Wir können aufatmen: „Nur wenige mit Gewalt verbundene Ereignisse sind derzeit im Bereich Tierrechtextremismus zu verzeichnen.“ So schreibt es der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) – also der Schweizer Geheimdienst – in seinem neuen Sicherheitsbericht. Der Grillsommer ist weiterhin sicher.
Und auch die Prognose sieht gut aus: „Die gewalttätige tierrechtextremistische Szene wird in den kommenden Jahren ruhig bleiben. Das Thema steht derzeit im Hintergrund, möglicherweise hat der Kampf gegen die Klimaerwärmung Vorrang.“ Worauf diese Spekulation basiert, wird nicht verraten.
Die Sicherheitsberichte des NDB gibt es in ihrer heutigen Form seit 2009. Sie werden jeweils im Sommerloch veröffentlicht und stossen meist auf wenig Echo. Dabei sind die Themen spannender als jeder Krimi am Badestrand: „Religiöser Terrorismus! Ausländische Spionage! Gewalttätiger Extremismus!“ Ganz entsprechend dem NDB-Auftrag, „alle Handlungen, die die Sicherheit der Schweiz gefährden, frühzeitig zu erkennen und zu bekämpfen“.
Innerhalb der Sparte „Gewaltextremismus“ listete der NDB über Jahre hinweg drei Hauptgruppen auf: Rechts‑, Links‑, und „Tierrecht-Extremismus“. Dieses Jahr werden die Tierrechte innerhalb der Sparte Gewaltextremismus leicht herabgestuft: Sie sind jetzt nur noch eine von zwei Formen des „monothematischen Extremismus“. Die andere Form sind Corona-Massnahmengegner*innen. Aber die Tierrechtsbewegung wird immer noch unter den potenziellen Gefahren gelistet.
Warum diese Schwerpunktsetzung? Bei Gewalt in der Tierrechtsszene denke ich ans Grossbritannien der frühen 2000er Jahre, nicht an die Schweiz 2023. Habe ich das wahre Gewaltpotenzial der vermeintlich friedfertigen Bewegung übersehen, der ich mich selbst zugehörig fühle? Das wäre mir dann aber nicht recht.
Also habe ich zur Sicherheit mal die Sicherheitsberichte des NDB gelesen.
Vasellas brennendes Jagdhaus
So viel vorweg: Viel los war in der Sparte „Tierrecht-Extremismus“ noch nie. Ausser genau 2009, als die neue Berichtstruktur eingeführt wurde. Damals wurde nämlich in Österreich das Jagdhaus des Novartis-Chefs Daniel Vasella angezündet. Täter*innenschaft und Motiv blieb unbekannt. Es geschah aber in einer Zeit, als die Tierversuchsfirma Huntingdon Life Sciences, die mit der Novartis zusammenarbeitete, die Zielscheibe einer internationalen Gewaltkampagne war.
Im selben Jahr wurden im Raum Basel mehrere Novartis-Mitarbeitende belästigt. Gegen Leib und Leben ging es zwar nicht, aber die Grenze zur Gewalt wurde trotzdem überschritten. Mitarbeitenden wurden einschüchternde „Hausbesuche“ abgestattet, inklusive Sprayereien und aufgeschlitzten Reifen. In Solothurn wurde ein Brandsatz bei einem parkierten Auto platziert, der allerdings nicht zündete. In Chur wurde aus einem Grab der Familie Vasella eine Urne gestohlen.
Dümmer und kontraproduktiver hätten die Tierversuchsgegner*innen wohl kaum vorgehen können. Die Tierversuchsdebatte wurde durch diese Aktionen um Jahrzehnte zurückgeworfen. Der NDB berichtete ausführlich und warnte: „Weder Novartis noch andere Schweizer Firmen werden ohne Nachgeben von ihrem prominenten Platz unter den Angriffszielen gestrichen werden.“
Falsch. Der Spuk war schon im Folgejahr vorbei. Gerade mal sechs Sprayereien, zwei Demos und einige kaputte Zirkus-Knie-Plakate konnte man schweizweit verzeichnen. Gegen Novartis ging davon nichts. Die internationale Kampagne gegen Huntingdon Life Sciences war nämlich effektiv zu Ende.
In dieser Grössenordnung – Sprayereien und kleine Demos – verblieben auch die gemeldeten Ereignisse der folgenden Jahre. Einen Höhepunkt der Trivialität erreichte der NDB-Bericht 2014: Abgebildet ist ein Konfi-Glas mit Farbe drin, darunter steht „Tatwerkzeug für Farbanschläge“. 2017 gab es überhaupt nichts mehr im Bereich Tierrechte zu berichten.
Das Krasseste, das seither geschehen ist, sind beschädigte Jagdhochsitze im Kanton Zürich und eingeschlagene Metzgereischaufenster in der Romandie. Das war beides 2018 – der NDB hatte es nicht kommen sehen. Wie sollte er auch, denn mit den Vorfällen um Novartis 2009 hatte das Ganze nichts zu tun.
Der NDB spekulierte jedoch sofort, der gewalttätige „Tierrecht-Extremismus“ von anno dazumal habe womöglich ein revival. Und warnte: Es seien „personelle und idelle Anknüpfungspunkte für den Import einer gewaltsam agierenden Kampagne in der Schweiz vorhanden“.
Nun, passiert ist nichts mehr. Für die Jahre 2019 bis 2021 hatte der NDB keine Vorfälle mit Bezug zu Tierrechten zu vermelden. Im neuesten Bericht gibt er nun, wie eingangs erwähnt, „wenige mit Gewalt verbundene Ereignisse“ bekannt. Weitere Infos nennt er nicht.
Ich will es genauer wissen und schreibe dem NDB ein E‑Mail: Wie viel Gewalt, und welcher Art, fand genau statt?
Alles streng geheim!
Zurück meldet sich die stellvertretende Chefin Kommunikation des NDB: „Im Bereich Tierrechtextremismus verzeichnete der NDB seit 2020 nur vereinzelte Sachbeschädigungen.“ Aha! Es waren also Sachbeschädigungen. Ein kleines Stückchen Information konnte ich dem Geheimdienst entlocken.
Das ist aber auch schon das Ende meiner Spionage-Karriere, denn meine weiteren Fragen werden abgeschmettert: „Beurteilungen, die über jene in den öffentlichen Lageberichten hinausgehen, sind nur für die sicherheitspolitische Führung sowie die Aufsichtsorgane verfügbar.“
Alles streng geheim, schon klar. Ich versuche es trotzdem nochmal: Warum darf man eigentlich für rechts- und linksextreme Gewalttaten konkrete Zahlen nennen, für den Bereich Tierrechte hingegen nicht? Die Antwort ist wieder wortkarg: „Dies ist auf die über Jahre hinweg geringe Anzahl von Ereignissen zurückzuführen.“
Es ist paradox: Von der Tierrechtsbewegung geht so wenig Gefahr aus, dass die Zahlen nicht einmal erwähnenswert sind. Trotzdem verdient sie eine spezielle Erwähnung im Sicherheitsbericht. Ich habe nachgefragt, wie das zusammengeht. Und bis Redaktionsschluss keine Antwort bekommen. Bestimmt geheim.
Jedenfalls verstehe ich immer noch nicht, warum die Tierrechtsbewegung trotz jahrelang ausbleibender Gewalt als ominöse, schlummernde Gefahr im NDB-Bericht aufgeführt wird.
Der voreingenommene Blick des NDB
Was versteht der NDB überhaupt unter Gewaltextremismus? Da keine Definition geliefert wird, muss man vom Kontext her schliessen: Es geht um illegale Aktionen, die oft auf Einschüchterung abzielen und einen ideologischen Hintergrund haben. Für die Vorfälle von 2009 finde ich das Wort nicht unpassend.
Aber was hier als Ideologie zählt – und als eine statt mehrere –, liegt im Auge der Betrachterin. Der NDB zählt alles, was mit Tieren zu tun hat, zum selben „monothematischen Extremismus“. Das verkennt, dass die Bewegungen gegen Tierversuche, gegen die Jagd und für den Vegetarismus jeweils eine eigene Geschichte haben. Gewalt in diesen verschiedenen Bereichen muss nicht unbedingt aus einer zusammenhängenden „Szene“ kommen, wie der NDB sie konstruiert.
Umgekehrt gibt es Teile der Gesellschaft, die ihre politischen Ziele mit illegalen und einschüchternden Mitteln verfolgen können, ohne dass ihnen eine Gewaltideologie attestiert wird.
Wer dieses Jahr in den Niederlanden Ferien macht, läuft womöglich Mitgliedern der rechtsgerichteten „Bauern-Bürger-Bewegung“ über den Weg. Sie wehren sich dagegen, die enormen Tierbestände des Landes zu verringern, wie es Regierungspläne zugunsten von Klima und Umwelt vorsehen. Es wird nämlich viel zu viel Stickstoff emittiert.
Im Zuge der Proteste wurde die Grenze zur Gewalt klar überschritten: Todesdrohungen, Briefe mit Pulver drin, illegale Strassenblockaden mit hunderten Traktoren. Alles schon passiert. Einmal schoss die niederländische Polizei, weil Demonstrierende sie angeblich mit Traktoren anzufahren drohten. Auch unheimliche „Hausbesuche“ kamen vor, inklusive Ausschütten einer Tankladung Gülle vor dem Haus einer Politikerin. Das war alles illegal, auf Einschüchterung ausgelegt und politisch motiviert.
Hätte der NDB eine ideologische Abneigung gegenüber Landwirt*innen, könnte er ein ähnliches Gewaltpotenzial in der Schweiz heraufbeschwören. Schon 2000 und 2001 wurden Verteilzentren von Coop illegal mit Traktoren blockiert, um höhere Preise durchzusetzen. Letztes Jahr deponierten Schäfer*innen zehn tote Schafe vor dem Regierungsgebäude in Bellinzona, um Druck für mehr Wolfsabschüsse zu machen. Und es gibt ständig Drohungen an die Adresse von kantonalen Tierschutzkontrolleur*innen.
Aber es gibt im NDB-Bericht deswegen noch lange keine Sparte „Tiernutzer-Extremismus“. Das hätte ja auch etwas Böswilliges, Willkürliches und Stigmatisierendes. Die allermeisten Landwirt*innen verleihen ihren Anliegen ganz legal und friedlich Ausdruck. Es wäre deplatziert, sie im Bericht als potenzielle Staatsfeind*innen hinzustellen.
Aber dann sollte dasselbe für Tierrechtler*innen und ihre Konfi-Gläser gelten. Es muss eine Untergrenze der Relevanz geben, ab der man sagt: Das war jetzt zu harmlos, das lassen wir weg. Und wird die Relevanzgrenze überschritten, dann sollte der NDB mit konkreten Zahlen und Fakten berichten statt mit vagen Anspielungen – so wie es das ernsthafte Thema Gewalt verdient.
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