Zunächst verweilt Yasins kleiner Bruder Murat über längere Zeit in einem Asylcamp im serbischen Adaševci, welches sich knapp zwanzig Kilometer vor der kroatischen Grenze befindet. Von hier aus unternimmt er mehrere Versuche, über die Grenze zu gelangen. „Etwa zwanzigmal hat er es probiert“, sagt Yasin.
Irgendwann wird Murat krank. Yasin und Fabian zeigen auf ihren Handys Fotos von Murats Beinen, auf denen ein starker Ausschlag zu sehen ist. Sie versuchen, ihm aus der Ferne zu helfen, zeigen die Fotos der Ausschläge einem befreundeten Arzt.
Dieser vermutet Krätze, kann aber aus der Ferne keine genaue Diagnose stellen. Im Nachhinein wird sich herausstellen, dass es nicht nur die Krätze war, sondern auf den Fotos auch Schlangenbisse zu sehen waren.
Seit Wochen werden seitens bürgerlicher Politiker*innen und Medien wieder Ängste vor Geflüchteten geschürt. Es heisst, wir befänden uns in einer Krise. Es kämen zu viele Menschen, es gäbe keinen Platz und man müsse das Asylregime weiter verschärfen.
Weniger wird über die Tatsache berichtet, dass es für viele Menschen, die aus ihrem Herkunftsland flüchten, praktisch unmöglich ist, auf legalem Weg in die Schweiz zu gelangen. Stattdessen müssen sie eine Reise voller lebensbedrohlicher Gefahren und Ungewissheiten auf sich nehmen.
Um diesen Weg einigermassen unbeschadet zurückzulegen, sind die meisten auf Hilfe angewiesen. Viele helfen, weil sie helfen möchten, andere gegen Geld, manchmal sehr viel Geld.
Ohne Personen, die Geflüchtete über eine Grenze bringen, ohne Personen, die mit Leuten in Not ihr Essen teilen, ihnen für eine oder mehrere Nächte einen Platz zum Schlafen anbieten oder ihnen den Weg erklären, würden es viele nicht schaffen. Auch in der Schweiz gibt es Menschen, die Geflüchtete und deren Familien unterstützen.
Das ist die Geschichte von drei Brüdern, die im Teenageralter aus Afghanistan geflüchtet sind und von den Leuten, die ihnen dabei geholfen haben. Erzählt wird sie von Yasin* und Fabian*, belegt und veranschaulicht mit Dokumenten, Fotos und Chatverläufen.
Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Pushbacks und Dublin
Teil 3: Hilfe von unerwarteter Seite
Teil 4: Flucht mit dem Wohnmobil
Einer der letzten Versuche Murats, die Grenze zu überqueren, geht gründlich schief: Eine Gruppe von afghanischen Schleppern, die zur Ethnie der Paschtunen gehören, kontrolliert einen Teil des Grenzgebiets, das Murat durchqueren muss und das zum Teil von dichtem Wald bedeckt ist.
Erpressung am Telefon
Als sie Murat, der einer anderen Ethnie – den Hazara – angehört, das erste Mal erwischen, kommt er noch davon. Das zweite Mal sperren sie ihn in einer Hütte im Wald ein und nehmen ihm sein Handy weg.
Yasin telefoniert über Murats Handy mit einem der Entführer. „Ich habe versucht, ihn zu überreden, Murat freizulassen. Er meinte zu mir, er will 1’500 Euro, dann bringt er meinen Bruder über die Grenze. Ich antwortete, dass ich kein Geld habe.“
Fabian wird sofort aktiv und fragt bei all seinen Bekannten und dem Netzwerk aus Menschen um Hilfe, die sich für Geflüchtete einsetzen, in dem er sich mittlerweile bewegt.
Innert Kürze kann jemand den Kontakt zu Vanja Crnojević herstellen. Die Schweizer Flüchtlingshelferin hat 2015 gemeinsam mit Freund*innen die Organisation Borderfree Association gegründet.
Sie zieht alle möglichen Register und bringt mithilfe ihrer Kontakte die Polizei dazu, zur Hütte im Wald auszurücken, in der Murat festgehalten wird – eine Seltenheit. Fast zeitgleich aber meldet sich Murat bei Yasin: Es ist ihm aus eigener Kraft gelungen zu entkommen.
Er bleibt weitere Wochen im Camp in Adaševci, bis er es schafft, sich in einem Lastwagen zu verstecken und nach Kroatien zu gelangen.
Es ist mittlerweile Sommer 2022. Murat ist in Kroatien, Ali noch immer in der Türkei und Yasin und Fabian nehmen gemeinsam an einer Demonstration gegen das Talibanregime teil, die in Bern stattfindet.
Auf den Tag genau ein Jahr zuvor, am 15. August 2021, haben die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul eingenommen. Während der Demonstration erhält Yasin einen Anruf von Murat. „Er rief an und meinte, er habe grossen Hunger.“
Hilfe von unerwarteter Seite
Yasin bittet ihn, ihm seinen Standort zu schicken und wirft einen Blick auf Google Maps. Er findet einen Supermarkt in der Nähe, der aber geschlossen ist.
Yasin hat eine spontane Eingebung und fordert seinen Bruder auf, einen Passanten um Hilfe zu fragen, der Englisch spricht. Yasin holt Fabian aus dem Lärm der Demo und hält ihm sein Handy hin. Er bittet ihn, mit dem Mann am anderen Ende Englisch zu sprechen.
„Es war ein Glücksfall, dass Murat gerade diesen Mann getroffen hat“, sagt Fabian. Der Kroate am anderen Ende der Leitung scheint sich zwar bis zu diesem Zeitpunkt nie selbst engagiert zu haben, ist sich aber der Situation der Geflüchteten bewusst. „Er sagte, er möchte uns gerne helfen und wir sollen ihm sagen, was er tun kann.“
Der Mann kauft Murat Essen und Wasser und gibt ihm frische Kleidung. „Wir waren sehr froh, jemanden gefunden zu haben, der uns helfen konnte. Wollten ihn aber nicht zu etwas drängen oder ihn in Schwierigkeiten bringen. Wir haben dann gemeinsam herauszufinden versucht, wie weit er gehen kann und will.“
Fabian und Yasin fragen den Kroaten, der sich mit dem Namen Dominik vorstellt, ob er einen Ort kenne, an dem Murat einigermassen sicher die Grenze überqueren könnte. „Er meinte sofort, er wüsste einen Ort, wo seit etwa einem Monat der Zaun nicht mehr stehe und wo es einen Fluss gebe, den Murat einfach durchwaten könne.“
Plötzlich geht alles schnell. Eigentlich wollen sich Dominik und Murat den Ort bloss ansehen, doch als sie dort ankommen, denken beide, es wäre ein guter Zeitpunkt, um es zu versuchen.
Fabian ist mittlerweile mit Nora und deren Familie bei einem Essen. Er geht regelmässig vom Tisch weg, um mit Dominik und Yasin Sprachnachrichten auszutauschen und zu telefonieren. „Dominik wollte nicht die Verantwortung tragen, falls Murat erwischt würde. Er erwartete von uns, dass wir ihm sagen, ob er ihn rüberschicken soll oder nicht.“
Endlich über der Grenze
Schliesslich sind sich alle einig, dass Murat es versuchen soll. Dominik, der dem Jungen zuvor Offline-Karten der Umgebung auf sein Handy geladen und das nächste Dorf markiert hat, meldet Fabian, der wiederum Yasin informiert: Alles gut gegangen.
Murat ist nun in Slowenien. „Wir haben oft darüber gesprochen, wann wir Murat entgegenkommen könnten. Yasin wollte nicht, dass wir uns selber in Gefahr bringen.“ Aber genau das wird Fabian tun, denn er fasst den Beschluss, nach Slowenien zu fahren und Murat abzuholen.
Wieso gerade in diesem Moment, als Murat im Verhältnis zur gesamten Fluchtroute so nah ist? Einerseits fürchten Fabian und seine Partnerin Nora, dass Murat so kurz vor dem Ziel registriert und schlimmstenfalls als volljährig eingestuft werden könnte – was seine Chancen darauf, in absehbarer Zeit in der Schweiz ein Asylgesuch zu stellen, vernichtet hätte.
Doch das sei nicht der einzige Grund, erklärt Fabian: „Man muss sich vor Augen führen, dass das ein fünfzehnjähriger Junge ist, der alleine in Slowenien ist. Er war noch nie in Europa, spricht die Sprache nicht und es liegt immer noch ein unglaublich langer Weg vor ihm. Auf jedem Schritt, den man einem Menschen entgegenkommt, erspart man ihm neue Traumata und die Verlängerung einer beschwerlichen Zeit.“
Fabian und Yasin besprechen, wie sie vorgehen wollen. Fabian hat gerade ein paar Tage frei, bevor er einen neuen Job beginnt. „Für mich war eigentlich klar, dass der Zeitpunkt perfekt passt, aber ich wollte, dass es auch für Yasin stimmt.“
Dieser ist zuerst skeptisch, als Fabian ihm vorschlägt, mit dem Wohnmobil nach Slowenien zu fahren. „Ich fand es sehr gefährlich für Fabian. Murat hatte sowieso keine Papiere und war illegal unterwegs, aber Fabian hatte viel zu verlieren. Er hätte sogar ins Gefängnis kommen können“, so Yasin.
Als sie die Rettungsaktion planen, vereinbaren die beiden deshalb, dass Fabian Murat nicht über die Grenze fahren soll, sondern dieser jeweils kurz vor der Grenze aus dem Auto steigt, zu Fuss geht und nach der Grenze wieder zusteigt.
Ob man sich mit diesem Vorgehen tatsächlich weniger strafbar macht, ist fraglich. Im Schweizer Gesetz existiert keine explizite Unterscheidung zwischen der gemeinhin negativ bewerteten „Schlepperei“ und der meist positiv betrachteten „humanitären Fluchthilfe“.
Stattdessen fallen Situationen, die mit diesen Begriffen bezeichnet werden, unter das, was im Artikel 116 des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG) als „Förderung der rechtswidrigen Ein- und Ausreise sowie des rechtswidrigen Aufenthalts“ bezeichnet wird.
Schweizer Recht gegen Fluchthilfe
Daran, dass Fabian Murat bei der rechtswidrigen Einreise in die Schweiz unterstützen will, mit oder ohne Aussteigen aus dem Auto, herrscht kein Zweifel. Im Gesetz ist bei Zuwiderhandlung gegen Artikel 116 bis zu einem Jahr Gefängnis oder eine Geldstrafe vorgesehen. Ein moralisch hehres Motiv, das nicht von finanziellen Interessen geleitet ist, kann sich aber positiv auf das Strafmass auswirken.
Das Kriterium der Bereicherungsabsicht, wenn auch nicht im Gesetz festgehalten, kann in der Rechtsprechung bis heute als Differenzierungskriterium wahrgenommen werden. Weshalb das problematisch sein kann, zeigt Juristin Milena Holzgang in ihrem Beitrag „Schlepperei versus humanitäre Fluchthilfe: Bereicherungsabsicht als Differenzierungskriterium?“.
Wie hoch die Strafe für Fabian tatsächlich ausfallen würde, entschiede sich erst vor Gericht. Zum Vergleich: Die wohl bekannteste Schweizer Fluchthelferin, die heute 77-jährige Anni Lanz, wurde 2020 letztinstanzlich zu einer Geldstrafe von 800 Franken verurteilt, weil sie einen afghanischen Geflüchteten in ihrem Auto über die italienisch-schweizerische Grenze gefahren hatte.
Aber Fabian hat ohnehin nicht vor, sich erwischen zu lassen. Innerhalb von einem Tag planen Yasin und er die Reise. Das Wohnmobil, das sich Fabian und Nora mit Freunden teilen, ist gerade frei. Fabian packt Proviant und Kleider ein und fährt los Richtung Gotthard.
Wie kommt jemand eigentlich dazu, sich strafbar zu machen, um einer anderen Person zu helfen? Noch dazu jemand wie Fabian, der wohlbehütet in einer eher bürgerlichen Familie aufgewachsen ist und der von sich selbst sagt, er habe keine kriminelle Energie?
Seine Politisierung führt er insbesondere auf seine Partnerin zurück. „Bis Mitte zwanzig machte ich mir sehr wenig Gedanken über die Welt oder über Politik und ging meistens nicht einmal abstimmen.”
Dank Nora, die politischer sei als er, entdeckte er seine aktivistische Seite, aber nicht nur: „Der Hauptgrund war, dass Yasin bereits Teil unserer Familie ist. Und für unsere Familie würden wir das vermutlich alle tun, oder?“
Von Menschlichkeit und Google Maps – eine Reportage in vier Teilen
Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Pushbacks und Dublin
Teil 3: Hilfe von unerwarteter Seite
Teil 4: Flucht mit dem Wohnmobil (Publikationsdatum: 02.02.2023)
*Die Namen von Yasin und Fabian wurden auf Ihren Wunsch hin geändert.
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