„Die Berichterstattung zum AHV-Steuerdeal ist oft zu oberflächlich und trägt nicht viel dazu bei, dass die Vorlage verständlich wird”, meinte Finanzminister Ueli Maurer (SVP) in einem Interview mit CH Media. Trotz Pauschalkritik liegt er nicht ganz falsch. Die Berichterstattung rund um den zweiten Versuch, die international geächteten Steuerprivilegien in der Schweiz abzuschaffen, versteift sich darauf, ob es sich bei der Vorlage jetzt um einen Kuhhandel oder doch eher um einen Kompromiss handelt. Was für eine gute Schlagzeile herhalten mag, bringt für die Meinungsbildung wenig. Schlimmer noch: Die Berichterstattung verschleiert, dass es bei der Abstimmung am 19. Mai 2019 um die ganz grossen Fragen der Politik geht: um internationale Gerechtigkeit, um das Zusammenleben der Generationen und – nicht zuletzt – um das Verhältnis von Einkommen und Vermögen. Auf linker Seite lehnen Grüne und Jungsozialist*innen die Vorlage ab; die entwicklungspolitische Arbeitsgruppe Alliance Sud verzichtet auf eine Abstimmungsparole. Die SP hingegen unterstützt die Vorlage, besonders wegen der AHV-Zusatzfinanzierung — und trotz aller steuerpolitischen Bedenken.
Zwei Fliegen mit einer Klappe? Kaum.
Nebst der lästigen Doppelnennung von Kuhhandel versus Kompromiss darf in keinem Artikel zur Staf der Hinweis fehlen, dass die Vorlage zwei dringende Probleme der Schweizer Politik angeht. Da wären zum einen die internationalen Steuerprivilegien für vorwiegend im Ausland tätige Unternehmen. Auf Druck der OECD und der EU muss die Schweiz Steuerinstrumente für sogenannte Statusgesellschaften und Holdings auf Bundes- und Kantonsebene abschaffen. Dafür möchte der Bund den Kantonen neue Instrumente anbieten, um die betroffenen Unternehmungen weiterhin steuerlich zu entlasten. Die Steueroptimierung durch die Staf würde die Bundes- und Kantonskasse rund 2 Milliarden Franken pro Jahr kosten.
Auf der anderen Seite sei die Staf ein erster Schritt hin zu einer Sanierung der Altersvorsorge. Laut Finanzminister Ueli Maurer würde die AHV ohne Staf bereits 2030 bankrott gehen, denn: „Wir geben heute bereits 180 Millionen Franken mehr aus, als wir einnehmen – und zwar pro Monat!“ Grund dafür ist zum einen der demographische Wandel, zum anderen der Strukturwandel der Wirtschaft. Solche Berechnungen sind seit Jahren umstritten, aber dazu später mehr.
Der AHV-Teil der Vorlage soll dem Sozialwerk jetzt rund 2 Milliarden pro Jahr einspielen; 1.2 Milliarden über einen erhöhten Arbeitgeber-/nehmer-Abzug. Die restlichen 800 Millionen würde plangemäss der Bund in die AHV einspeisen.
Trickle-down economics? Wer gewinnt hier wirklich?
Werden mit der Vorlage also zwei Probleme auf einmal gelöst? Nicht ganz. Dass die Steuerprivilegien jetzt auf Druck der OECD und der EU abgeschafft werden und durch neue, akzeptierte Instrumente ersetzt werden sollen, ist bezeichnend für die Schweizer Steuerpolitik. Seit je her kritisieren Nichtregierungsorganisationen, Vertreter*innen von Entwicklungsländern und linke Parteien das Tiefsteuerregime der Schweiz; lange zählte auch die SP zu den kritischen Stimmen. Bei den Unternehmenssteuern rangiert die Schweiz im internationalen Vergleich im untersten Drittel. In der Schweiz lässt es sich als internationaler Konzern gut Geld sparen – die entsprechenden Steuereinnahmen fehlen dann in jenen Ländern, in denen die eigentliche Wertschöpfungskette vonstatten geht.
Die SP führt zwar an, dass durch die neuen, akzeptierten Steuerprivilegien eine internationale Angleichung stattfinden wird. Ausserdem würden internationale Grosskonzerne neu gleich behandelt wie Schweizer KMU, also mehr bezahlen. Das stimmt zwar, aber: Laut einer Studie des Bundes ist zu erwarten, dass andere Länder ihre Gewinnsteuern weit weniger stark senken werden als die Schweiz — unter anderem aus „Vorbehalten gegenüber Nachhaltigkeit von ausländischen Steuerreformen”. Das race to the bottom wird also mit der Staf nicht etwa ausgebremst. Vielmehr bleibt die Schweiz als Zugpferd an der Spitze.
Die bürgerlichen Befürworter*innen hingegen gehen davon aus, dass die Rechnung über längere Zeit aufgehen wird: Dank den erneuerten Steuergeschenken werden internationale Unternehmungen weiterhin in der Schweiz bleiben. Dank den sinkenden Unternehmenssteuern auf kantonaler Ebene sollen mehr Arbeitsplätze entstehen und höhere Löhne ausgezahlt werden, was wiederum zu mehr Einkommenssteuereinnahmen führen soll. Gleichzeitig bleibt man weiterhin im internationalen Vergleich attraktiv. Im Glauben daran planen viele Kantone waghalsige Senkungen von Unternehmenssteuern und nehmen so empfindliche Steuereinbussen in Kauf. Diese bekämpft die SP mit der Begründung, dass die kantonalen Umsetzungen das Problem seien und nicht die Staf selber. Das greift zu kurz: Die Staf gibt den Kantonen die Instrumente für die kantonalen Steuerstrategien erst an die Hand. Wahrscheinlicher ist also, dass sowohl auf Bundesebene als auch auf Kantonsebene über längere Sicht die Steuergeschenke für internationale Unternehmen durch Senkungen von staatlichen Leistungen gegenfinanziert werden müssen.
Die meisten Sozialdemokrat*innen stimmen der Staf sowieso nicht aufgrund des Steuerteils zu. Viele unterstützen aber die an den Deal geknüpften 2 Milliarden AHV-Unterstützung. Dieses Geld soll die Vorlage der Stimmbevölkerung schmackhaft machen. Für die SP ist es der lang ersehnte soziale Ausgleich; für die Gegner*innen eine Politik auf Kosten der Jungen. Die Wahrheit ist indes komplizierter.
Die AHV – oft totgesagt, und doch quickfidel
Dass bürgerliche Stimmen die AHV gerne schlecht reden, ist kein Geheimnis. Der Generationenkonflikt wird nicht nur von den Grünliberalen hochbeschworen, sondern auch in unzähligen Artikeln der bürgerlichen Presse. Entgegen aller Prognosen des Bundesamtes für Sozialversicherungen und Bundesrat Ueli Maurer, die jedes Jahr vor einem Finanzloch in der AHV-Kasse warnen, hat die AHV aber in den letzten elf Jahren nur dreimal mit einem Minus abgeschlossen; achtmal schrieb sie schwarze Zahlen. Was für Finanzbuchhalter*innen ein Zeichen guter Arbeit ist (konservative Prognosen, positive Rechnungsabschlüsse), führt in der Politik seit Jahren zu einem Alarmismus sondergleichen. Die AHV, so scheint es, wird von der Politik schon fast ritualisiert totgesagt — allen Fakten zum Trotz.
Auf der anderen Seite ist der vermeintliche soziale Ausgleich über die AHV-Zusatzfinanzierung ein Feigenblatt. Sie ist ein Zugeständnis der SP an die bürgerliche AHV-Schwarzmalerei und kein sachgerechter Kompromiss. Werden durch den Steuerteil die Privilegien für Unternehmen und Kapitalerträge erneuert, soll der AHV-Teil über einen Lohnabzug finanziert werden. Warum aber sollen Arbeitnehmer*innen die Tiefsteuerstrategie durch höhere Lohnabzüge für die AHV kompensieren, solange nicht auch Einnahmen aus Aktien und Obligationen als Einkommen besteuert werden? Schliesslich werden es die Arbeitnehmenden sein, die bei der geplanten kantonalen Umsetzung des Steuerteils weitere Erhöhungen bei den Steuern, Gebühren und Kürzungen von Prämienverbilligungen und sonstigen Leistungen tragen müssen. Das Negativbeispiel des Kantons Luzern hat diese Entwicklung zum grossen Teil bereits vorweggenommen.
Sozialer Ausgleich würde bedeuten, Kapitaleinnahmen stärker zu besteuern; nicht nur, aber auch für eine strukturelle AHV-Reform. Politiker*innen – und im Endeffekt auch die Stimmbürger*innen – entscheiden, welche Geldflüsse besteuert und für welche Zwecke sie eingesetzt werden sollen. Dass die Schweiz Arbeitseinkommen besteuert, aber weiterhin keine Kapitalgewinnsteuer oder Finanztransaktionssteuer erhebt, ist ein Zeichen der Vormachtstellung und des politischen Lobbyismus von Unternehmen und Wohlhabenden in der Schweiz. Da hilft auch die in der Staf vorgesehene, moderate Gegenfinanzierung durch eine Dividendenbesteuerung wenig. Ein Ja zur Vorlage zementiert die bestehenden Verhältnisse sogar weiter. Berechnungen zeigen, dass die Staf Haushalten mit Einkommen in den obersten zehn Prozent insgesamt rund 170 Millionen einbringt; die restlichen 90 Prozent verlieren rund 100 Millionen. Oder anders gesagt: eine Umverteilung von unten nach oben.
Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Es stellt sich die Frage: Warum sieht sich die SP gezwungen, den Steuerteil der Vorlage mit einer AHV-Finanzierung schönzureden? Konsequente Umverteilung, Gerechtigkeit zwischen den Generationen, aber auch internationale Solidarität sind eigentlich das ideologische Fundament der Sozialdemokratie; die Staf scheint da schräg in der Landschaft zu stehen. Als Antwort auf diese Kritik hört man: „Nehmen wir, was wir bekommen.“ Was nach einer Kapitulation vor bürgerlichem AHV-Pessimismus und nach einer uninspirierenden Botschaft klingt, scheint anzuschlagen: Neuste Umfragen zeigen, dass die Staf wohl komfortabel angenommen wird.
Mit der Konzernverantwortungsinitiative und der 99%-Initiative sind bereits die nächsten Vorhaben in den Startlöchern, welche die Fragen von internationaler Gerechtigkeit und dem Verhältnis von Einkommen und Kapital ins Zentrum rücken. Wie aber kann die SP glaubhaft die Steuerflucht und die ausbeuterischen Praktiken von Grosskonzernen kritisieren, wenn sie deren steuerpolitischen Rahmenbedingungen unterstützt? Wie kann sie überzeugend die Rückverteilung von Kapitaleinkommen zu den Löhnen fordern, wenn sie eine Vorlage unterstützt, die trotz sozialem Ausgleich unter dem Strich von unten nach oben umverteilt? Es wird sich zeigen, ob die Wähler*innen in Zukunft den eingeschlagenen politischen Pragmatismus belohnen oder die ideologische Inkonsequenz abstrafen werden.
Transparenz: Der Autor sitzt für eine regionale Jungpartei im Gemeindparlament von Olten in einer Fraktion mit der SP. Er ist aber weder Mitglied der SP Schweiz, noch der SP Olten.
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