Sprache als poli­ti­scher Akt

Reak­tio­näre poli­ti­sche Kräfte verein­nahmen Worte wie „woke” für ihre Zwecke. Wer spricht, hat poli­ti­sche Macht. Es ist Zeit, dass die Sprache zurück­er­obert wird, findet unsere Autorin – und macht Vorschläge. 
Sprache ist ein politisches Werkzeug: Wer Begriffe neu besetzt, schafft gesellschaftliche Ordnungen. (Illustration: Luca Mondgenast)

Was haben wir getan, bevor wir Begriffe wie „Mental Load”, „Toxic Mascu­li­nity” oder „Gaslighting” hatten? Wahr­schein­lich haben wir viel gefühlt, geschluckt und drum herum geredet, ohne passende Worte zu finden.

Zumin­dest ging das mir so, denn jedes Mal, wenn ich einen Ausdruck für etwas finde, das ich vorher nicht auf den Punkt bringen konnte, fühlt es sich an, als löste sich ein Knoten: Erleich­te­rung pur.

Neulich co-orga­ni­sierte ich mit meinen Studis einen Event, an dem sie ihre Abschluss­pro­jekte vorstellten. Wir beschlossen, dass alle Gäste während der Veran­stal­tung eine bestimmte Rolle einnehmen sollten. Besu­chende konnten den Projekten etwa mit dem Motto begegnen:  „We listen and we don’t judge“ – die Person sollte also zuhören, ohne zu werten. Es gab auch den „Certi­fied Yapper“ – eine Person, die gerne zu allem etwas sagt.

Benen­nung macht das Unsicht­bare sichtbar und das Unaus­sprech­liche sagbar.

Während des Events kam ein Bekannter von mir und manö­vrierte sich unfrei­willig in die Rolle des „Certi­fied Yappers”: Er redete und redete. Nicht unan­ge­nehm oder lang­weilig, aber sehr beständig, sodass meine Freundin und ich kaum Gele­gen­heit fanden, in das Gespräch einzu­steigen. Yappen per Definition. 

Als er endlich für einen Moment still war, hielt ich ihm gross­zügig einen Button mit dem Aufdruck „Certi­fied Yapper“ hin. Für mich war das ein Aha-Erlebnis: Dieser Begriff brachte genau auf den Punkt, wie es sich anfühlt, von einer über­wäl­ti­genden Flut unauf­hör­li­chen Redens über­rollt zu werden. Er war am yappen – und der Button zerti­fi­zierte es und gab meinem vagen Gefühl eine greif­bare Form.

Mir wurde klar: Benen­nung macht das Unsicht­bare sichtbar und das Unaus­sprech­liche sagbar.

Eine Form von Verständnis

In der sozi­al­kon­struk­ti­vi­sti­schen Theorie spielt genau dieser Aspekt der Sprache eine zentrale Rolle: Sie hilft nicht nur dabei, Erleb­nisse zu benennen, sondern schafft auch eine Form von Verständnis. Oder anders gesagt: Sprache ist nicht nur ein Werk­zeug, um zu beschreiben, sondern formt, wie wir die Welt verstehen und wie wir sie anderen mitteilen können. Ein Begriff wie „Yapper“ setzt eine anson­sten diffuse Erfah­rung in einen sprach­li­chen Rahmen und lässt uns diese Erfah­rung nicht nur verstehen, sondern auch in der Gesell­schaft verorten.

Nicht jede Sprache funk­tio­niert dabei gleich. 

Vor einigen Jahren habe ich eine Samm­lung von sehr spezi­fi­schen Begriffen auf Japa­nisch entdeckt. Sie beschreiben etwas, das im Deut­schen oder Engli­schen nur mit vielen Worten zum Ausdruck gebracht werden kann. „Tsun­doku“ beschreibt das Kaufen von Büchern, ohne sie zu lesen – wer kennt das nicht? Oder „kuchisa­bishii” das Gefühl, wenn man nicht wirk­lich hungrig ist, aber dennoch aus Lange­weile oder Gewohn­heit etwas isst. Wört­lich über­setzt bedeuten die Zeichen passen­der­weise „einsamer Mund”. Oder mein Lieb­ling: Wenn jemand anbietet, etwas für dich zu tun, was du gar nicht willst, aber die Person tut es trotzdem, aber extrem schlecht. Dann musst du dich dennoch bedanken, weil es gesell­schaft­lich von dir erwartet wird, obwohl der „Gefallen” eigent­lich nur Ärger und Aufwand bedeutet hat. Kurz: „Arigata-meiwaku”.

Längst sind die Zeiten vorbei, in denen das Wissen der Welt zwischen zwei Buch­deckel passen musste. Gut so, denn statt in verstaubten Enzy­klo­pä­dien im unter­sten Regal­fach kann Wissen in ganz unter­schied­li­chen Formen kommen. 

Doch was zählt über­haupt als Wissen? Wer bestimmt darüber und wer hat Zugang dazu? In der Annzy­klo­pädie widmet sich Ann Mbuti den Wissens­formen unserer Zeit. Mit kriti­schem Blick und einer gesunden Skepsis nimmt sie unsere indi­vi­du­ellen Perspek­tiven und Erfah­rungen unter die Lupe, die die Art und Weise prägen, wie Wissen gesam­melt und inter­pre­tiert wird.

Ann Mbuti ist unab­hän­gige Autorin mit Schwer­punkt auf zeit­ge­nös­si­scher Kunst und Popkultur. Ihre Arbeit konzen­triert sich auf künst­le­ri­sche Projekte, die das Poten­zial für soziale, poli­ti­sche oder ökolo­gi­sche Verän­de­rungen haben. Derzeit beschäf­tigt sie sich mit Mytho­lo­gien, münd­li­cher Geschichte, Science Fiction und der Verschmel­zung von Fakten und Fiktion. Seit 2024 ist sie Profes­sorin für Prozess­ge­stal­tung am Hyper­Werk der Hoch­schule für Gestal­tung und Kunst in Basel.

Auch Konzepte wie „Cancel Culture“, „the ick“, „Brainrot” oder „Silent Quit­ting“ sind nicht bloss Mode­wörter. In ihnen verdichten sich indi­vi­du­elle Erfah­rungen, Verhal­tens­weisen und deren Deutungen zu eingän­gigen Begriffen. Die jewei­ligen Bezeich­nungen heben sie aus dem subjek­tiven Empfinden der Einzelnen in eine gesell­schaft­liche Debatte.

Die Macht der Sprache

So funk­tio­niert Sprache und so funk­tio­niert ihre Macht. Man beschreibt es auch als einen Sprechakt – also nicht nur das Sagen von etwas, sondern die Hand­lung, die beim Spre­chen voll­zogen wird. Ein solcher Akt ist mehr als die Vermitt­lung von Infor­ma­tionen, denn er hat konkrete soziale Auswir­kungen. Kollek­tive Aufmerk­sam­keit wird gebün­delt und dadurch verschiebt sich die soziale Wirklichkeit.

Der deut­sche Sozio­loge Niklas Luhmann verbindet das mit der Idee von Anschluss­fä­hig­keit: Nur, was kommu­ni­zierbar ist, kann weiter­ge­geben und disku­tiert werden. Ein Begriff, der zirku­liert, wird anschluss­fähig – nicht weil er per se wahr ist, sondern weil er verständ­lich, rele­vant oder emotional wirksam genug ist, um weitere Gespräche, Reak­tionen oder Debatten auszulösen. 

Doch genau diese Anschluss­fä­hig­keit lässt sich nicht nur für Verständnis und Sicht­bar­keit nutzen. Sie ist auch ein macht­volles rheto­ri­sches Werkzeug.

Etwa in popu­li­sti­schen Diskursen kann Sprache ein- und ausgrenzen, emotio­na­li­sieren, komplexe Zusam­men­hänge in knackigen Parolen verein­fa­chen und Diskurse gezielt in bestimmte Bahnen lenken.

Über 200 Begriffe, die mit Inklu­sion und Diver­sität in Verbin­dung stehen, wurden aus dem offi­zi­ellen Sprach­ge­brauch von US-Behörden gestrichen.

Beson­ders deut­lich zeigt sich das in der Frage, welche Wörter gesagt werden dürfen – und welche nicht. Die Debatte um gender­in­k­lu­sive Sprache beispiels­weise ist mehr als nur eine Nuance der Gram­matik, sondern eine bewusste Inter­ven­tion in unsere Vorstel­lung von Geschlecht. 

Erst im November 2024 musste die Zürcher Bevöl­ke­rung über die Volks­in­itia­tive „Tschüss Gender­stern!“ abstimmen, die ein Verbot des Gender­sterns in amtli­chen Doku­menten gefor­dert hatte. Eine knappe Mehr­heit lehnte ab. Doch der poli­ti­sche Kampf um Sprache ist damit längst nicht vorbei – weder in der Eidgenoss*innenschaft, noch inter­na­tional. Denn wer die Sprache kontrol­liert, kontrol­liert oft auch, worüber gespro­chen wird – und wie.

In den USA laufen die aktu­ellen Diskus­sionen um den Begriff „woke­ness” heiss. Ursprüng­lich aus der afro­ame­ri­ka­ni­schen Bürger­rechts­be­we­gung, war der Ausdruck einst ein Aufruf zu mehr Wach­sam­keit gegen­über Rassismus und sozialer Ungleich­heit. Etwas, auf das man als Gesell­schaft stolz sein sollte. Heute haben konser­va­tive Kreise ihn fast voll­ständig umco­diert: Aus „woke“ ist eine Abwer­tung geworden. Der Begriff meint nun über­trieben poli­tisch korrekt, iden­ti­täts­po­li­tisch oder links (in a bad way).

Viel­leicht brau­chen wir neue Begriffe, die ein kollek­tives Aha-Erlebnis auslösen. 

In dieser Umdeu­tung steckt ein mäch­tiger Mecha­nismus: Indem man einem Wort neue Bedeu­tungs­ebenen gibt, verschiebt man den Duktus von Debatten, dele­gi­ti­miert Bewe­gungen oder zieht ihre Anliegen ins lächer­liche, ohne sich mit den Inhalten ernst­haft ausein­an­der­zu­setzen. Eine sach­liche Ausein­an­der­set­zung mit struk­tu­rellem Rassismus oder Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit wird diskursiv erstickt, indem sie mit der „woke ideology“-Keule abge­schmet­tert wird.

Die Regie­rung unter Präsi­dent Trump verfolgt eine aggres­sive Politik, die sich auch sprach­lich nieder­schlägt: Über 200 Begriffe, die mit Inklu­sion und Diver­sität in Verbin­dung stehen, wurden aus dem offi­zi­ellen Sprach­ge­brauch von Behörden gestri­chen. „Trans“, „Pronomen“, „Geschlecht“ und „margi­na­li­siert“ sind begriff­liche Opfer eines umfas­senden Kultur­kampfes gegen bestimmte Haltungen.

Wort für Wort

Sprache bedeutet Ordnung – und jede Ordnung bringt Ausschlüsse mit sich. Doch gerade da Sprache wandelbar ist, kann sie nicht nur verein­nahmt, sondern auch zurück­er­obert werden. 

Viel­leicht brau­chen wir ganz neue Begriffe über Gemein­schaft, Refle­xion und Wider­stand, die das kollek­tive Aha-Erlebnis auslösen, wenn jemand auf den Punkt bringt, was man latent gespürt hat. 

Ich mache gleich ein paar Vorschläge: Etwa „sozialer Rebound” – der Moment, in dem man nach längerer Zurück­ge­zo­gen­heit oder Erschöp­fung in einer sozialen Situa­tion wieder aufblüht – nicht trotz, sondern gerade wegen der Überwindung.

Wer spricht, schafft Wirklichkeit.

Oder wie wäre es mit „Diskurs­po­li­cing”: Wenn Debatten nicht mehr inhalt­lich geführt werden, sondern es statt­dessen nur noch um Ton, Wort­wahl oder Gesin­nungen geht.

„Moral Fade” nenne ich den schlei­chenden Prozess, in dem Werte wie Soli­da­rität oder Gerech­tig­keit aus dem Fokus poli­ti­scher Debatten gedrängt werden.

Die „West­brille”, bezeichnet die selek­tive, west­lich geprägte Wahr­neh­mung geopo­li­ti­scher Krisen­lagen, die all jene ausser­halb der eigenen Inter­es­sensphäre igno­rieren oder unter­kom­plex darstellen.

Solche Neuschöp­fungen mögen wie ein kleiner Schritt erscheinen, aber sie tragen zu einem neuen Selbst­ver­ständnis bei. Wort für Wort wird Sprache mehr als ein Mittel, die Welt zu beschreiben – sie wird zur Einla­dung, sie mitzugestalten.

Wer spricht, schafft Wirk­lich­keit. Und wer Neues sagt, schafft neue Möglich­keiten, diese Welt zu erleben. Aus dem Sprechakt wird ein „Sprech­ak­ti­vismus” und Sprache wandelt sich vom Werk­zeug zu einem aktiven Prozess. Dieser geht über das blosse Beschreiben hinaus: Er wird zu einem Handeln, das gezielt Verän­de­rung bewirken will, indem es neue Narra­tive, Perspek­tiven und Werte in den Raum stellt. Wer neue Begriffe prägt, hinter­fragt nicht nur bestehende Struk­turen – sondern baut aktiv neue Brücken zwischen Ideen und Handlungsmöglichkeiten.


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Berühmt und brotlos

Unsere Kolumnistin maia arson crimew ist "die berühmteste Hackerin der Schweiz". Ihre aktivistische und journalistische Arbeit schlug international grosse Wellen. Trotzdem lebt sie am Existenzminimum – und so wie ihr geht es vielen Berühmtheiten heutzutage.