Von Mensch­lich­keit und Google Maps: „Europa, wo ist das?“ (1/4)

Wie man als Teen­ager auf die Idee kommt, seine Heimat zu verlassen. Wie man seiner Familie aus der Ferne helfen kann. Wieso ein Handy genau wie die Hilfe von mutigen Menschen über­le­bens­wichtig ist. Und wie man Fluchthelfende*r wird – darum geht es in dieser vier­tei­ligen Geschichte. 
Der Weg von Afghanistan bis in die Schweiz. Google Maps hat die Orientierung erleichtert. (Illustration: Luca Mondgenast)

Yasin wächst gemeinsam mit seinen fünf Brüdern, drei Schwe­stern und den Eltern in einem kleinen Dorf in Zentral­af­gha­ni­stan auf. Unge­fähr tausend Personen leben hier auf über zwei­tau­send Metern über Meer, die meisten betreiben Land­wirt­schaft, die in erster Linie der Selbst­ver­sor­gung dient. So auch Yasins Familie, die einen Esel, ein paar Kühe, Schafe und Ziegen hält sowie ein Stück Land hat, auf dem sie Gemüse anpflanzt.

Anfangs geht Yasin zur Schule, was in seinem Dorf nicht selbst­ver­ständ­lich ist. Während er auf den Google-Satel­li­ten­auf­nahmen das Schul­ge­bäude sucht, erzählt er weiter. Vier Jahre lang besucht er die Schule, doch der Lehrer schlägt ihn oft. Ausserdem sei die schu­li­sche Ausbil­dung schlecht gewesen, meint Yasin, weshalb er irgend­wann nicht mehr hinging. Sowieso gibt es in seinem Dorf keine rich­tigen Ausbil­dungs­mög­lich­keiten und keine Jobs.

Seit Wochen werden seitens bürger­li­cher Politiker*innen und Medien wieder Ängste vor Geflüch­teten geschürt. Es heisst, wir befänden uns in einer Krise. Es kämen zu viele Menschen, es gäbe keinen Platz und man müsse das Asyl­re­gime weiter verschärfen.

Weniger wird über die Tatsache berichtet, dass es für viele Menschen, die aus ihrem Herkunfts­land flüchten, prak­tisch unmög­lich ist, auf legalem Weg in die Schweiz zu gelangen. Statt­dessen müssen sie eine Reise voller lebens­be­droh­li­cher Gefahren und Unge­wiss­heiten auf sich nehmen.

Um diesen Weg eini­ger­massen unbe­schadet zurück­zu­legen, sind die meisten auf Hilfe ange­wiesen. Viele helfen, weil sie helfen möchten, andere gegen Geld, manchmal sehr viel Geld.

Ohne Personen, die Geflüch­tete über eine Grenze bringen, ohne Personen, die mit Leuten in Not ihr Essen teilen, ihnen für eine oder mehrere Nächte einen Platz zum Schlafen anbieten oder ihnen den Weg erklären, würden es viele nicht schaffen. Auch in der Schweiz gibt es Menschen, die Geflüch­tete und deren Fami­lien unterstützen.

Das ist die Geschichte von drei Brüdern, die im Teen­ager­alter aus Afgha­ni­stan geflüchtet sind und von den Leuten, die ihnen dabei geholfen haben. Erzählt wird sie von Yasin* und Fabian*, belegt und veran­schau­licht mit Doku­menten, Fotos und Chatverläufen.

Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Push­backs und Dublin

Teil 3: Hilfe von uner­war­teter Seite
Teil 4: Flucht mit dem Wohnmobil

Als er vier­zehn oder fünf­zehn Jahre alt ist, entschliesst er sich dazu, sein Eltern­haus zu verlassen und im Iran Arbeit zu suchen, um seine Familie zu unter­stützen. Wie alt er damals ganz genau ist, wissen weder er noch seine Familie, da niemand sein genaues Geburts­datum kennt. Im Dorf­alltag spielt das ohnehin keine Rolle.

Eine lebens­ge­fähr­liche Fluchtroute

Die Eltern wollen ihn davon abhalten, sie machen sich Sorgen, denn er ist klein und nicht beson­ders kräftig, erzählt er verlegen lächelnd. Er kann sie schliess­lich doch über­zeugen, weil ein Bekannter von ihm mitgeht.

Dass die Taliban die Macht über­nehmen würden, zeich­nete sich vor sechs Jahren noch nicht ab, doch herrschten in einigen Regionen bereits kriegs­ähn­liche Zustände und es kam immer wieder zu Atten­taten – auch in der Provinz, aus der Yasin stammt. „Es gingen immer mal wieder Bomben hoch, es war nicht sicher“, erzählt er.

Der Weg in den Iran ist gefähr­lich und lang. Er führt strecken­weise durch schwie­riges Gelände und von Taliban kontrol­lierte Gebiete. Immer wieder kommen Leute um, so auch ein Freund von Yasin, der bei einem Auto­un­fall auf derselben Route tödlich verunfallt.

In der irani­schen Haupt­stadt Teheran ange­kommen, arbeitet Yasin während zwei Jahren als Elek­triker auf verschie­denen Baustellen. „Es war aber nicht gut“, sagt er. Afgha­ni­sche Geflüch­tete werden im Iran oft am Arbeits­platz ausge­beutet und leben teil­weise unter unwür­digen Bedingungen.

Darüber berichten seit mehreren Jahren NGOs und verschie­dene Medien. Im April dieses Jahres hatte der stell­ver­tre­tende Mini­ster für Infor­ma­tion und Kultur des Tali­ban­re­gimes, Zabiu­llah Mudschahid, den Iran gar offi­ziell dazu aufge­rufen, Afghan*innen den isla­mi­schen Werten entspre­chend zu behan­deln.

Ohne Pass kaum Rechte

Der Chef zahlt Yasin fast immer weniger Lohn als verein­bart. „Entweder sagte er, ich hätte schlecht gear­beitet, oder er sagte, du bist Afghane und hast keinen Pass, was willst du tun.“ Yasin kann sich nicht wehren. Zur Polizei zu gehen, ist keine Option, da er sich illegal im Land aufhält.

Im Iran hört er zum ersten Mal von Europa. Viele Leute meinen, sie wollen dorthin. „Ich dachte mir so – Europa? Wo ist das?“, sagt Yasin und lacht. Ein Freund von Yasin will in die Türkei weiter­reisen und Yasin schliesst sich ihm kurzer­hand an.

In der Nähe von Istanbul arbeitet er sieben Monate lang gemeinsam mit Hunderten von Geflüch­teten in einer Klei­der­fa­brik an der Nähma­schine. Auch hier arbeitet Yasin wieder ohne Bewil­li­gung und unter schlechten Bedingungen.

In der Türkei fasst Yasin schliess­lich den Plan, in ein Land zu gehen, in dem es tatsäch­lich sicher ist und wo er eine Zukunfts­per­spek­tive haben könnte. Er recher­chiert im Internet und versucht, mehr über Europa herauszufinden.

Ein Bekannter schlägt ihm vor, nach Grie­chen­land weiter zu ziehen. Yasin stimmt zu, immer noch ohne konkretes Ziel, aber mit dem Wunsch, die Türkei zu verlassen. Die beiden schaffen es, die türkisch-grie­chi­sche Grenze zu passieren, landen aber im berüch­tigten Camp Moria auf der Insel Lesbos, das im September 2020 abbrannte.

Gestrandet in Moria

„Man kann halt, wenn man in einer Gruppe ist, oft nicht genau steuern, welche Route man wählt und wo man schliess­lich landet“, erklärt Fabian, eigent­lich studierter Psycho­loge, der mitt­ler­weile zu einem Experten für Flucht­fragen und ‑routen geworden ist.

Er und Yasin sitzen gemeinsam in Fabians Wohn­zimmer an einem langen Holz­tisch, während Yasin seine Geschichte erzählt. Zu Fabian und dazu, wie sich die beiden kennen­lernten, später mehr.

In Moria hört Yasin zum ersten Mal von der Schweiz. „Eigent­lich dachte ich, Schweden wäre ein gutes Land. Aber als ich auf Google Maps nach­schaute, bemerkte ich, dass es einfach viel zu weit weg ist“, erzählt Yasin.

Dann habe er Bilder von der Schweiz gesehen, von verschneiten Bergen im Winter. „Das sah sehr schön aus, und Leute, die ich auf der Flucht kennen­lernte, meinten, die Schweiz, Frank­reich und Deutsch­land seien gute Länder.“

Yasin versucht, von Moria weiter nach Athen zu gelangen. Bereits beim dritten Versuch hat er Erfolg. Er versteckt sich unter einem Last­wagen, der mit der Fähre nach Athen fährt. Von dort aus geht es mit dem Zug weiter.

Erneut zückt Yasin sein Smart­phone. „Hier habe ich mich versteckt.“ Er zeigt ein Selfie von sich auf dem Bahn­trassee, im Hinter­grund die Zugschienen, dann ein Foto der Unter­seite eines Zuges, wo eine Art Polster aus Woll­decken zu sehen ist.

Selfie unter den Gleisen. Zum Schutz der Iden­tität wurde eine Zeich­nung der Foto­grafie ange­fer­tigt. (Illu­stra­tion: Luca Mondgenast)
Das Versteck unter dem Zug. Zum Schutz der Iden­tität wurde eine Zeich­nung der Foto­grafie ange­fer­tigt. (Illu­stra­tion: Luca Mondgenast)

Im Radka­sten eines LKW

Die Decken-Konstruk­tion ist mit Sicher­heit lebens­ge­fähr­lich, aber sie bringt Yasin nach Nord­ma­ze­do­nien. Einmal dort ange­kommen, ist er etwa drei­ein­halb Wochen zu Fuss unterwegs.

Minde­stens sechs Mal versucht er, über die Grenze zu gelangen, aber er wird jedes Mal aufge­griffen und zurück­ge­schickt. Dann hat er endlich Glück. An einer Tank­stelle im Grenz­ge­biet versucht Yasin zusammen mit einer Gruppe von Leuten, sich in den Last­wagen zu verstecken, die hier einen Zwischen­stopp einlegen.

Plötz­lich tauchen Sicher­heits­kräfte auf und die Geflüch­teten rennen weg. Alle bis auf Yasin, der sich im Gebüsch versteckt und dem es danach gelingt, sich in einen der Last­wagen zu schmuggeln.

Die Desti­na­tion des Fahr­zeuges kennt er nicht, doch hat er zuvor auf Google Maps gesehen, dass die Auto­bahn, an der die Tank­stelle liegt, nach Serbien führt. Die Rich­tung stimmt also schon mal. „Als ein Chauf­feur kurz weg war, bin ich unter seinen Laster gekro­chen und habe mich dort versteckt, wo das Reser­verad montiert ist.“

Die Fernfahrer*innen, die auf der Balkan­route unter­wegs sind, wissen, dass Leute versu­chen, mithilfe ihrer Fahr­zeuge weiter nach Westen zu gelangen. Viele machen deshalb Kontroll­gänge, auf denen sie nach blinden Passagier*innen suchen. „Der Chauf­feur lief noch um das Fahr­zeug herum, aber er fand mich nicht.“

Der Last­wagen fährt los. „Es war sehr, sehr kalt und der Last­wagen fuhr so schnell“, sagt Yasin. „Manchmal habe ich die Hand, mit der ich mich fest­hielt, nicht mehr gespürt.“

Yasin befindet sich in einer Nische unter­halb des Fahr­zeugs, wo sich das Reser­verad befindet und wo er wenig Schutz vor Wetter und Fahrt­wind hat, während das Fahr­zeug mit 100 Kilo­meter pro Stunde über die Auto­bahn bret­tert. Der Last­wagen bringt Yasin bis nach Serbien.

Nach einigen Wochen gelingt es ihm, auch dieses Land zu verlassen. Gemeinsam mit einem Freund, den er in Serbien kennen­lernt, versteckt sich Yasin erneut in einem Laster, dieses Mal in einem, der Klei­dung transportiert.

Mit einem Stück Metall schneiden Yasin und sein Freund die Plastik­plane des Lagers an einer Stelle auf und verstecken sich zwischen den Klei­dern. „Es war ein Glück, denn es hat stark geregnet in dieser Nacht und in den Klei­dern war es schön warm“, sagt Yasin lächelnd. Und fügt hinzu: „Dafür hatte ich nichts zu Essen dabei.“

Knapp zwei Tage lang bleiben Yasin und sein Freund im Laster. Yasin schaut ab und zu auf Google Maps nach, wo sie sich gerade befinden. „Irgend­wann sah ich, dass wir in Deutsch­land waren.“ Das Fahr­zeug fährt durch Münchens Innen­stadt, als die beiden beschliessen, abzuspringen.

Endlich in Zürich

Als der Laster an einer Ampel hält, klet­tern sie nach draussen. „Wir waren mitten in der Stadt und es hatte viele Leute. Sie schauten uns an und dachten vermut­lich, wir seien Diebe.“

Die beiden befinden sich in der Nähe des Münchner Haupt­bahn­hofs. Yasin und sein Freund kriegen Hilfe von einem befreun­deten Afghanen, der vor Ort lebt. Sie geben ihm ihr rest­li­ches Bargeld, damit kauft er für Yasins Freund ein Ticket nach Frank­reich und für Yasin eines nach Zürich.

Von Zürich aus, wo Yasin sich bei den Behörden meldet, wird er in ein Asyl­zen­trum nach Neuchâtel gebracht. „Ich sagte den Leuten, dass ich fünf­zehn Jahre alt bin. Aber der Leiter sagte: „Nein, du bist achtzehn.“

Er wird in der Folge zwischen verschie­denen Asyl­zen­tren hin- und herge­schoben, bis er in einem Camp in der Nähe einer deutsch­schwei­ze­ri­schen Stadt landet, wo er bis vor Kurzem wohnte.

In welches genau, wird in diesem Artikel nicht erwähnt – einer­seits um ihn selbst zu schützen, ande­rer­seits zum Schutz seines Freundes Fabian, den er kurze Zeit später kennen­lernt und der während Yasins Erzäh­lungen neben ihm sitzt.

Kurz vor Yasins Ankunft im Asyl­zen­trum, in dem er bis heute lebt, beschliessen Fabian und seine Part­nerin Nora, beide Anfang dreissig und studierte Psycholog*innen, dass sie sich für Geflüch­tete enga­gieren wollen.

„Wir hatten damals das Gefühl, es passiert so viel Schlimmes auf der Welt und wir wollten mehr tun, als einfach irgend­einer Orga­ni­sa­tion Geld zahlen“, erin­nert sich Fabian. Die beiden infor­mieren sich über verschie­dene Ange­bote, die Frei­wil­lige und Geflüch­tete zusam­men­bringen und entscheiden sich für einen Verein, der unter anderem Alltags­be­glei­tungen organisiert.

Neue Freunde

Es ist eine glück­liche Fügung. Nach einem ersten Treffen, das von einem Vereins­mit­glied begleitet wird, treffen sich Yasin, Fabian und Nora bald ein erstes Mal nur zu dritt.

Das Pärchen zeigt Yasin die Stadt und sie unter­halten sich, so gut es geht, denn Yasin spricht zu diesem Zeit­punkt noch prak­tisch kein Deutsch und auch kein Englisch. „Du konn­test damals nur von eins bis hundert zählen und hast uns das dann auch demon­striert“, sagt Fabian und die beiden lachen vergnügt. Das war vor etwas mehr als zwei Jahren.

„Alltags­be­glei­tung kann alles Mögliche sein“, sagt Fabian heute. „Das kann von prak­ti­scher Unter­stüt­zung bei der Kommu­ni­ka­tion mit Behörden über gemein­sames Kaffee­trinken bis hin zu Sprach­trai­ning reichen.“ Er hält kurz inne und blickt zu Yasin: „Bei uns ist eine Freund­schaft daraus entstanden. Eigent­lich sind wir mitt­ler­weile schon ein biss­chen eine Familie.“ Yasin nickt und fügt hinzu: „Genau, mit viel Wärme.“


Von Mensch­lich­keit und Google Maps – eine Repor­tage in vier Teilen

Teil 1: „Europa, wo ist das?“
Teil 2: Gefängnis, Push­backs und Dublin (Publi­ka­ti­ons­datum: 25.01.2023)

Teil 3: Hilfe von uner­war­teter Seite (Publi­ka­ti­ons­datum: 26.01.2023)
Teil 4: Flucht mit dem Wohn­mobil (Publi­ka­ti­ons­datum: 02.02.2023)

*Die Namen von Yasin und Fabian wurden auf ihren Wunsch hin geändert.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 54 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 3068 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel