Von Mensch­lich­keit und Google Maps: Hilfe von uner­war­teter Seite (3/4)

In Serbien wird Yasins Bruder Murat entführt. Mit Hilfe der Orga­ni­sa­tion Border­free Asso­cia­tion gelingt es, ihn zu befreien. Ein kroa­ti­scher Passant hilft weiter. Teil 3 der vier­tei­ligen Reihe über eine Flucht aus Afghanistan. 
Ohne Smartphone ist die Flucht heute fast unmöglich (Illustration: Luca Mondgenast)

Zunächst verweilt Yasins kleiner Bruder Murat über längere Zeit in einem Asyl­camp im serbi­schen Adaševci, welches sich knapp zwanzig Kilo­meter vor der kroa­ti­schen Grenze befindet. Von hier aus unter­nimmt er mehrere Versuche, über die Grenze zu gelangen. „Etwa zwan­zigmal hat er es probiert“, sagt Yasin.

Irgend­wann wird Murat krank. Yasin und Fabian zeigen auf ihren Handys Fotos von Murats Beinen, auf denen ein starker Ausschlag zu sehen ist. Sie versu­chen, ihm aus der Ferne zu helfen, zeigen die Fotos der Ausschläge einem befreun­deten Arzt.

Dieser vermutet Krätze, kann aber aus der Ferne keine genaue Diagnose stellen. Im Nach­hinein wird sich heraus­stellen, dass es nicht nur die Krätze war, sondern auf den Fotos auch Schlan­gen­bisse zu sehen waren.

Seit Wochen werden seitens bürger­li­cher Politiker*innen und Medien wieder Ängste vor Geflüch­teten geschürt. Es heisst, wir befänden uns in einer Krise. Es kämen zu viele Menschen, es gäbe keinen Platz und man müsse das Asyl­re­gime weiter verschärfen.

Weniger wird über die Tatsache berichtet, dass es für viele Menschen, die aus ihrem Herkunfts­land flüchten, prak­tisch unmög­lich ist, auf legalem Weg in die Schweiz zu gelangen. Statt­dessen müssen sie eine Reise voller lebens­be­droh­li­cher Gefahren und Unge­wiss­heiten auf sich nehmen.

Um diesen Weg eini­ger­massen unbe­schadet zurück­zu­legen, sind die meisten auf Hilfe ange­wiesen. Viele helfen, weil sie helfen möchten, andere gegen Geld, manchmal sehr viel Geld.

Ohne Personen, die Geflüch­tete über eine Grenze bringen, ohne Personen, die mit Leuten in Not ihr Essen teilen, ihnen für eine oder mehrere Nächte einen Platz zum Schlafen anbieten oder ihnen den Weg erklären, würden es viele nicht schaffen. Auch in der Schweiz gibt es Menschen, die Geflüch­tete und deren Fami­lien unterstützen.

Das ist die Geschichte von drei Brüdern, die im Teen­ager­alter aus Afgha­ni­stan geflüchtet sind und von den Leuten, die ihnen dabei geholfen haben. Erzählt wird sie von Yasin* und Fabian*, belegt und veran­schau­licht mit Doku­menten, Fotos und Chatverläufen.

Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Push­backs und Dublin
Teil 3: Hilfe von uner­war­teter Seite
Teil 4: Flucht mit dem Wohnmobil

Einer der letzten Versuche Murats, die Grenze zu über­queren, geht gründ­lich schief: Eine Gruppe von afgha­ni­schen Schlep­pern, die zur Ethnie der Pasch­tunen gehören, kontrol­liert einen Teil des Grenz­ge­biets, das Murat durch­queren muss und das zum Teil von dichtem Wald bedeckt ist.

Erpres­sung am Telefon

Als sie Murat, der einer anderen Ethnie – den Hazara – ange­hört, das erste Mal erwi­schen, kommt er noch davon. Das zweite Mal sperren sie ihn in einer Hütte im Wald ein und nehmen ihm sein Handy weg.

Yasin tele­fo­niert über Murats Handy mit einem der Entführer. „Ich habe versucht, ihn zu über­reden, Murat frei­zu­lassen. Er meinte zu mir, er will 1’500 Euro, dann bringt er meinen Bruder über die Grenze. Ich antwor­tete, dass ich kein Geld habe.“

Fabian wird sofort aktiv und fragt bei all seinen Bekannten und dem Netz­werk aus Menschen um Hilfe, die sich für Geflüch­tete einsetzen, in dem er sich mitt­ler­weile bewegt.

Innert Kürze kann jemand den Kontakt zu Vanja Crno­jević herstellen. Die Schweizer Flücht­lings­hel­ferin hat 2015 gemeinsam mit Freund*innen die Orga­ni­sa­tion Border­free Asso­cia­tion gegründet.

Sie zieht alle mögli­chen Regi­ster und bringt mithilfe ihrer Kontakte die Polizei dazu, zur Hütte im Wald auszu­rücken, in der Murat fest­ge­halten wird – eine Selten­heit. Fast zeit­gleich aber meldet sich Murat bei Yasin: Es ist ihm aus eigener Kraft gelungen zu entkommen.

Er bleibt weitere Wochen im Camp in Adaševci, bis er es schafft, sich in einem Last­wagen zu verstecken und nach Kroa­tien zu gelangen.

Es ist mitt­ler­weile Sommer 2022. Murat ist in Kroa­tien, Ali noch immer in der Türkei und Yasin und Fabian nehmen gemeinsam an einer Demon­stra­tion gegen das Tali­ban­re­gime teil, die in Bern stattfindet.

Auf den Tag genau ein Jahr zuvor, am 15. August 2021, haben die Taliban die afgha­ni­sche Haupt­stadt Kabul einge­nommen. Während der Demon­stra­tion erhält Yasin einen Anruf von Murat. „Er rief an und meinte, er habe grossen Hunger.“

Hilfe von uner­war­teter Seite

Yasin bittet ihn, ihm seinen Standort zu schicken und wirft einen Blick auf Google Maps. Er findet einen Super­markt in der Nähe, der aber geschlossen ist.

Yasin hat eine spon­tane Einge­bung und fordert seinen Bruder auf, einen Passanten um Hilfe zu fragen, der Englisch spricht. Yasin holt Fabian aus dem Lärm der Demo und hält ihm sein Handy hin. Er bittet ihn, mit dem Mann am anderen Ende Englisch zu sprechen.

„Es war ein Glücks­fall, dass Murat gerade diesen Mann getroffen hat“, sagt Fabian. Der Kroate am anderen Ende der Leitung scheint sich zwar bis zu diesem Zeit­punkt nie selbst enga­giert zu haben, ist sich aber der Situa­tion der Geflüch­teten bewusst. „Er sagte, er möchte uns gerne helfen und wir sollen ihm sagen, was er tun kann.“

Der Mann kauft Murat Essen und Wasser und gibt ihm frische Klei­dung. „Wir waren sehr froh, jemanden gefunden zu haben, der uns helfen konnte. Wollten ihn aber nicht zu etwas drängen oder ihn in Schwie­rig­keiten bringen. Wir haben dann gemeinsam heraus­zu­finden versucht, wie weit er gehen kann und will.“ 

Fabian und Yasin fragen den Kroaten, der sich mit dem Namen Dominik vorstellt, ob er einen Ort kenne, an dem Murat eini­ger­massen sicher die Grenze über­queren könnte. „Er meinte sofort, er wüsste einen Ort, wo seit etwa einem Monat der Zaun nicht mehr stehe und wo es einen Fluss gebe, den Murat einfach durch­waten könne.“

Plötz­lich geht alles schnell. Eigent­lich wollen sich Dominik und Murat den Ort bloss ansehen, doch als sie dort ankommen, denken beide, es wäre ein guter Zeit­punkt, um es zu versuchen.

Fabian ist mitt­ler­weile mit Nora und deren Familie bei einem Essen. Er geht regel­mässig vom Tisch weg, um mit Dominik und Yasin Sprach­nach­richten auszu­tau­schen und zu tele­fo­nieren. „Dominik wollte nicht die Verant­wor­tung tragen, falls Murat erwischt würde. Er erwar­tete von uns, dass wir ihm sagen, ob er ihn rüber­schicken soll oder nicht.“

Endlich über der Grenze

Schliess­lich sind sich alle einig, dass Murat es versu­chen soll. Dominik, der dem Jungen zuvor Offline-Karten der Umge­bung auf sein Handy geladen und das nächste Dorf markiert hat, meldet Fabian, der wiederum Yasin infor­miert: Alles gut gegangen.

Murat ist nun in Slowe­nien. „Wir haben oft darüber gespro­chen, wann wir Murat entge­gen­kommen könnten. Yasin wollte nicht, dass wir uns selber in Gefahr bringen.“ Aber genau das wird Fabian tun, denn er fasst den Beschluss, nach Slowe­nien zu fahren und Murat abzuholen.

Wieso gerade in diesem Moment, als Murat im Verhältnis zur gesamten Flucht­route so nah ist? Einer­seits fürchten Fabian und seine Part­nerin Nora, dass Murat so kurz vor dem Ziel regi­striert und schlimm­sten­falls als voll­jährig einge­stuft werden könnte – was seine Chancen darauf, in abseh­barer Zeit in der Schweiz ein Asyl­ge­such zu stellen, vernichtet hätte.

Doch das sei nicht der einzige Grund, erklärt Fabian: „Man muss sich vor Augen führen, dass das ein fünf­zehn­jäh­riger Junge ist, der alleine in Slowe­nien ist. Er war noch nie in Europa, spricht die Sprache nicht und es liegt immer noch ein unglaub­lich langer Weg vor ihm. Auf jedem Schritt, den man einem Menschen entge­gen­kommt, erspart man ihm neue Trau­mata und die Verlän­ge­rung einer beschwer­li­chen Zeit.“

Fabian und Yasin bespre­chen, wie sie vorgehen wollen. Fabian hat gerade ein paar Tage frei, bevor er einen neuen Job beginnt. „Für mich war eigent­lich klar, dass der Zeit­punkt perfekt passt, aber ich wollte, dass es auch für Yasin stimmt.“

Dieser ist zuerst skep­tisch, als Fabian ihm vorschlägt, mit dem Wohn­mobil nach Slowe­nien zu fahren. „Ich fand es sehr gefähr­lich für Fabian. Murat hatte sowieso keine Papiere und war illegal unter­wegs, aber Fabian hatte viel zu verlieren. Er hätte sogar ins Gefängnis kommen können“, so Yasin.

Als sie die Rettungs­ak­tion planen, verein­baren die beiden deshalb, dass Fabian Murat nicht über die Grenze fahren soll, sondern dieser jeweils kurz vor der Grenze aus dem Auto steigt, zu Fuss geht und nach der Grenze wieder zusteigt.

Ob man sich mit diesem Vorgehen tatsäch­lich weniger strafbar macht, ist frag­lich. Im Schweizer Gesetz existiert keine expli­zite Unter­schei­dung zwischen der gemeinhin negativ bewer­teten „Schlep­perei“ und der meist positiv betrach­teten „huma­ni­tären Fluchthilfe“.

Statt­dessen fallen Situa­tionen, die mit diesen Begriffen bezeichnet werden, unter das, was im Artikel 116 des Bundes­ge­setzes über die Auslän­de­rinnen und Ausländer und über die Inte­gra­tion (AIG) als „Förde­rung der rechts­wid­rigen Ein- und Ausreise sowie des rechts­wid­rigen Aufent­halts“ bezeichnet wird.

Schweizer Recht gegen Fluchthilfe

Daran, dass Fabian Murat bei der rechts­wid­rigen Einreise in die Schweiz unter­stützen will, mit oder ohne Aussteigen aus dem Auto, herrscht kein Zweifel. Im Gesetz ist bei Zuwi­der­hand­lung gegen Artikel 116 bis zu einem Jahr Gefängnis oder eine Geld­strafe vorge­sehen. Ein mora­lisch hehres Motiv, das nicht von finan­zi­ellen Inter­essen geleitet ist, kann sich aber positiv auf das Straf­mass auswirken.

Das Krite­rium der Berei­che­rungs­ab­sicht, wenn auch nicht im Gesetz fest­ge­halten, kann in der Recht­spre­chung bis heute als Diffe­ren­zie­rungs­kri­te­rium wahr­ge­nommen werden. Weshalb das proble­ma­tisch sein kann, zeigt Juri­stin Milena Holz­gang in ihrem Beitrag „Schlep­perei versus huma­ni­täre Flucht­hilfe: Berei­che­rungs­ab­sicht als Diffe­ren­zie­rungs­kri­te­rium?“.

Wie hoch die Strafe für Fabian tatsäch­lich ausfallen würde, entschiede sich erst vor Gericht. Zum Vergleich: Die wohl bekann­teste Schweizer Flucht­hel­ferin, die heute 77-jährige Anni Lanz, wurde 2020 letzt­in­stanz­lich zu einer Geld­strafe von 800 Franken verur­teilt, weil sie einen afgha­ni­schen Geflüch­teten in ihrem Auto über die italie­nisch-schwei­ze­ri­sche Grenze gefahren hatte.

Aber Fabian hat ohnehin nicht vor, sich erwi­schen zu lassen. Inner­halb von einem Tag planen Yasin und er die Reise. Das Wohn­mobil, das sich Fabian und Nora mit Freunden teilen, ist gerade frei. Fabian packt Proviant und Kleider ein und fährt los Rich­tung Gotthard.

Wie kommt jemand eigent­lich dazu, sich strafbar zu machen, um einer anderen Person zu helfen? Noch dazu jemand wie Fabian, der wohl­be­hütet in einer eher bürger­li­chen Familie aufge­wachsen ist und der von sich selbst sagt, er habe keine krimi­nelle Energie?

Seine Poli­ti­sie­rung führt er insbe­son­dere auf seine Part­nerin zurück. „Bis Mitte zwanzig machte ich mir sehr wenig Gedanken über die Welt oder über Politik und ging meistens nicht einmal abstimmen.”

Dank Nora, die poli­ti­scher sei als er, entdeckte er seine akti­vi­sti­sche Seite, aber nicht nur: „Der Haupt­grund war, dass Yasin bereits Teil unserer Familie ist. Und für unsere Familie würden wir das vermut­lich alle tun, oder?“


Von Mensch­lich­keit und Google Maps – eine Repor­tage in vier Teilen

Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Push­backs und Dublin
Teil 3: Hilfe von uner­war­teter Seite
Teil 4: Flucht mit dem Wohn­mobil (Publi­ka­ti­ons­datum: 02.02.2023)

*Die Namen von Yasin und Fabian wurden auf Ihren Wunsch hin geändert.


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