Überall Scham, nirgendwo Gerechtigkeit

Wer von Klas­sen­li­te­ratur spricht, meint meist Aufstiegs­li­te­ratur. Aber wer schreibt für und über dieje­nigen, die nicht aufsteigen? Auftakt zur neuen Kolumne „David gegen Goliath”. 
„Emporkömmlinge, das sind die beschämten, da ihre Erfahrungen angesichts dem sozialen und kulturellen Wissen einer höheren Klasse abgewertet werden.“ (Bild: Unsplash / Julian)

Neulich nach einer meiner Lesungen: Der Applaus ist gerade verhallt, als zwei Personen aus dem Publikum zu mir nach vorne kommen. Beide sehen ein biss­chen mitge­nommen aus.

Der erste, Anfang fünfzig, steht von dem Inhalt meines Buches unter einer Art körper­li­chem Schock. Er atmet viel, seine Augen schim­mern feucht. Er ist einer jener Menschen, die ihren Respekt dafür ausdrücken, die eigene Armuts­ge­schichte zu Papier zu bringen. Im selben Atemzug sagt er, wonach ich nicht gefragt hatte: „Aber ich könnte das nicht“. 

Scham und Klasse – sind das wirk­lich zwei Seiten derselben Medaille? Ich habe meine Zweifel.

Zweimal hatte er, selbst aus einer armen Familie kommend, auf seiner Arbeit über seine soziale Herkunft gespro­chen. In beiden Fällen sei er später dafür abge­wertet und beschämt worden. Dass er gegen­über seinen Klienten laut wurde, war von Kolleg*innen und Vorge­setzten als Kontroll­ver­lust verstanden worden, als Ausdruck seiner Unter­klas­se­so­zia­li­sa­tion, sagt er.

„David gegen Goliath” ist hier Programm. Olivier David 
gegen die Goli­aths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facet­ten­reichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Preka­rität und Gegen­kultur zu reflek­tieren, zu bespre­chen, einzu­ordnen. „David gegen Goliath” ist der Versuch eines Schrei­bens mit Klas­sen­stand­punkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint eben­falls als Newsletter.

Er habe sich so geschämt, dass er seine Klas­sen­her­kunft seither eisern verschwieg. Bis zu diesem Moment, als 15 Jahre später ein Autor um die Ecke kam, ich, und ihn mit einem Leben konfron­tierte, das er glaubte, hinter sich gelassen zu haben. Während wir spre­chen, ringt der Mann um seine Fassung, so sehr fühlt er sich in meinen Ausfüh­rungen beschrieben. Ähnlich aufge­wühlt wieder­holt sich dieses Gespräch beinahe iden­tisch mit der Street­wor­kerin, mit der ich danach ins Gespräch komme. Das verbin­dende Element beider Gefühls­aus­brüche an diesem Abend ist die Scham.

Scham und Klasse: Zwei Seiten derselben Medaille?

Wenn über Klasse gespro­chen oder geschrieben wird, dann ist die Scham nicht weit. Jene funda­men­tale Krän­kung, die in beinahe jeder Erzäh­lung über Klasse (ich nehme mich da nicht raus) durch­schim­mert. Ob bei Annie Ernaux, Édouard Louis oder Didier Eribon, oder im deutsch­spra­chigen Raum bei Chri­stian Baron, Deniz Ohde oder Daniela Drös­cher, es scheint, als sei die Scham der stän­dige Begleiter jedweder Klassenerzählung. 

Scham und Klasse – sind das wirk­lich zwei Seiten derselben Medaille? Ich habe meine Zweifel.

Olivier David, 34, ist Autor und Jour­na­list. 2022 erschien sein Debüt „Keine Aufstiegs­ge­schichte”, in dem er über den Zusam­men­hang von psychi­schen Erkran­kungen und Armut schreibt. Für das ND (vormals neues deutsch­land) schreibt er die Kolumne „Klas­sen­treffen”. Olivier wohnt in Hannover und studiert in Hildes­heim lite­ra­ri­sches Schreiben.

Für die meisten Werke der aufge­zählten Autor*innen, die unter dem Label der Klas­sen­li­te­ratur verhan­delt werden, wäre der Ausdruck der Aufstiegs­li­te­ratur passender. Es wird entweder der beschwer­liche Weg aus der unteren Klasse heraus beschrieben oder es werden mit einigem Abstand mittels eines lite­ra­risch-ethno­lo­gi­schen Blicks die Bedin­gungen und sozialen Kosten des Aufstiegs aus der Perspek­tive des Trans­classe beleuchtet – jenen, die Aufsteigen, aber irgendwo zwischen Herkunfts­klasse und Ankunfts­klasse stecken bleiben und sich fortan in beiden Klassen fremd fühlen.

In beiden Fällen ist der Prot­ago­nist oder die Prot­ago­ni­stin in Bewe­gung: auf dem Weg nach oben – oder er ist schon oben und blickt zurück. Gerade weil er sich bewegt, spürt er seine Fesseln. Empor­kömm­linge, das sind die Beschämten, da ihre Erfah­rungen ange­sichts des sozialen und kultu­rellen Wissens einer höheren Klasse abge­wertet werden. 

Gerade weil er sich bewegt, spürt er seine Fesseln.

In der Folge lernen viele, mit dem Blick der Mittel- und Ober­klasse auf ihr Herkunfts­mi­lieu zu schauen und werten die ehemals eigene Lebens­weise und die der Eltern ab. Das Schreiben dient als Versuch, die durch den Aufstieg verur­sachten kultu­rellen Soll­bruch­stellen zu kitten und einen Umgang mit den Eltern und dem Herkunfts­mi­lieu zu finden – ohne dabei die Herkunft abzu­werten. Wurde da schon für die eigene Herkunfts­klasse geschrieben? – oder wird nur der Vorgang reflek­tiert, wie man es schafft, das ehema­lige Milieu nicht mehr abzuwerten?

Indi­vi­du­elle Scham versus insti­tu­tio­nelle Scham

Das sind spezi­fi­sche Frage­stel­lungen, die Aufsteiger*innen beschäf­tigen. Für die Leben vieler Menschen in der unteren Klasse spielt Scham eine gerin­gere Rolle. Die soziale Durch­mi­schung nimmt ab, explo­die­rende Mieten drängen Fami­lien mit kleinem Einkommen aus den Stadt­zen­tren hinaus. Ihre Kinder gehen immer seltener in dieselben Schulen wie Kindern aus gut verdie­nenden Familien.

Dort, wo Menschen aus der unteren Klasse tägliche Kontakte in andere soziale Milieus und Klassen haben, dort werden sie insti­tu­tio­nell beschämt.

Daher bleibt die Frage: Wenn die Leute in einem Armuts­viertel nicht struk­tu­rell mit den Menschen einer höheren Klasse in Berüh­rung kommen, wer soll dann beschämt werden? Wer wird beschämt in den Banlieues und Vororten, in denen alle ähnliche Erfah­rung über Mangel­ver­wal­tung und Preka­rität teilen und sich Kontakte in andere Milieus und Klassen nicht einstellen?

Viele Schrei­bende, die vorgeben, soziale Ungleich­heit in den Blick zu nehmen, tun das oftmals genau dort, wo sie selbst einen Nutzen haben: an der Front­linie der eigenen Aufstiegs­er­zäh­lung. Daran ist erst mal nichts falsch. Falsch wird es, wenn die Refle­xion des eigenen Aufstiegs im Namen sozialer Gerech­tig­keit geführt wird. Denn nicht oft genug wird dabei die Gerech­tig­keit aller in den Blick genommen.

Ja, manchmal sind solche Erzäh­lungen auch selbst­ge­recht. Zum Beispiel, wenn Autor*innen vorgeben, Poli­ti­sches für alle im Sinn zu haben, wo vor allem die eigene Status­ver­bes­se­rung im Fokus steht. Ein Beispiel: Die Formu­lie­rung „Arbeiter*innenkinder“. Fein säuber­lich unter­scheidet sie zwischen Aufsteiger*innen, die an der Univer­sität oder im Berufs­leben aufgrund ihrer sozialen Herkunft beschämt werden, und deren Eltern und dem origi­nären Umfeld. Es geht hierbei um Chan­cen­ge­rech­tig­keit für die eigene Bubble, es geht um Anti­dis­kri­mi­nie­rung und daran ist nichts falsch. Aber es geht nicht um soziale Gerech­tig­keit für alle.

Scham als Wachs­tums- oder Reibungs­schmerz. Ich möchte den Begriff der insti­tu­tio­nellen Scham vorschlagen. Dort, wo Menschen aus der unteren Klasse tägliche Kontakte in andere soziale Milieus und Klassen haben, dort werden sie insti­tu­tio­nell beschämt. Tag für Tag. Ich kenne das seit meiner Einschu­lung als Junge aus einer armen Familie auf einer Waldorf­schule. Von meinem siebten Lebens­jahr an war ich von Kindern umgeben, deren Eltern zum Teil Haus- oder Villenbesitzer*innen waren. 

Andere Kinder aus meinem Wohn­haus, in dem es viele Sozi­al­woh­nungen gab, hatten diese Kontakte nicht. Haben sie sich deshalb nie schämen müssen? Natür­lich nicht. Klar: Als armer Mensch kommt man an der Scham nicht vorbei. Ich denke da an 3,7 Millionen Menschen, die in Deutsch­land Grund­si­che­rung beziehen (in der Schweiz sind es 89.000 Tausend), die beim Jobcenter entwür­di­genden Prak­tiken ausge­setzt sind. Der viel grös­sere Teil der Armen bezieht aller­dings keine Leistungen vom Amt.

Überall Scham, nirgendwo Gerechtigkeit

Einer­seits stimmt es, was Dirck Linck in seinem Aufsatz, „Die Poli­ti­sie­rung der Scham“ schreibt. „Das Maß, in dem Menschen zur Scham neigen, hängt gewiss von ihren indi­vi­du­ellen Erfah­rungen mit Beschä­mung ab – doch niemand ist unan­sprechbar, weil niemand unbe­schämt bleibt in dieser Gesellschaft.“

Jedoch bleibt die Frage, wie indi­vi­duell Erfah­rungen in einer Klas­sen­ge­sell­schaft sein können. Insti­tu­tio­nelle Scham ist ein Reibungs- oder Wachs­tums­schmerz, der vor allem bei jenen auftritt, die nicht in segre­gierten, abge­schot­teten Klas­sen­ver­hält­nissen leben. 

Dieser Text ist ein Plädoyer für einen Jour­na­lismus und eine Lite­ratur für alle. 

Die soziale Beschä­mung als Herr­schafts­technik zahlt sich sogar für die meisten Beschämten aus. Eine Studie zeigt, dass „Kinder aus benach­tei­ligten Fami­lien als Erwach­sene durch­schnitt­lich 20 Prozent mehr verdienen, wenn sie mit Kindern aus wohl­ha­benden Eltern­häu­sern befreundet waren als Kinder, die keine reichen Kontakte hatten.“ Ich gehöre zu dieser Gruppe. Und auch die beiden Sozialarbeiter*innen, die mich nach meiner Lesung ange­spro­chen haben, gehören dazu, trotz ihres Klassenhintergrundes. 

Dieser Text ist ein Plädoyer für einen Jour­na­lismus und eine Lite­ratur für alle. Auch für jene, die unter sich bleiben, jene, die keine Zeitungen und Bücher lesen. Bei denen die Frage nach gesell­schaft­li­chem Aufstieg so weit entfernt ist wie der Gewinn der Schweizer Meister­schaft für den FC Winter­thur. Ein Schreiben, das nicht vorgibt, für diese Unsicht­baren zu schreiben, dabei aber ein selbst­wirk­sames Aufsteiger*innenmilieu im Blick hat. Das ist das Ziel, an dem sich ein enga­gierter Medien- und Lite­ra­tur­be­trieb wird messen lassen müssen.


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Berühmt und brotlos

Unsere Kolumnistin maia arson crimew ist "die berühmteste Hackerin der Schweiz". Ihre aktivistische und journalistische Arbeit schlug international grosse Wellen. Trotzdem lebt sie am Existenzminimum – und so wie ihr geht es vielen Berühmtheiten heutzutage.