Von Mensch­lich­keit und Google Maps: Gefängnis, Push­backs und Dublin (2/4)

Yasin ist sicher in der Schweiz ange­kommen. Nach bürger­kriegs­ar­tigen Unruhen im Früh­jahr 2021 müssen auch seine beiden Brüder aus Afgha­ni­stan fliehen. Fabian hilft, die Zwil­linge über die Türkei nach Grie­chen­land zu lotsen. Teil zwei der vier­tei­ligen Reihe. 
Fast alle Fluchtrouten führen irgendwann über das Meer (Illustration: Luca Mondgenast)

Seit ihrem ersten Treffen 2020 hat sich sowohl in Fabians wie auch in Yasins Leben viel verän­dert. Fabian hat seinen Bürojob gekün­digt, war in Grie­chen­land in einem Camp für Geflüch­tete und hat seine akti­vi­sti­sche Seite entdeckt.

Für Yasin läuft es gut in der Schweiz: Auch dank Fabian und seiner Part­nerin Nora hat er Anschluss gefunden, sein Deutsch ist gut. Er konnte eine Vorlehre beginnen und hat zwar immer noch den Status F, den er jedes Jahr erneuern muss, aber gute Aussichten darauf, bald den B‑Ausweis zu erhalten. Doch im vergan­genen Jahr warfen verschie­dene Ereig­nisse einen dunklen Schatten auf diese posi­tiven Entwick­lungen in Yasins Leben.

Als sich die USA im Sommer 2021 aus Afgha­ni­stan zurück­ziehen, bricht im Land Krieg aus. „Meine Familie hatte grosse Angst vor den Taliban. Man wusste nie, ob sie auch in unser Dorf kommen würden.“

Yasin ist Tag und Nacht am Handy, liest Nach­richten und versucht – wann immer möglich – mit seiner Familie in Kontakt zu bleiben. Mehr­mals bricht das Tele­fon­netz zusammen und Yasins Eltern und Geschwi­ster haben tage­lang keinen Empfang. „Manchmal konnte ich nicht schlafen, lag die ganze Nacht da und habe mir viele Gedanken gemacht.“ 

Auch die Brüder müssen fliehen

Sein Vater packt die Koffer, um notfalls für eine Weile in die Berge zu fliehen, die Mutter und Yasins Schwe­stern verlassen aus Angst das Haus nicht mehr. Seit der Macht­über­nahme der Taliban Mitte August 2021 sei es wieder etwas ruhiger. Und doch: „Die Taliban sind schlecht“, sagt Yasin. Eine seiner Schwe­stern hat ihren Job als Lehrerin verloren und die Familie lebt in noch grös­serer Unge­wiss­heit als zuvor.

Seit Wochen werden seitens bürger­li­cher Politiker*innen und Medien wieder Ängste vor Geflüch­teten geschürt. Es heisst, wir befänden uns in einer Krise. Es kämen zu viele Menschen, es gäbe keinen Platz und man müsse das Asyl­re­gime weiter verschärfen.

Weniger wird über die Tatsache berichtet, dass es für viele Menschen, die aus ihrem Herkunfts­land flüchten, prak­tisch unmög­lich ist, auf legalem Weg in die Schweiz zu gelangen. Statt­dessen müssen sie eine Reise voller lebens­be­droh­li­cher Gefahren und Unge­wiss­heiten auf sich nehmen.

Um diesen Weg eini­ger­massen unbe­schadet zurück­zu­legen, sind die meisten auf Hilfe ange­wiesen. Viele helfen, weil sie helfen möchten, andere gegen Geld, manchmal sehr viel Geld.

Ohne Personen, die Geflüch­tete über eine Grenze bringen, ohne Personen, die mit Leuten in Not ihr Essen teilen, ihnen für eine oder mehrere Nächte einen Platz zum Schlafen anbieten oder ihnen den Weg erklären, würden es viele nicht schaffen. Auch in der Schweiz gibt es Menschen, die Geflüch­tete und deren Fami­lien unterstützen.

Das ist die Geschichte von drei Brüdern, die im Teen­ager­alter aus Afgha­ni­stan geflüchtet sind und von den Leuten, die ihnen dabei geholfen haben. Erzählt wird sie von Yasin* und Fabian*, belegt und veran­schau­licht mit Doku­menten, Fotos und Chatverläufen.

Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Push­backs und Dublin
Teil 3: Hilfe von uner­war­teter Seite
Teil 4: Flucht mit dem Wohnmobil

Yasin sorgt sich aber nicht nur um seine Familie zuhause, sondern insbe­son­dere um seine Brüder Murat und Ali. Im Früh­jahr 2021, kurz bevor in Afgha­ni­stan bürger­kriegs­ähn­liche Zustände herr­schen, verlassen auch sie Dorf und Elternhaus.

Die Zwil­linge sind unge­fähr im selben Alter wie Yasin damals, als sie die gefähr­liche Reise in den Iran antreten. Gleich dem älteren Bruder bleiben sie zunächst im Nach­bar­land und arbeiten dort während acht Monaten, bevor sie die Grenze zur Türkei über­queren und wie Yasin in einer Textil­fa­brik Arbeit finden. 

Sie sind Zwil­linge, aber sehr verschieden. Während Ali sehr selbst­ständig ist, ist Murat eher unsi­cher und Yasin vermutet zu diesem Zeit­punkt, dass er eine Lern­schwäche hat. Aus diesem Grund sorgt er sich zusätz­lich um das Befinden seiner Brüder, die noch Teen­ager sind, und in einem fremden Land arbeiten und über­leben müssen. 

„Du hast immer sehr viel Verant­wor­tung über­nommen“, sagt Fabian, der ab und zu, nachdem er jeweils Blick­kon­takt mit Yasin aufge­nommen hat, einspringt, wenn diesem ein Detail nicht mehr einfällt oder ihm nicht ganz klar ist, worauf eine Frage abzielt.

Unter­stüt­zung mit Google Maps

„Es ist immer über dich gegangen, du hast auf Google Maps geschaut, wo sie sind und ihnen gesagt, wo sie hin könnten; hier hat es eine Bussta­tion, da eine Tank­stelle.“ Zwischen­durch ruft Yasin auch mal alte Bekannte an und schafft es, einen Schlaf­platz für seine Brüder zu organisieren. 

Von der Bela­stung, der Yasin im vergan­genen Jahr ausge­setzt war, merkt man ihm nicht viel an. Er spricht mit ruhiger Stimme und lächelt oft, entschul­digt sich mehr­mals dafür, dass er sich nicht mehr an alles erin­nere. „Ich habe viel vergessen“, sagt er.

Nach einigen Monaten in der Türkei haben Yasins Brüder genü­gend Geld beisammen, um einen Schlepper zu zahlen, der einen von ihnen nach Grie­chen­land bringt. Gemeinsam mit Yasin beschliessen die drei, dass Murat die gefähr­liche Reise antreten soll und Ali sich weiter in der Türkei durchschlägt. 

Obwohl es zunächst nicht den Anschein macht, geht der Plan schief: Murat ist mit mehreren Personen unter­wegs und schafft es über die grie­chisch-türki­sche Grenze. Die Gruppe legt einen Teil des Weges zu Fuss zurück, einen Teil mit Taxis und Lastwagen.

Doch dann werden sie von der Polizei erwischt und in die Türkei zurück­ge­bracht. Aufge­griffen werden sie aber nicht etwa im Grenz­ge­biet, sondern in der rund 300 Kilo­meter von der Grenze entfernten Küsten­stadt Thessaloniki.

Wenn von Push­backs die Rede ist, denken viele Menschen an Küsten­wa­chen, die Boote mit Geflüch­teten zurück ins offene Meer drängen oder an Beamt*innen mit Schlag­stöcken und Hunden an Landes­grenzen. Doch seit mehreren Jahren häufen sich Berichte von Geflüch­teten und NGOs, die über die Praxis grie­chi­scher Behörden infor­mieren, Geflüch­tete im Landes­in­neren einzu­sam­meln und illegal in die Türkei abzuschieben. 

Genau dieses Schicksal wider­fährt Murat in Thes­sa­lo­niki. Sie bringen ihn nicht nur zurück in die Türkei, sondern nehmen ihm alles weg, was er dabei hat: seine Kleider, ein biss­chen Geld, das Handy. „Sie haben ihn auch geschlagen“, sagt Yasin.

Neue büro­kra­ti­sche Hürden

Fabian tele­fo­niert nach diesem Vorfall mit einer NGO vor Ort, um sich zu erkun­digen, was er und Yasin gegen dieses Vorgehen tun können. Die Antwort lautet: nichts. „Uns sind die Hände gebunden“, meint die Anwältin am Telefon, „mit diesem Gespräch machen wir uns bereits strafbar“. Sie erzählt, die Polizei sammle oft Leute in Thes­sa­lo­niki ein und Geflüch­tete seien gut damit beraten, sich von grossen Plätzen und Bahn­höfen fernzuhalten. 

Im September 2020 wurden die büro­kra­ti­schen Hürden für grie­chi­sche NGOs, die sich für Geflüch­tete einsetzen, massiv erhöht. 2021 hat das grie­chi­sche Parla­ment ein Gesetz zur Ände­rung von Abschiebe- und Rück­füh­rungs­ver­fahren verab­schiedet, dessen Artikel 40 die Arbeit von NGOs, die Geflüch­tete retten wollen, quasi krimi­na­li­siert. Die UNHCR versuchte vergeb­lich zu inter­ve­nieren.

Während Murats zweiter Versuch klappt und er bald darauf von Grie­chen­land aus weiter nach Serbien reist, wird Ali von der türki­schen Polizei aufge­griffen, weil er sich illegal im Land aufhält und für mehrere Wochen in ein geschlos­senes Asyl­camp gesteckt.

Es folgt eine weitere Zitter­partie, denn seit der Macht­über­nahme der Taliban schaffen die türki­schen Behörden afgha­ni­sche Geflüch­tete zum Teil in deren Herkunfts­land zurück. Nach einigen Wochen kommt Ali aber wieder frei. Yasin ist unter­dessen – wann immer möglich – mit den Brüdern in Kontakt. 

Fabian und Nora unter­stützen ihn, so gut sie können. Sie klären auch ab, ob es einen legalen Weg gäbe, Yasins Brüder in die Schweiz zu holen. Doch dieses Unter­fangen ist chancenlos.

Wer aus einem Dritt­staat wie Afgha­ni­stan stammt, kann ledig­lich Ehegatt*innen, einge­tra­gene Partner*innen und eigene Kinder unter 18 Jahren in die Schweiz nach­kommen lassen. „Im Schweizer Asyl­wesen gehören Brüder nicht zur Familie“, sagt Fabian, „zumin­dest nicht, solange sie nicht hier sind.“

Jedoch ist die Rechts­lage im Fall von unbe­glei­teten Minder­jäh­rigen anders, zumin­dest inner­halb des Schengen-Dublin-Raumes, dem Grie­chen­land im Unter­schied zur Türkei ange­hört. Minder­jäh­rige geniessen inner­halb von Dublin-Staaten einen beson­deren Schutz.

So steht in der Dublin-III-Verord­nung zum Thema: „Ist der Antrag­steller ein unbe­glei­teter Minder­jäh­riger, der einen Verwandten hat, der sich recht­mässig in einem anderen Mitglied­staat aufhält […] so führt dieser Mitglied­staat den Minder­jäh­rigen und seine Verwandten zusammen.“

Ohne Pass keine Rechte

Theo­re­tisch hätte Murat also in Grie­chen­land einen Antrag auf Asyl stellen und Yasin aus der Schweiz erwirken können, dass sein Bruder zu ihm geholt wird. Doch das ist ein riskantes Unter­fangen. Denn um zu errei­chen, dass einen das Staats­se­kre­ta­riat für Migra­tion (SEM) bei einer Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung unter­stützt, muss man glaub­haft machen, dass die betref­fende Person minder­jährig ist – und dass über­haupt ein Verwandt­schafts­ver­hältnis besteht.

Doch weder Yasin noch seine Brüder waren je im Besitz eines Passes. Zwar besitzen alle eine Tazkira, ein afgha­ni­sches Perso­nal­do­ku­ment, doch ist in ihrem Fall ledig­lich das Ausstellungs‑, nicht aber das Geburts­datum eingetragen.

Dass die Behörden stets darauf bedacht sind, Asyl­su­chende im Zwei­fels­fall älter zu schätzen, als sie sind, ist kein Geheimnis. Murat wäre also Gefahr gelaufen, voll­jährig einge­stuft zu werden und dann in Grie­chen­land fest­sitzen: Denn die Dublin-Zusam­men­ar­beit basiert auf dem Grund­satz, dass nur in einem der zum Bündnis gehö­renden Staaten ein Asyl­ge­such gestellt werden kann.

All das erfahren Fabian und seine Part­nerin, während sie bei verschie­denen Stellen und Bekannten, die im Asyl- und Migra­ti­ons­be­reich arbeiten, nach Möglich­keiten fragen, die Brüder auf legalem Weg in die Schweiz zu holen. „Es meinten alle bloss: keine Chance.“ Auch die Bean­tra­gung eines huma­ni­tären Visums verwerfen sie rasch wieder, nachdem ihnen Expert*innen versi­chern, dass auch ernstere Fälle als die der beiden Jungen bereits abge­lehnt wurden.

Ein Bericht der Schwei­ze­ri­schen Beob­ach­tungs­stelle für Asyl- und Auslän­der­recht von 2019 kommt zum Schluss, dass das SEM nur einen Bruch­teil der gestellten Anträge für huma­ni­täre Visa bewil­ligt. Wie ein kürz­lich erschie­nener WOZ-Artikel zeigt, hält das SEM auch nach der Macht­über­nahme der Taliban an dieser Praxis fest und lehnt die Mehr­heit der von Afghan*innen gestellten Anträge ab. 

Yasin verzwei­felt zuneh­mend an der Situa­tion. Fabian und Nora kriegen das Geschehen hautnah mit. Sie haben längst eine Mansarde in ihrem Wohn­haus für Yasin herge­richtet, damit er sich, wann immer er möchte, in ein eigenes Zimmer zurück­ziehen kann. Aus dem Asyl­heim ausziehen darf er zum Zeit­punkt des Gesprächs noch nicht, um den Anspruch auf Asyl­so­zi­al­hilfe nicht zu verlieren. 

Yasin ist oft bei ihnen und die drei über­legen gemeinsam, was sie unter­nehmen könnten, um den Brüdern zu helfen. Viele Ideen verwerfen sie schnell wieder. Etwa die, ein Boot zu char­tern und in die Türkei zu segeln, um die beiden abzu­holen, als sie noch gemeinsam da sind.

„Wir fragten uns auch später immer wieder, ob es Sinn machen würde, wenn jemand von uns dahin reist und Geld bringt oder schaut, was genau passiert.“ Fabian und seine Part­nerin beschliessen statt­dessen zu warten, bis Yasins Bruder Murat näher an der Schweiz ist, um ihm logi­stisch zu helfen. Doch bevor es so weit ist, erfolgt die nächste Schreckens­mel­dung: Murat wird in Serbien gekidnappt.


Von Mensch­lich­keit und Google Maps – eine Repor­tage in vier Teilen

Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Push­backs und Dublin
Teil 3: Hilfe von uner­war­teter Seite (Publi­ka­ti­ons­datum: 26.01.2023)
Teil 4: Flucht mit dem Wohn­mobil (Publi­ka­ti­ons­datum: 02.02.2023)

*Die Namen von Yasin und Fabian wurden auf Ihren Wunsch hin geändert.


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