Sucht ist ein Produkt der herr­schenden Ordnung

Von Bulimie bis Kokain: Der Drang, sich besser zu fühlen, trieb unsere Autorin in verschie­dene Süchte. Heute weiss sie, dass dies eine logi­sche Reak­tion auf unsere Gesell­schaft ist. 
Ein Konkurrenzsystem, das individuelles Glücksstreben erzwingt, führt unvermeidlich zu Drogenproblemen, findet unsere Autorin. (Bild: Nastya Dulhiier / Unsplash)

Inhalts­war­nung: Essstö­rung und Drogensucht

Mit 12 Jahren fing alles an. Ich fühlte mich unge­liebt, unter­legen und unzu­läng­lich. Probleme und Stress frassen mich auf. Ich hatte nichts, für das es sich zu leben lohnte und fragte mich, warum ich es tat.

Ich begann mit einer Diät, denn ich empfand mich schon länger als zu dick. Viel­leicht lagen meine Probleme daran, dass ich einfach „zu viel“ war, dachte ich. Wenn ich erstmal dünn und schön sei, wäre alles gut. Also nahm ich ab. Damit begann meine erste Sucht, die Magersucht.

Irgend­wann hielt ich das Hungern nicht mehr aus und bekam Essan­fälle. Ich lernte zu kotzen, was mir prak­tisch vorkam, denn so konnte ich essen, ohne zuzu­nehmen. Schnell verselb­stän­digte sich auch das. Plötz­lich konnte ich nicht mehr aufhören und begann, Essan­fälle und Erbre­chen zu planen. Ich hatte Bulimie. Das war meine zweite Sucht.

Die Jahre vergingen in einem Körper im stän­digen Hunger­zu­stand. An manchen Tagen erbrach ich über zehnmal, dann wieder ass ich tage­lang nichts. Es war die abso­lute Hölle. Aber es war meine selbst­ge­schaf­fene Hölle und mein Leben hatte scheinbar endlich einen Sinn. Die Essstö­rung bestimmte meinen Alltag, sie gab meinem Leben einen Inhalt und ein Ziel: dünn sein. Dass dieses Ziel niemals erreicht ist, war genau sein Zweck, denn nur so konnte es sinn­stif­tend sein. Nicht mal bis auf die Knochen ausge­zehrt, als mein Leben am seidenen Faden von Maschinen und Ärzt*innen hing, war ich dünn genug.

Drogen machen Sinn

Ich hatte Glück und über­lebte. Nach meinem Schul­ab­schluss begann ich zu studieren: Psycho­logie. Im Studium fand ich nicht wie gehofft den Sinn, aber dafür die Drogen. Ich merkte sofort, das war mein Ding: Kokain, Speed, MDMA, Ecstasy und Ketamin. Von Anfang an kannte ich kein Limit. Je länger ein Trip dauerte, desto besser konnte ich mir vorma­chen, dass das mein Leben war. Dass dieses Gefühl für immer anhielt und dass ich glück­lich war, einfach so. 

Als Depres­sion und Essstö­rung wieder stärker wurden, geriet mein Konsum schliess­lich komplett ausser Kontrolle und ich begann, täglich Drogen zu nehmen: Ich war nun auch amphetaminabhängig.

Durch sehr direkte Mani­pu­la­tion kann ich Gefühle und Gedanken abschalten, mein Bewusst­sein betäuben und schein­bares „Glück“ erzwingen.

Meine vierte Sucht, ich fasse mich kurz: Kokain. Nach einem weiteren Klinik­auf­ent­halt und dem Abschluss meines Studiums fiel ich mal wieder in ein Loch. Ich wusste nicht, was aus mir werden sollte, ich sah keinen Sinn und keine Chancen, ich war leer und fühlte mich allein. Also griff ich wieder zu Drogen und war sofort wie besessen. Teil­weise war ich zwei bis drei Tage am Stück wach, dann schlief ich 24 Stunden – und begann direkt wieder von vorne. Niemand wusste, wie schlimm es wirk­lich war, denn wir Süch­tigen sind Meister*innen der Geheimhaltung. 

Rück­blickend frage ich mich mit ernst­haftem Inter­esse, wie ich das über­leben konnte.

Durch all das habe ich früh gelernt, wie ich mit Leere, Sinn­lo­sig­keit, Trau­rig­keit und Sorgen umgehe. Durch sehr direkte Mani­pu­la­tion kann ich Gefühle und Gedanken abschalten, mein Bewusst­sein betäuben und schein­bares „Glück“ erzwingen. In dieses Muster falle ich auch heute noch leicht, weil mein Gehirn ein bestimmtes (Beloh­nungs-) Verhalten erlernt hat und ein tief veran­kertes Sucht­pro­gramm abspielt. Nach Jahren mit Süchten ist es aber auch oft schlicht die Gewohn­heit und das biolo­gi­sche Verlangen, das kickt. Das macht es noch schwieriger.

Sinn­an­gebot in der kapi­ta­li­sti­schen Gesellschaft

Wir Süch­tigen legen so viel Wert darauf, uns gut zu fühlen, dass wir schlichtweg alles daran­setzen, einen Zustand grund­loser Zufrie­den­heit oder Euphorie herzu­stellen. Dafür sind wir sehr radikal und mani­pu­lieren unser Bewusst­sein mit Substanzen oder substanz­ähn­li­chen Verhal­tens­weisen, die direkt die Biochemie im Gehirn beeinflussen. 

Das mag sich in der Methode von dem unter­scheiden, was der Rest der Gesell­schaft so treibt, um sich gut oder besser zu fühlen – zum Beispiel soge­nannte Mindful­ness – ein grund­sätz­li­cher Unter­schied im Effekt ist es aber nicht.

Es ist kein Vergehen, dass man sich lieber gut als ungut fühlt.

Drogen und drogen­ähn­liche Stoffe oder Verhal­tens­weisen sind ein Angebot an die sinn­su­chende Seele des Indi­vi­duums in der kapi­ta­li­sti­schen Konkur­renz­ge­sell­schaft – ganz so wie Reli­gion, Spiri­tua­lität, Psycho­logie oder andere Lebens­weis­heiten und „Mind­sets“ von „Nicht­süch­tigen“. Die Mitglieder unserer hyper-indi­vi­dua­li­sierten Gesell­schaft werden andau­ernd ange­leitet, ganz indi­vi­duell dem eigenen „pursuit of happi­ness“ nach­zu­gehen und „das Beste“ aus ihren angeb­lich zahl­rei­chen Möglich­keiten zu machen. Dann liegt es dann auch gar nicht mehr so fern, dabei ein biss­chen zu schum­meln und den direk­te­sten Weg zu wählen, um die Synapsen zum Froh­locken zu bringen.

Es ist kein Vergehen, dass man sich lieber gut als ungut fühlt. In dieser Gesell­schaft lernen wir aber, dass wir das allein schaffen können und müssen – und wenn’s nicht klappt, liegt das an uns selbst. Dann haben wir versagt, denn angeb­lich wäre ja alles möglich, in dieser besten aller Welten. Wir werden zu Einzelkämpfer*innen, die für sich das Beste aus den „zahl­rei­chen Chancen“ dieser freien Gesell­schaft heraus­holen wollen. Im Alltag schei­tern wir oft an diesem Anspruch und merken, dass wir trotz grosser Anstren­gung nicht glück­lich werden und dass das mit dem Glück gar nicht so einfach ist.

Konkur­renz und Leistungs­druck beginnen schon in der Schule und werden mit dem Eintritt in den freien Arbeits­markt nur schlimmer. Denn dann kommen noch ganz andere, existen­zi­elle Sorgen hinzu. Geld­pro­bleme, Zukunfts­ängste, Stress, Über­for­de­rung, die Pflege von Ange­hö­rigen und Kinder­er­zie­hung. Die mühe­lose Betäu­bung des eigenen Bewusst­seins durch Drogen erscheint dann attraktiv – ohne grosse Anstren­gung einfach mal abschalten und die eigene Lage kurz­fri­stig vergessen. Das wissen alle, die abends gerne mal ein Glas Wein (oder auch drei) „zum Abschalten“ trinken, und das wissen auch alle, die schon mal arbeitslos waren und plötz­lich anfingen, unge­ahnt viel zu kiffen.

Im Kapi­ta­lismus nehmen wir Drogen, um mehr weg, aber auch mehr da zu sein.

Drogen sind aber auch nicht ohne Grund ein beliebtes Mittel für das schein­bare Gegen­teil: um noch mehr da zu sein. Nicht nur in den unteren Schichten der Gesell­schaft, in denen Existenz­ängste und Armut das Leben bestimmen, auch bei den soge­nannten „Leistungsträger*innen“ dieser Gesell­schaft spielen Substanzen eine bedeu­tende Rolle. Da wird heim­lich auf der Toilette gekokst, um die nächste Nacht­schicht oder einen weiteren 12-Stunden-Tag zu schaffen, oder auch mal ganz offen was einge­worfen, um beim Arbeits­pensum in der Agentur mitzu­halten. Auch bei vielen Schüler*innen und Studie­renden sind Drogen und Medi­ka­mente ein völlig normales Hilfs­mittel, um Prüfungs­phasen zu schaffen.

Drogen können für den Moment Bewusst­sein abschalten und uns Glück vorgau­keln. Sie ermög­li­chen aber auch, bis über die Schmerz­grenze hinaus­zu­gehen und die teils unmensch­li­chen Anfor­de­rungen der kapi­ta­li­sti­schen Konkur­renz zu erfüllen.

Statt zu Kritiker*innen der Gesell­schaft werden wir süchtig (oder gläubig)

Trotz all der feind­li­chen Erfah­rungen, die die meisten Mitglieder der besitz­losen Klasse in dieser Gesell­schaft machen, ziehen die wenig­sten daraus die rich­tigen Schlüsse über das herr­schende System – und erkennen nicht, dass ihr Glück in diesem notwendig an seinen Zwängen schei­tert. Statt zu Kritiker*innen dieser Gesell­schaft zu werden, ziehen sie eine andere Konse­quenz: Ersatz für das stets gejagte und selten gefun­dene Glück muss her. Ideo­logie und Reli­gion oder Droge und Sucht – Haupt­sache in sich und mit sich selbst, dort sucht und findet sich das Glück.

Wer im Dies­seits keine Chancen sieht, denkt mögli­cher­weise, im Jenseits welche zu finden, wenn nur nach den rich­tigen reli­giösen Leit­sätzen gelebt wird. Der unter­wirft sich lieber einer Herr­schaft „im Oben“, anstatt zu erkennen, was die Suche nach sinn­stif­tender oder gött­li­cher Führung über die Herr­schaft „im Hier“ aussagt. Der reisst sich lieber jahre­lang den Arsch auf und kommt trotzdem nicht dort an, wo er denkt, hinzu­ge­hören. Oder der entwickelt eine neue spiri­tu­elle Lebens­phi­lo­so­phie, die ihm durch Mani­fe­sta­tionen die Erfül­lung all seiner Wünsche verspricht. Viel­leicht helfen ihm auch Coachings, nach denen er sagen kann, dass sich zwar am eigenen Leben gar nichts geän­dert hat, aber in ihm drin immerhin ganz viel.

Man macht sich keine Illu­sionen und glaubt nicht an Chancen, wo es keine gibt.

Der kompro­miss­lose Weg zum Glück über Substanz oder Sucht ist ein ähnli­cher – nur viel direkter: Man muss sich nichts mehr einleuchten lassen, an das man eh nicht glaubt. Man macht sich keine Illu­sionen und glaubt nicht an Chancen, wo es keine gibt. Statt dem anstren­genden Weg, sich selbst von etwas zu über­zeugen, das an der Realität schei­tert, geht man den direkten Weg und mani­pu­liert seine Wahr­neh­mung ganz unmittelbar.

Die Drogen­pro­bleme kapi­ta­li­sti­scher Gesell­schaften sind hausgemacht

Staaten schaffen mit ihrer Wirt­schafts­ord­nung auf der einen Seite die Lebens­um­stände, die Menschen anfällig für Sinn­an­ge­bote und “unmit­tel­bares Glück” machen: Leben in Armut und Unsi­cher­heit, andau­ernde Existenz­ängste, Leistungs­druck, Stress und Einsam­keit. Auch Trau­mata aus Kind­heit und Jugend, verur­sacht durch Eltern, die selbst von Enttäu­schungen, Druck und Elend in dieser Gesell­schaft gezeichnet sind und ihren Frust an ihren Näch­sten auslassen, ebnen den Weg zu Suchterkrankungen. 

Auf der anderen Seite wird ein Bewusst­sein vermit­telt, dass Menschen trotz aller Schwie­rig­keiten und entgegen allen gegen­sätz­li­chen Erfah­rungen daran fest­halten lässt, ihr Schicksal und ihr Glück würden allein von ihnen selbst abhängen.

Solange unsere Gesell­schaft so orga­ni­siert ist, werden ihre Mitglieder auf sucht­er­zeu­gende Substanzen zurückgreifen.

Es ist kaum verwun­der­lich, dass ein Konkur­renz­sy­stem, in dem Armut und Elend unver­meid­lich sind, in dem Ellen­bo­gen­men­ta­lität und das Recht des Stär­keren domi­nieren, in Kombi­na­tion damit, das Indi­vi­duum ständig in das eigen­ver­ant­wort­liche Glücks­streben hinein­zu­pressen, irgend­wann ein Drogen­pro­blem hat. 

Solange unsere Gesell­schaft so orga­ni­siert ist, werden ihre Mitglieder auf sucht­er­zeu­gende Substanzen zurück­greifen und weiterhin verschie­dene Süchte entwickeln, um ihr ganz persön­li­ches Glück zumin­dest für den Moment in den Bereich des Mach­baren zu verlegen.

Heute geht es mir meistens besser. Aber ich weiss, dass alles noch da ist. Ich bin stets auf der Hut, denn ich kenne kein Limit und ich kann mir nicht mehr trauen. Was bin ich und was ist die Sucht? Alles, was mir Glücks­ge­fühle oder den Kick gibt, ist gefähr­lich. Jeder Tag kann der Beginn einer neuen Episode sein. Die normal­sten Dinge wie Essen, Hunger oder Schmerzen trig­gern mich. 

Es ist anstren­gend. Und ich bin mir sicher: In einer anderen Gesell­schaft, in der für alle notwen­digen Bedürf­nisse gesorgt ist und in der gemeinsam und soli­da­risch gehan­delt wird, anstatt dass jeder für sich alleine und hinter verschlos­senen Türen kämpft, wäre ich nicht mehr­mals so schwer krank geworden.


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