Es sind beiläufige und unspektakuläre Orte, die im Stadtführer Geliebtes Zürich von Carla Opetnik zu bestaunen sind. Orte, die vielleicht nicht einmal ein*e alteingesessene*r Zürcher*in kennt – oder nie beachtet hat.
Zum Beispiel den einen Schiffsteg in Tiefenbrunnen, kurz vor der Stadtgrenze. Für eine der Autor*innen im ersten Buch ist dieser Steg aber mehr – er erinnert sie an eine lange zurückliegende Amour fou und eine nächtliche Fahrt durch Zürich. An diesem bestimmten Schiffsteg haben sie und ihre stürmische Affäre, wie sie schreibt, Halt gemacht und auf den See geblickt. Dieser Steg erinnert sie heute noch an die Stimme von Maria Callas, die die Szenerie erfüllte, und an einen innigen Kuss.
Im Gegensatz zu herkömmlichen Stadtführern, in denen Cafés, Restaurants und berühmte Sehenswürdigkeiten die Hauptdarsteller sind, sind es in Opetniks Buch also die Zürcher*innen selbst, die uns ihre Stadt näherbringen. In zwanzig Geschichten erzählen Freunde, Bekannte und Fremde von den Erinnerungen an ihre Lieblingsorte.
Begleitet werden die Texte auch nicht von kitschigen Fotos, sondern von minimalistischen Illustrationen von Opetnik selbst. „In meinem Buch kannst du Gefühle und Geschichten von anderen Menschen entdecken. Und zwar an Orten, die dir vielleicht schon bekannt sind. Dann kannst du diese Orte durch andere Augen sehen“, sagt die 29-Jährige. Aufgebaut ist ihr Buch wie ein Stadtspaziergang – ein roter Faden führt von Ort zu Ort, von der einen Geschichte zur nächsten. Aber man müsse sich auch nicht an den roten Faden halten, sagt Opetnik. „Ich möchte den Leser*innen eine gewisse Offenheit dafür mitgeben, einfach loszulaufen und sich ein bisschen in der Stadt zu verlieren.“
Zürich ohne Geld entdecken
Die Idee zu ihrem Stadtführer kam Opetnik im Urlaub in Nizza. Ihr fiel auf, dass die herkömmlichen Stadtführer nur von Geschäft zu Geschäft führten. Ihr habe das Persönliche gefehlt. Eine Stadt habe mehr zu bieten als fancy Restaurants. „Mein Stadtspaziergang führt ins Herz von Zürich, nicht ins Portemonnaie“, sagt Opetnik. Ihr war wichtig, dass in ihrem Buch nur Orte ohne Konsumzwang vorkommen. „Das ist auch eine politische Message“, sagt sie.
Gerade in Zürich. Für so manche sei auch ein Drei-Franken-Kaffee schon zu teuer. Sie wollte entsprechend nur Orte und Geschichten, die für alle zugänglich sind. Diese Entscheidung hängt auch mit Opetniks eigener Geschichte zusammen: Sie lebt nach dem Prinzip „Zero Waste“, versucht also möglichst wenig Abfall zu produzieren. Auch ihr Buch hat sie nachhaltig drucken lassen – vom Druckverfahren bis hin zum grünen Strom, der für die Druckerpressen gebraucht wurde.
„Diese Orte sind wie Fragmente“
Carla Opetnik, die heute Art Education an der Zürcher Hochschule der Künste studiert, erarbeitete Geliebtes Zürich im Rahmen ihrer Abschlussarbeit an der Berufsmaturitätsschule. Das Oberthema war damals „Fragment“. Für sie seien die zwanzig Geschichten Fragmente, die sich in ihrem Buch zu einem grossen Ganzen zusammenfügen. „In einer Stadt leben so viele verschiedene Menschen. Und sie erzählen alle eine andere Geschichte zum selben Ort.“
Ein Ort aus dem ersten Buch kommt etwa auch im zweiten Buch vor – jedoch mit einer anderen Erinnerung dazu. Die Orte scheinen austauschbar, geht es doch vor allem um die Geschichten, die erzählt werden. Aber wie hängen sie zusammen, Geschichte und Ort? „Die meisten Orte in meinem Buch wurden nicht bewusst ausgewählt. Die Geschichten sind einfach an diesen Orten passiert und deswegen wurden sie wichtig für die Erzähler*innen.“ Opetnik macht ein Beispiel dafür, wie ihr Stadtführer funktionieren kann. „Jedes Mal, wenn ich bei der Unterführung an der Langstrasse vorbeilaufe, muss ich an eine Geschichte aus dem Buch denken. Dort gibt es eine Plakatsäule und die Erzählerin schrieb, sie laufe jedes Mal einmal um diese Säule herum, wenn sie an dieser vorbeigehe. Das ist mir geblieben und bringt mich jedes Mal zum Lachen.“
Für das erste Geliebte Zürich habe sie vor allem ihre Freund*innen und ihre Familie ausgequetscht, sagt Opetnik. Im zweiten Buch gibt es mehr Geschichten von Menschen, die sie nicht kennt. Viele hätten ihr aufgrund des ersten Buches ihre eigenen Geschichten geschickt. An den Texten habe sie nichts verändert. „Die Leute sollen so schreiben, wie ihnen die Zunge gewachsen ist.“ Im zweiten Buch finden sich neben hochdeutschen Texten auch mehrere englische und ein Mundarttext. Die Sprachen sind so unterschiedlich wie die Autor*innen und ihre Geschichten selbst. Aber warum ist Geliebtes Zürich ein Stadtführer geworden und keine Geschichtensammlung? „Mein Buch ist kein Roman – dafür sind die Geschichten zu kurz. Und die Texte sollen nicht zu Hause auf dem Sofa, sondern am Schauplatz der Geschichte gelesen werden“, sagt Opetnik.
Zum Beispiel am Bürkliplatz, an dem eine weitere Geschichte aus dem ersten Teil von Geliebtes Zürich spielt. Die Autorin erinnert sich darin an den Beginn ihrer Liebesgeschichte mit ihrem Partner. „Bin in zehn Minuten bei dir, mach dich ready!“, schrieb er damals per Textnachricht. In einer lauen Sternschnuppennacht fuhren die beiden trotz grosser Müdigkeit mit dem Fahrrad an den verlassenen Bürkliplatz, im Gepäck zwei Kokosnüsse, die sie mit einem Sackmesser öffneten.
Opetnik wohnt selbst seit zehn Jahren in Zürich – aufgewachsen ist sie in Olten. Durch die Arbeit an ihrem Buch habe sie ihre Wahlheimat neu kennengelernt, sagt sie. Denn auch sie kannte nicht alle Orte, die in den Geschichten vorkommen. „Ich hatte eigentlich schon das Gefühl, ich kenne ‚meine Stadt‘. Aber trotzdem habe ich durch das Projekt so viele neue Sachen in Zürich entdeckt.“ Auch habe sie zahlreiche Reaktionen von Leser*innen erhalten – einige von ihnen leben seit zwanzig Jahren in Zürich – die durch ihr Buch etwas Neues entdeckt haben. Das Buch sei also keineswegs nur für Zürcher*innen. Denn Erinnerungen und Geschichten berühren über Grenzen hinaus.
Dem roten Faden treu bleiben
Jetzt folgt also Teil zwei des Stadtführers Geliebtes Zürich. Die erste Ausgabe war auf 300 Stück limitiert und deswegen bald vergriffen. Weil die Nachfrage da war, entschied sich Carla Opetnik, eine zweite Ausgabe zu machen. Gestalterisch habe sie am zweiten Teil nicht viel geändert – nur die Stadtkarte zum Herausklappen sei jetzt grösser. Diese werde zudem neu auch online abrufbar sein, falls man sie unterwegs verlieren würde. Der Prototyp steht schon – mit der gleichen Message, mit derselben gestalterischen Zurückhaltung. Und mit zwanzig neuen Geschichten, die uns einen Einblick in die Erinnerungen von Menschen geben, denen wir noch nie begegnet sind.
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