Inhaltswarnung: Essstörung und Drogensucht
Mit 12 Jahren fing alles an. Ich fühlte mich ungeliebt, unterlegen und unzulänglich. Probleme und Stress frassen mich auf. Ich hatte nichts, für das es sich zu leben lohnte und fragte mich, warum ich es tat.
Ich begann mit einer Diät, denn ich empfand mich schon länger als zu dick. Vielleicht lagen meine Probleme daran, dass ich einfach „zu viel“ war, dachte ich. Wenn ich erstmal dünn und schön sei, wäre alles gut. Also nahm ich ab. Damit begann meine erste Sucht, die Magersucht.
Irgendwann hielt ich das Hungern nicht mehr aus und bekam Essanfälle. Ich lernte zu kotzen, was mir praktisch vorkam, denn so konnte ich essen, ohne zuzunehmen. Schnell verselbständigte sich auch das. Plötzlich konnte ich nicht mehr aufhören und begann, Essanfälle und Erbrechen zu planen. Ich hatte Bulimie. Das war meine zweite Sucht.
Die Jahre vergingen in einem Körper im ständigen Hungerzustand. An manchen Tagen erbrach ich über zehnmal, dann wieder ass ich tagelang nichts. Es war die absolute Hölle. Aber es war meine selbstgeschaffene Hölle und mein Leben hatte scheinbar endlich einen Sinn. Die Essstörung bestimmte meinen Alltag, sie gab meinem Leben einen Inhalt und ein Ziel: dünn sein. Dass dieses Ziel niemals erreicht ist, war genau sein Zweck, denn nur so konnte es sinnstiftend sein. Nicht mal bis auf die Knochen ausgezehrt, als mein Leben am seidenen Faden von Maschinen und Ärzt*innen hing, war ich dünn genug.
Drogen machen Sinn
Ich hatte Glück und überlebte. Nach meinem Schulabschluss begann ich zu studieren: Psychologie. Im Studium fand ich nicht wie gehofft den Sinn, aber dafür die Drogen. Ich merkte sofort, das war mein Ding: Kokain, Speed, MDMA, Ecstasy und Ketamin. Von Anfang an kannte ich kein Limit. Je länger ein Trip dauerte, desto besser konnte ich mir vormachen, dass das mein Leben war. Dass dieses Gefühl für immer anhielt und dass ich glücklich war, einfach so.
Als Depression und Essstörung wieder stärker wurden, geriet mein Konsum schliesslich komplett ausser Kontrolle und ich begann, täglich Drogen zu nehmen: Ich war nun auch amphetaminabhängig.
Meine vierte Sucht, ich fasse mich kurz: Kokain. Nach einem weiteren Klinikaufenthalt und dem Abschluss meines Studiums fiel ich mal wieder in ein Loch. Ich wusste nicht, was aus mir werden sollte, ich sah keinen Sinn und keine Chancen, ich war leer und fühlte mich allein. Also griff ich wieder zu Drogen und war sofort wie besessen. Teilweise war ich zwei bis drei Tage am Stück wach, dann schlief ich 24 Stunden – und begann direkt wieder von vorne. Niemand wusste, wie schlimm es wirklich war, denn wir Süchtigen sind Meister*innen der Geheimhaltung.
Rückblickend frage ich mich mit ernsthaftem Interesse, wie ich das überleben konnte.
Durch all das habe ich früh gelernt, wie ich mit Leere, Sinnlosigkeit, Traurigkeit und Sorgen umgehe. Durch sehr direkte Manipulation kann ich Gefühle und Gedanken abschalten, mein Bewusstsein betäuben und scheinbares „Glück“ erzwingen. In dieses Muster falle ich auch heute noch leicht, weil mein Gehirn ein bestimmtes (Belohnungs-) Verhalten erlernt hat und ein tief verankertes Suchtprogramm abspielt. Nach Jahren mit Süchten ist es aber auch oft schlicht die Gewohnheit und das biologische Verlangen, das kickt. Das macht es noch schwieriger.
Sinnangebot in der kapitalistischen Gesellschaft
Wir Süchtigen legen so viel Wert darauf, uns gut zu fühlen, dass wir schlichtweg alles daransetzen, einen Zustand grundloser Zufriedenheit oder Euphorie herzustellen. Dafür sind wir sehr radikal und manipulieren unser Bewusstsein mit Substanzen oder substanzähnlichen Verhaltensweisen, die direkt die Biochemie im Gehirn beeinflussen.
Das mag sich in der Methode von dem unterscheiden, was der Rest der Gesellschaft so treibt, um sich gut oder besser zu fühlen – zum Beispiel sogenannte Mindfulness – ein grundsätzlicher Unterschied im Effekt ist es aber nicht.
Drogen und drogenähnliche Stoffe oder Verhaltensweisen sind ein Angebot an die sinnsuchende Seele des Individuums in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft – ganz so wie Religion, Spiritualität, Psychologie oder andere Lebensweisheiten und „Mindsets“ von „Nichtsüchtigen“. Die Mitglieder unserer hyper-individualisierten Gesellschaft werden andauernd angeleitet, ganz individuell dem eigenen „pursuit of happiness“ nachzugehen und „das Beste“ aus ihren angeblich zahlreichen Möglichkeiten zu machen. Dann liegt es dann auch gar nicht mehr so fern, dabei ein bisschen zu schummeln und den direktesten Weg zu wählen, um die Synapsen zum Frohlocken zu bringen.
Es ist kein Vergehen, dass man sich lieber gut als ungut fühlt. In dieser Gesellschaft lernen wir aber, dass wir das allein schaffen können und müssen – und wenn’s nicht klappt, liegt das an uns selbst. Dann haben wir versagt, denn angeblich wäre ja alles möglich, in dieser besten aller Welten. Wir werden zu Einzelkämpfer*innen, die für sich das Beste aus den „zahlreichen Chancen“ dieser freien Gesellschaft herausholen wollen. Im Alltag scheitern wir oft an diesem Anspruch und merken, dass wir trotz grosser Anstrengung nicht glücklich werden und dass das mit dem Glück gar nicht so einfach ist.
Konkurrenz und Leistungsdruck beginnen schon in der Schule und werden mit dem Eintritt in den freien Arbeitsmarkt nur schlimmer. Denn dann kommen noch ganz andere, existenzielle Sorgen hinzu. Geldprobleme, Zukunftsängste, Stress, Überforderung, die Pflege von Angehörigen und Kindererziehung. Die mühelose Betäubung des eigenen Bewusstseins durch Drogen erscheint dann attraktiv – ohne grosse Anstrengung einfach mal abschalten und die eigene Lage kurzfristig vergessen. Das wissen alle, die abends gerne mal ein Glas Wein (oder auch drei) „zum Abschalten“ trinken, und das wissen auch alle, die schon mal arbeitslos waren und plötzlich anfingen, ungeahnt viel zu kiffen.
Drogen sind aber auch nicht ohne Grund ein beliebtes Mittel für das scheinbare Gegenteil: um noch mehr da zu sein. Nicht nur in den unteren Schichten der Gesellschaft, in denen Existenzängste und Armut das Leben bestimmen, auch bei den sogenannten „Leistungsträger*innen“ dieser Gesellschaft spielen Substanzen eine bedeutende Rolle. Da wird heimlich auf der Toilette gekokst, um die nächste Nachtschicht oder einen weiteren 12-Stunden-Tag zu schaffen, oder auch mal ganz offen was eingeworfen, um beim Arbeitspensum in der Agentur mitzuhalten. Auch bei vielen Schüler*innen und Studierenden sind Drogen und Medikamente ein völlig normales Hilfsmittel, um Prüfungsphasen zu schaffen.
Drogen können für den Moment Bewusstsein abschalten und uns Glück vorgaukeln. Sie ermöglichen aber auch, bis über die Schmerzgrenze hinauszugehen und die teils unmenschlichen Anforderungen der kapitalistischen Konkurrenz zu erfüllen.
Statt zu Kritiker*innen der Gesellschaft werden wir süchtig (oder gläubig)
Trotz all der feindlichen Erfahrungen, die die meisten Mitglieder der besitzlosen Klasse in dieser Gesellschaft machen, ziehen die wenigsten daraus die richtigen Schlüsse über das herrschende System – und erkennen nicht, dass ihr Glück in diesem notwendig an seinen Zwängen scheitert. Statt zu Kritiker*innen dieser Gesellschaft zu werden, ziehen sie eine andere Konsequenz: Ersatz für das stets gejagte und selten gefundene Glück muss her. Ideologie und Religion oder Droge und Sucht – Hauptsache in sich und mit sich selbst, dort sucht und findet sich das Glück.
Wer im Diesseits keine Chancen sieht, denkt möglicherweise, im Jenseits welche zu finden, wenn nur nach den richtigen religiösen Leitsätzen gelebt wird. Der unterwirft sich lieber einer Herrschaft „im Oben“, anstatt zu erkennen, was die Suche nach sinnstiftender oder göttlicher Führung über die Herrschaft „im Hier“ aussagt. Der reisst sich lieber jahrelang den Arsch auf und kommt trotzdem nicht dort an, wo er denkt, hinzugehören. Oder der entwickelt eine neue spirituelle Lebensphilosophie, die ihm durch Manifestationen die Erfüllung all seiner Wünsche verspricht. Vielleicht helfen ihm auch Coachings, nach denen er sagen kann, dass sich zwar am eigenen Leben gar nichts geändert hat, aber in ihm drin immerhin ganz viel.
Der kompromisslose Weg zum Glück über Substanz oder Sucht ist ein ähnlicher – nur viel direkter: Man muss sich nichts mehr einleuchten lassen, an das man eh nicht glaubt. Man macht sich keine Illusionen und glaubt nicht an Chancen, wo es keine gibt. Statt dem anstrengenden Weg, sich selbst von etwas zu überzeugen, das an der Realität scheitert, geht man den direkten Weg und manipuliert seine Wahrnehmung ganz unmittelbar.
Die Drogenprobleme kapitalistischer Gesellschaften sind hausgemacht
Staaten schaffen mit ihrer Wirtschaftsordnung auf der einen Seite die Lebensumstände, die Menschen anfällig für Sinnangebote und “unmittelbares Glück” machen: Leben in Armut und Unsicherheit, andauernde Existenzängste, Leistungsdruck, Stress und Einsamkeit. Auch Traumata aus Kindheit und Jugend, verursacht durch Eltern, die selbst von Enttäuschungen, Druck und Elend in dieser Gesellschaft gezeichnet sind und ihren Frust an ihren Nächsten auslassen, ebnen den Weg zu Suchterkrankungen.
Auf der anderen Seite wird ein Bewusstsein vermittelt, dass Menschen trotz aller Schwierigkeiten und entgegen allen gegensätzlichen Erfahrungen daran festhalten lässt, ihr Schicksal und ihr Glück würden allein von ihnen selbst abhängen.
Es ist kaum verwunderlich, dass ein Konkurrenzsystem, in dem Armut und Elend unvermeidlich sind, in dem Ellenbogenmentalität und das Recht des Stärkeren dominieren, in Kombination damit, das Individuum ständig in das eigenverantwortliche Glücksstreben hineinzupressen, irgendwann ein Drogenproblem hat.
Solange unsere Gesellschaft so organisiert ist, werden ihre Mitglieder auf suchterzeugende Substanzen zurückgreifen und weiterhin verschiedene Süchte entwickeln, um ihr ganz persönliches Glück zumindest für den Moment in den Bereich des Machbaren zu verlegen.
Heute geht es mir meistens besser. Aber ich weiss, dass alles noch da ist. Ich bin stets auf der Hut, denn ich kenne kein Limit und ich kann mir nicht mehr trauen. Was bin ich und was ist die Sucht? Alles, was mir Glücksgefühle oder den Kick gibt, ist gefährlich. Jeder Tag kann der Beginn einer neuen Episode sein. Die normalsten Dinge wie Essen, Hunger oder Schmerzen triggern mich.
Es ist anstrengend. Und ich bin mir sicher: In einer anderen Gesellschaft, in der für alle notwendigen Bedürfnisse gesorgt ist und in der gemeinsam und solidarisch gehandelt wird, anstatt dass jeder für sich alleine und hinter verschlossenen Türen kämpft, wäre ich nicht mehrmals so schwer krank geworden.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 39 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 2288 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 1365 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 663 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?