oder langweilig, aber sehr beständig, sodass meine Freundin und ich kaum Gelegenheit fanden, in das Gespräch einzusteigen. Yappen per Definition.
Als er endlich für einen Moment still war, hielt ich ihm grosszügig einen Button mit dem Aufdruck „Certified Yapper“ hin. Für mich war das ein Aha-Erlebnis: Dieser Begriff brachte genau auf den Punkt, wie es sich anfühlt, von einer überwältigenden Flut unaufhörlichen Redens überrollt zu werden. Er war am yappen – und der Button zertifizierte es und gab meinem vagen Gefühl eine greifbare Form.
Mir wurde klar: Benennung macht das Unsichtbare sichtbar und das Unaussprechliche sagbar.
Eine Form von Verständnis
In der sozialkonstruktivistischen Theorie spielt genau dieser Aspekt der Sprache eine zentrale Rolle: Sie hilft nicht nur dabei, Erlebnisse zu benennen, sondern schafft auch eine Form von Verständnis. Oder anders gesagt: Sprache ist nicht nur ein Werkzeug, um zu beschreiben, sondern formt, wie wir die Welt verstehen und wie wir sie anderen mitteilen können. Ein Begriff wie „Yapper“ setzt eine ansonsten diffuse Erfahrung in einen sprachlichen Rahmen und lässt uns diese Erfahrung nicht nur verstehen, sondern auch in der Gesellschaft verorten.
Nicht jede Sprache funktioniert dabei gleich.
Vor einigen Jahren habe ich eine Sammlung von sehr spezifischen Begriffen auf Japanisch entdeckt. Sie beschreiben etwas, das im Deutschen oder Englischen nur mit vielen Worten zum Ausdruck gebracht werden kann. „Tsundoku“ beschreibt das Kaufen von Büchern, ohne sie zu lesen – wer kennt das nicht? Oder „kuchisabishii” das Gefühl, wenn man nicht wirklich hungrig ist, aber dennoch aus Langeweile oder Gewohnheit etwas isst. Wörtlich übersetzt bedeuten die Zeichen passenderweise „einsamer Mund”. Oder mein Liebling: Wenn jemand anbietet, etwas für dich zu tun, was du gar nicht willst, aber die Person tut es trotzdem, aber extrem schlecht. Dann musst du dich dennoch bedanken, weil es gesellschaftlich von dir erwartet wird, obwohl der „Gefallen” eigentlich nur Ärger und Aufwand bedeutet hat. Kurz: „Arigata-meiwaku”.
Längst sind die Zeiten vorbei, in denen das Wissen der Welt zwischen zwei Buchdeckel passen musste. Gut so, denn statt in verstaubten Enzyklopädien im untersten Regalfach kann Wissen in ganz unterschiedlichen Formen kommen.
Doch was zählt überhaupt als Wissen? Wer bestimmt darüber und wer hat Zugang dazu? In der Annzyklopädie widmet sich Ann Mbuti den Wissensformen unserer Zeit. Mit kritischem Blick und einer gesunden Skepsis nimmt sie unsere individuellen Perspektiven und Erfahrungen unter die Lupe, die die Art und Weise prägen, wie Wissen gesammelt und interpretiert wird.

Ann Mbuti ist unabhängige Autorin mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Kunst und Popkultur. Ihre Arbeit konzentriert sich auf künstlerische Projekte, die das Potenzial für soziale, politische oder ökologische Veränderungen haben. Derzeit beschäftigt sie sich mit Mythologien, mündlicher Geschichte, Science Fiction und der Verschmelzung von Fakten und Fiktion. Seit 2024 ist sie Professorin für Prozessgestaltung am HyperWerk der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel.
Auch Konzepte wie „Cancel Culture“, „the ick“, „Brainrot” oder „Silent Quitting“ sind nicht bloss Modewörter. In ihnen verdichten sich individuelle Erfahrungen, Verhaltensweisen und deren Deutungen zu eingängigen Begriffen. Die jeweiligen Bezeichnungen heben sie aus dem subjektiven Empfinden der Einzelnen in eine gesellschaftliche Debatte.
Die Macht der Sprache
So funktioniert Sprache und so funktioniert ihre Macht. Man beschreibt es auch als einen Sprechakt – also nicht nur das Sagen von etwas, sondern die Handlung, die beim Sprechen vollzogen wird. Ein solcher Akt ist mehr als die Vermittlung von Informationen, denn er hat konkrete soziale Auswirkungen. Kollektive Aufmerksamkeit wird gebündelt und dadurch verschiebt sich die soziale Wirklichkeit.
Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann verbindet das mit der Idee von Anschlussfähigkeit: Nur, was kommunizierbar ist, kann weitergegeben und diskutiert werden. Ein Begriff, der zirkuliert, wird anschlussfähig – nicht weil er per se wahr ist, sondern weil er verständlich, relevant oder emotional wirksam genug ist, um weitere Gespräche, Reaktionen oder Debatten auszulösen.
Doch genau diese Anschlussfähigkeit lässt sich nicht nur für Verständnis und Sichtbarkeit nutzen. Sie ist auch ein machtvolles rhetorisches Werkzeug.
Etwa in populistischen Diskursen kann Sprache ein- und ausgrenzen, emotionalisieren, komplexe Zusammenhänge in knackigen Parolen vereinfachen und Diskurse gezielt in bestimmte Bahnen lenken.
Über 200 Begriffe, die mit Inklusion und Diversität in Verbindung stehen, wurden aus dem offiziellen Sprachgebrauch von US-Behörden gestrichen.
Besonders deutlich zeigt sich das in der Frage, welche Wörter gesagt werden dürfen – und welche nicht. Die Debatte um genderinklusive Sprache beispielsweise ist mehr als nur eine Nuance der Grammatik, sondern eine bewusste Intervention in unsere Vorstellung von Geschlecht.
Erst im November 2024 musste die Zürcher Bevölkerung über die Volksinitiative „Tschüss Genderstern!“ abstimmen, die ein Verbot des Gendersterns in amtlichen Dokumenten gefordert hatte. Eine knappe Mehrheit lehnte ab. Doch der politische Kampf um Sprache ist damit längst nicht vorbei – weder in der Eidgenoss*innenschaft, noch international. Denn wer die Sprache kontrolliert, kontrolliert oft auch, worüber gesprochen wird – und wie.
In den USA laufen die aktuellen Diskussionen um den Begriff „wokeness” heiss. Ursprünglich aus der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, war der Ausdruck einst ein Aufruf zu mehr Wachsamkeit gegenüber Rassismus und sozialer Ungleichheit. Etwas, auf das man als Gesellschaft stolz sein sollte. Heute haben konservative Kreise ihn fast vollständig umcodiert: Aus „woke“ ist eine Abwertung geworden. Der Begriff meint nun übertrieben politisch korrekt, identitätspolitisch oder links (in a bad way).
Vielleicht brauchen wir neue Begriffe, die ein kollektives Aha-Erlebnis auslösen.
In dieser Umdeutung steckt ein mächtiger Mechanismus: Indem man einem Wort neue Bedeutungsebenen gibt, verschiebt man den Duktus von Debatten, delegitimiert Bewegungen oder zieht ihre Anliegen ins lächerliche, ohne sich mit den Inhalten ernsthaft auseinanderzusetzen. Eine sachliche Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus oder Geschlechtergerechtigkeit wird diskursiv erstickt, indem sie mit der „woke ideology“-Keule abgeschmettert wird.
Die Regierung unter Präsident Trump verfolgt eine aggressive Politik, die sich auch sprachlich niederschlägt: Über 200 Begriffe, die mit Inklusion und Diversität in Verbindung stehen, wurden aus dem offiziellen Sprachgebrauch von Behörden gestrichen. „Trans“, „Pronomen“, „Geschlecht“ und „marginalisiert“ sind begriffliche Opfer eines umfassenden Kulturkampfes gegen bestimmte Haltungen.
Wort für Wort
Sprache bedeutet Ordnung – und jede Ordnung bringt Ausschlüsse mit sich. Doch gerade da Sprache wandelbar ist, kann sie nicht nur vereinnahmt, sondern auch zurückerobert werden.
Vielleicht brauchen wir ganz neue Begriffe über Gemeinschaft, Reflexion und Widerstand, die das kollektive Aha-Erlebnis auslösen, wenn jemand auf den Punkt bringt, was man latent gespürt hat.
Ich mache gleich ein paar Vorschläge: Etwa „sozialer Rebound” – der Moment, in dem man nach längerer Zurückgezogenheit oder Erschöpfung in einer sozialen Situation wieder aufblüht – nicht trotz, sondern gerade wegen der Überwindung.
Wer spricht, schafft Wirklichkeit.
Oder wie wäre es mit „Diskurspolicing”: Wenn Debatten nicht mehr inhaltlich geführt werden, sondern es stattdessen nur noch um Ton, Wortwahl oder Gesinnungen geht.
„Moral Fade” nenne ich den schleichenden Prozess, in dem Werte wie Solidarität oder Gerechtigkeit aus dem Fokus politischer Debatten gedrängt werden.
Die „Westbrille”, bezeichnet die selektive, westlich geprägte Wahrnehmung geopolitischer Krisenlagen, die all jene ausserhalb der eigenen Interessensphäre ignorieren oder unterkomplex darstellen.
Solche Neuschöpfungen mögen wie ein kleiner Schritt erscheinen, aber sie tragen zu einem neuen Selbstverständnis bei. Wort für Wort wird Sprache mehr als ein Mittel, die Welt zu beschreiben – sie wird zur Einladung, sie mitzugestalten.
Wer spricht, schafft Wirklichkeit. Und wer Neues sagt, schafft neue Möglichkeiten, diese Welt zu erleben. Aus dem Sprechakt wird ein „Sprechaktivismus” und Sprache wandelt sich vom Werkzeug zu einem aktiven Prozess. Dieser geht über das blosse Beschreiben hinaus: Er wird zu einem Handeln, das gezielt Veränderung bewirken will, indem es neue Narrative, Perspektiven und Werte in den Raum stellt. Wer neue Begriffe prägt, hinterfragt nicht nur bestehende Strukturen – sondern baut aktiv neue Brücken zwischen Ideen und Handlungsmöglichkeiten.
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