Sturm auf die erste Klasse

Ab heute gilt im ganzen öffent­li­chen Verkehr die Masken­pflicht. Gut so. Doch für social distan­cing bräuchte es eigent­lich mehr Raum. Warum also halten die SBB an der ersten Klasse fest? Eine Polemik. 
Die erste Klasse gehört abgeschafft - während und nach Corona (Foto: Wikicommons).

Freitag, Acht Uhr Neun­und­fünfzig, im IC5 von Olten nach Zürich. Eine ältere Frau, mit Maske, fragt den freund­li­chen Zugbe­gleiter, auch mit Maske, ob er sich jetzt über die Masken­pflicht im öffent­li­chen Verkehr freue, weil ja alle so egoistisch seien und niemand eigen­ver­ant­wort­lich Masken tragen würde. Sie fragt ein biss­chen zu laut, gerade so, dass es auch die anderen Passagier*innen, die meisten ohne Masken, hören. Der Zugbe­gleiter reagiert souverän und meint lächelnd: “Das ist eine berech­tigte Frage. Ich bin froh, dass ich diese Entschei­dung nicht fällen muss.”

Da ist er in guter Gesell­schaft. Die Diskus­sionen über Sinn und Unsinn von Masken als Mittel gegen die Ausbrei­tung der COVID-19 Pandemie offen­bart eine schockie­rende Entschei­dungs­scheue aller poli­ti­schen Akteure. Der Bund foutierte sich um eine klare Kommu­ni­ka­tion zur Wirk­sam­keit von Masken und stif­tete Verwir­rung, die wohl bis heute in den Köpfen nach­hallt. Und die Kantone, nach dem der Bund ihnen die Verant­wor­tung zurück­geben hatte, wollen wiederum vom sonst so sakro­sankten Föde­ra­lismus nichts wissen. Ein unwür­diger Reigen, der mit dem Entscheid des Bundes­rats zur allge­meinen Masken­pflicht im öffent­li­chen Verkehr endlich ein Ende fand.

Ein Stück weit ist die allge­meine Masken­pflicht im öffent­li­chen Verkehr Symbol­po­litik: Die durch­schnitt­liche Sitz­platz­aus­la­stung bei Fern­ver­kehrs­zügen liegt bei rund 30 Prozent. Wirk­lich über­füllt sind die Züge nur zu Stoss­zeiten. Wer um 23.00 Uhr von Bern nach Fribourg fährt und eine Maske trägt, leistet kaum einen Beitrag zur öffent­li­chen Gesund­heit. Zudem gibt es keine belast­bare Zahlen, die belegen, wie viele Menschen sich in der Schweiz tatsäch­lich im ÖV mit COVID-19 ange­steckt haben.

Dass das Masken­tragen im öffent­li­chen Verkehr aber durchaus sinn­voll ist, sollte eigent­lich unbe­stritten sein: Denn gerade während den Stoss­zeiten ist der Sicher­heits­ab­stand unmög­lich einhaltbar, was Menschen der Risi­ko­gruppe einem poten­tiell tödli­chen Virus aussetzt. Ein Minimum der viel­be­schwo­renen Soli­da­rität kann man im 100-Pack kaufen. Damit sie aller­dings für alle erschwing­lich ist, müssen die Kantone die Kosten für Armuts­be­trof­fene über­nehmen, was etwa der Kanton Jura bereits tut.

Aber Masken sind nicht die einzige Schutz­mass­nahme – und auch nicht die wirk­samste. Am wich­tig­sten bleibt der Abstand, und dafür braucht es Platz. Es ist bezeich­nend, dass ein Land, dessen grösste Partei das unver­schlei­erte Gesicht in der Verfas­sung fest­schreiben will, sich zuerst hinter stickigen Stofffetzen verhüllt, bevor es sich mehr Raum in den Zügen erkämpft. Denn eigent­lich würden die SBB noch über viel zusätz­li­chen Raum verfügen: Rund 20 Prozent ihrer Sitz­ka­pa­zität entfällt auf die erste Klasse – deren Ausla­stung sie nicht öffent­lich bekannt geben.

Nun war es schon immer eine Sauerei, dass die SBB als öffent­lich-recht­li­ches Unter­nehmen ihre Passagier*innen in zwei Klassen einteilen. Staat­liche Leistungen wie der öffent­liche Verkehr sollten sozio­öko­no­mi­sche Unter­schiede ausmerzen, nicht repro­du­zieren. Die SBB errei­chen mit ihrer Preis­po­litik das Gegen­teil, wie sie zuletzt mit der Abschaf­fung des Stundent*innen-GAs wieder einmal gezeigt haben.

Dass während der Corona-Pandemie zwar die Masken­pflicht, die Öffnung der 1. Klasse aber nur am Rande disku­tiert wurde, zeigt, wie verin­ner­licht diese Mate­ria­li­sie­rung der Klas­sen­ge­sell­schaft ist. Gutver­die­nende ziehen sich während den Stoss­zeiten in ihre privi­le­gierten Räume zurück, mit beque­meren Sitzen, mehr Bein­frei­heit und weniger Ansteckungs­ri­siko, während die Zugbegleiter*innen in den Gängen der zweiten Klasse über die Passagier*innen steigen müssen.

Als JUSO-Präsi­dentin Ronja Jansen anfangs Mai forderte, die erste Klasse während der Pandemie auch für die Passagier*innen der zweiten Klasse frei­zu­geben, sprach sich sogar die Präsi­dentin des Fahr­gast­ver­bands Pro Bahn gegen den Vorschlag aus. Weil damit eine Abwer­tung der ersten Klasse einher­gehen würde. Darüber, dass diese „Abwer­tung” für den über­wie­genden Teil der von ihr vertre­tenen Passagier*innen eine Aufwer­tung bedeuten würde, sah sie indes gross­zügig hinweg.

Dieser Klas­sen­dünkel im ÖV ist nicht neu: In einer fast schon dada­istisch anmu­tenden Antwort auf einen Vorstoss zum Zürcher Verkehrs­ver­bund (ZVV) erklärte der Zürcher Regie­rungsrat 2011, dass eine klas­sen­lose Bahn der breiten Akzep­tanz kaum zuträg­lich wäre, weil der öffent­liche Verkehr bereits alle sozialen Schichten anspreche: “Würde die erste Klasse abge­schafft, ist das ganze System in Gefahr.” Na dann.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 11 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 832 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel